Schultz | Europas zweite Renaissance | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Schultz Europas zweite Renaissance

Mensch, Natur und Kunst im Anthropozän

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-95890-413-2
Verlag: Europa Verlage
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Europas zweite Renaissance wird keine Renaissance der ersten sein, sondern deren Korrektur. In der (ersten) Renaissance begann im Abendland eine Entwicklung, die von der Trennung des Menschen von der Natur, der Trennung Gottes von seiner Schöpfung und der Trennung des Ichs vom Anderen bestimmt war. Die Schattenseiten dieser Entwicklung werden jetzt sichtbar – in ihr liegen die gemeinsamen Wurzeln der ökologischen Krise und der künstlerischen Krisen der Moderne. Die erste Renaissance verdankt sich der Wiederbegegnung mit der Antike – aber was wurde seitdem alles vergessen? Europa kappte Wurzeln, mit denen es sich wieder verbinden muss, um lebendig und kreativ zu bleiben. Wenn es seine innere Vielstimmigkeit wiederentdeckt, wird Europa seine einseitige Entwicklung und sein unvollständiges Selbstbild korrigieren können.
Wolfgang-Andreas Schultz legt den Grundstein für eine ökologisch inspirierte Ästhetik und zeigt, welche Chance für die Zukunft Europas in einer zweiten Renaissance liegt – wenn Europa die Trennung des Menschen von der Natur und vom Anderen überwindet und es schafft, verlorene und verdrängte Bereich wieder zu integrieren.
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Gesichter einer zweiten Renaissance
Blicken wir noch einmal zurück auf die Renaissance, und zwar auf die erste! Bezieht man alles ein, was in dieser Zeit gedacht und geglaubt wurde, so bietet sich ein buntes und widersprüchliches Bild: Neben dem Aufblühen der rationalen, materiell orientierten Naturwissenschaft steht die Entdeckung der hermetischen Philosophie des Hermes Trismegistos, neben der kirchlichen Lehre vom Schöpfergott die neuplatonische All-Einheit-Lehre, neben der mathematisierten Natur die Idee einer Weltseele, und – gerade in ländlichen Gegenden – die noch lebendige Naturreligion mit Magie und Zauber – und irgendwie zwischen allem die Alchemie … Angesichts der Tatsache, dass – von untergründig weiterwirkenden Strömungen wie etwa der Theosophie abgesehen – letztlich nur die materialistische Naturwissenschaft und der Theismus der beiden großen christlichen Konfessionen übrig geblieben sind, ein Theismus, der den außerweltlichen Schöpfergott lehrt, kann man beim Nachdenken über die eigene kulturelle Vergangenheit vermuten, »dass wir auf eine ganze Reihe von nicht verwirklichten, aber auch nicht zerstörten Hoffnungen stoßen«, wie Antonio Machado schrieb.204 Der französische Philosoph François Jullien lernte Chinesisch, nicht nur, um eine ganz andere Art des Denkens kennenzulernen als das in europäischen Sprachen mögliche, sondern auch, um den Blick zurück nach Europa zu wenden, um dort aufzuspüren, was zwar angelegt war, sich aber nicht entfalten konnte.205 Ein Beispiel mag das illustrieren: In dem Buch Theosophia practica von Johann Georg Gichtel (zuletzt 1779 wiederaufgelegt) finden wir die Darstellung eines Menschen als Mikrokosmos, dem die Sterne und Elemente als Makrokosmos zugeordnet sind an den Stellen, wo sich nach indischer Lehre die sieben Chakren befinden.206 Das stammt aus der alchemistischen Tradition, und Europa musste nach Indien pilgern, um es neu zu lernen. Möglicherweise hat Europa in den letzten 200 Jahren mehr von dem vergessen, was Mensch und Natur verbindet, als das Mittelalter vom Erbe der Antike. Aber der Blick zu anderen Kulturen kann helfen, nach Verlorenem, Verborgenem und Verdrängtem in der eigenen Kultur zu suchen. Um frei zu werden für eine solche Spurensuche, muss man sich vor allem vom linearen Geschichtsdenken lösen. Der Glaube, alles, was sich durchsetzte (oder durchgesetzt wurde), sei das Beste und hätte sich folgerichtig und zwangsläufig so entwickelt, führt zu einer Fehlinterpretation. Sie muss durch eine Einstellung ersetzt werden, »die das komplexe Zusammenspiel von verschiedenen sich verflechtenden, trennenden und kreuzenden Linien […] zu untersuchen weiß, an denen man zwischen verschiedenen Richtungen wählen konnte und nicht immer jene einschlug, die zum Wohle der großen Mehrheit war, sondern die, die jenen gesellschaftlichen Gruppen am gelegensten kam, die die erforderliche Überzeugungskraft und die nötigen Machtmittel an der Hand hatten, sie durchzusetzen.«207 Nötig ist also eine mehrdimensionale Geschichtsschreibung, die alle Strömungen einbezieht, parallele Entwicklungen und nicht zur Entfaltung gekommene Keime. Damit wird auch dem Begriff des Fortschritts, so wie er in Wissenschaft und Technik, aber auch in weiten Bereichen der Kultur üblich ist, die Grundlage entzogen. Allerdings soll nicht geleugnet werden, dass es in bestimmter Hinsicht und in bestimmten Bereichen Entwicklungen gegeben hat, die man als Fortschritt bezeichnen kann, vorausgesetzt, es wird inhaltlich bestimmt, was mit Fortschritt gemeint ist, im Kontext einer Verständigung, wie »gutes Leben« aussehen könnte – und was der mögliche Preis eines solchen Fortschritts sein könnte. Im Hinblick auf die Verbesserung der materiellen Lebensbedingungen, im Bereich der Medizin, auch was politische Errungenschaften wie Meinungsfreiheit, Gewaltenteilung und Demokratie betrifft, gab es bestimmt Fortschritte, aber der technische Fortschritt, zumindest mit den bisherigen Technologien, hatte den Preis der Trennung von der Natur und ihrer Ausbeutung. Und von der Zeit an, als die Europäer mit der Kolonisation anderer Erdteile begannen, hatte er auch den Preis der Zerstörung anderer, durchaus hochstehender Kulturen. »Sowohl in Mittelamerika als auch in der Andenregion hatten sich hochstehende Zivilisationen entwickelt, die der spanischen Renaissance und dem noch der mittelalterlichen Scholastik verhafteten religiösen Denken der Eroberer in nichts nachstanden.«208 Der Kampf gegen das Heidentum und gegen jegliche Art der Naturverehrung wurde in den kolonisierten Gebieten fortgesetzt, ihre Natur wurde ausgebeutet wie auch die Arbeitskraft der dort lebenden Menschen. Der Preis für die Fortschritte der Naturwissenschaften seit der Renaissance war letztlich die »Entheiligung« der Natur. Die europäische Kultur begann in der Renaissance, viele ihrer lebenswichtigen Wurzeln zu kappen, die Wurzeln einer lebendigen und beseelten Natur, und es wird Aufgabe einer zweiten Renaissance sein, sich wieder mit diesen Wurzeln zu verbinden. Entscheidend war wohl die Lesart des Christentums, die im »Paradigma der Schöpfung« Gott von der Natur getrennt hat und unter dem Einfluss von Augustinus ein Menschenbild prägte, das mit der Natur auch die Natur im Menschen, den menschlichen Körper, entwertete. Von einem Augustiner namens Martin Luther war in dieser Hinsicht keine Änderung zu erwarten. Seine Reformation verstärkte noch die problematischen Seiten des Christentums, die patriarchale Dominanz durch Ablehnung der Marien-Verehrung, die Stärkung der rationalen Elemente durch Konzentration auf das Wort und die Verdammung aller naturreligiösen Bräuche einschließlich der Befürwortung der Hexenverfolgung. In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten gab es eine Vielzahl von Auffassungen der christlichen Lehre. Die Entscheidungen, die dann im Weströmischen Reich fielen, als das Christentum zur Staatsreligion wurde, müssen für uns heute nicht mehr bindend sein. Will man den Gedanken einer »zweiten Reformation« versuchsweise weiterspinnen, wären deren Elemente zunächst der Bezug auf die aramäischen Urtexte und die Einbeziehung nicht kanonisierter Quellen, der damals als »häretisch« verurteilten Texte wie etwa das Thomas-Evangelium. Ebenso wichtig aber wären die Hinterfragung spezifisch westlicher Entwicklung wie die Lehre von der Erbsünde sowie Kenntnis und Akzeptanz der östlichen Formen des Christentums als Quelle für eine mögliche Neuinterpretation der christlichen Lehre. Schließlich wäre die Frage zu diskutieren, ob das »Paradigma Manifestation« nicht genauso auf dem Boden des Christentums denkbar ist, wie die neuplatonischen Traditionen im Christentum zeigen und wie es im 20. Jahrhundert Teilhard de Chardin bestätigt, wenn er seinem Essay Das kosmische Leben das Motto voranstellt: »Es gibt eine Kommunion mit Gott und es gibt eine Kommunion mit der Erde und es gibt eine Kommunion mit Gott durch die Erde.«209 Das »Paradigma Manifestation«, die Gegenwart Gottes auch in der Natur, schließt ja »Schöpfung« im Sinne einer zeitlichen Entfaltung der Ur-Einheit in die Vielheit nicht aus – entlang der »großen Kette des Seins«, wie sie in der Schöpfungsgeschichte der Bibel bereits vorgedacht ist.210 Meister Eckhart denkt Schöpfung und Manifestation zusammen als Wandlung Gottes im Prozess der Schöpfung: »[…] ehe die Kreaturen waren, war Gott noch nicht ›Gott‹, vielmehr: er war, was er war.« Das ist das »Ich bin, der ich bin« in der dritten Person – auf Gottes Vergangenheit vor der Schöpfung bezogen, vor seiner Entfaltung zum »Ich bin alles, was ist«. Eckhart drückt das so aus: »Als die Kreaturen aber wurden und sie ihr geschaffenes Wesen empfingen, da war Gott nicht in sich selber ›Gott‹, sondern in den Kreaturen war er ›Gott‹.«211 Damit die Lebendigkeit, Beseeltheit, ja Göttlichkeit der Natur nicht nur eine intellektuelle Erkenntnis bleibt, sollte der »zweifache Blick« eingeübt werden, eben auch die »Subjektivierung« bzw. »Personalisierung«, um die nicht materiellen Ebenen der Natur, ihre Lebendigkeit, ihren Ausdruck erfahren zu können. Wolfram Hogrebe hat in seinem Buch Ahnung und Erkenntnis die Rehabilitation solcher Erfahrungen mithilfe des Begriffs der »Ahnung« versucht. Er geht davon aus, »dass im üblichen Begriffsrepertoire der Erkenntnistheorie Ahnungen nicht vorkommen«.212 In Rekurs auf den Kant-Zeitgenossen und Kant-Kritiker Friedrich Jacobi und auf den Dichter Friedrich Hölderlin entwickelt Hogrebe eine Theorie der »subsemantischen Resonanzen« (also unterhalb der rational verstehbaren Bedeutungen), die den Erfahrungsund Erlebnisqualitäten wieder zu ihrem Recht verhelfen sollen, »wiewohl nur subjektiv registrierbar«.213 Hölderlin ginge es, so Hogrebe, um »nichts anderes als einen reicheren Begriff der...


Prof. Dr. Wolfgang-Andreas Schultz, geb. 1948 in Hamburg, unternahm bereits mit 12 Jahren erste Kompositionsversuche; nach dem Abitur studierte er Musikwissenschaft, Philosophie und Germanistik an der Universität Hamburg. 1972 bis 1975 studierte er Komposition und Musiktheorie bei Ernst Gernot Klussmann an der Musikhochschule Hamburg. Sein Musikwissenschaftsstudium schloss er 1974 mit einer Dissertation über "Die freien Formen in der Musik des Expressionismus und Impressionismus" ab. 1975 legte er die Diplomprüfung in Musiktheorie ab. Das Kompositionsstudium setzte er anschließend bei György Ligeti fort. 1977 wurde er Dozent an der Hamburger Musikhochschule und Assistent Ligetis, wobei er dessen Studenten in den traditionellen Disziplinen Harmonielehre, Kontrapunkt und Instrumentation unterrichtete. 1988 wurde Schultz Professor für Musiktheorie und Komposition.

Wolfgang-Andreas Schultz ist als Komponist und Theoretiker einer evolutionären Ästhetik und einem ganzheitlichen Menschenbild verpflichtet. Er verwendet für seine Musik Gestaltungselemente der abendländischen Tradition ebenso wie solche der Moderne und außereuropäischer Kulturen. Er hat zahlreiche Aufsätze und Bücher zu Fragen der Musikästhetik, Musikphilosophie und Kompositionstechnik veröffentlicht: "Damit die Musik nicht aufhört" (1997), "Das Ineinander der Zeiten" (2001) und "Avantgarde. Trauma. Spiritualität – Vorstudien zu einer neuen Musikästhetik" (2014). Gastvorträge führten ihn nach Youngstown (Ohio/USA), Zürich, Wien, Prag, Aarhus und in zahlreiche deutsche Städte. Seine Werke erlebten Aufführungen in Deutschland und der ganzen Welt, von Ägypten bis in die USA.


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