Rechtzeitig erkennen, wirksam behandeln und vorbeugen
E-Book, Deutsch, 314 Seiten
ISBN: 978-3-17-038738-6
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Dieses Buch informiert auf der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse fundiert und praxisnah über charakteristische altersabhängige Erscheinungsbilder, häufige Begleiterkrankungen, verschiedene Methoden der Diagnostik, die Ursachen und den Verlauf von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen. Basierend auf der S3-Leitlinie werden evidenzbasierte Behandlungsmethoden, deren Kombination und praktische Anwendung sowie zentrale Rahmenbedingungen der Psycho- und Pharmakotherapie umfassend dargestellt. Verhaltenstherapeutische, psychodynamische, systemische und interpersonelle Behandlungsmethoden, Hilfen in akuten Krisen und bei Suizidalität sowie die onlinegestützte Therapie sind zentrale Themen. Alle Inhalte werden durch Fall- und Praxisbeispiele veranschaulicht. Zudem beschreibt das Buch wirksame Ansätze der Prävention in verschiedenen Ziel- und Altersgruppen und illustriert konkrete Möglichkeiten der Umsetzung vorbeugender Maßnahmen in unterschiedlichen Settings, wie beispielsweise in der Schule und in der Familie.
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1 Symptomatik
Lisa Feldmann und Jana Kroboth
Zusammenfassung
Obwohl für die Depression des Kindes- und Jugendalters in den Diagnosesystemen kaum altersspezifische Symptome angegeben werden, gibt es Unterschiede in der Symptomatik zwischen Kindern, Jugendlichen sowie Erwachsenen. So zeigen Kinder und Jugendliche im Vergleich zu Erwachsenen beispielsweise häufiger eine gereizte oder schlechte Stimmung in der depressiven Episode. Neben altersspezifischen Unterschieden finden sich ab dem Jugendalter auch Geschlechtsunterschiede in der Symptomatik: Während Mädchen häufiger Selbstwertprobleme oder Schuldgefühle haben, zeigen Jungen häufiger externalisierendes Verhalten. In diesem Kapitel werden die Symptome der Depression dargestellt sowie die Symptomatik in den unterschiedlichen Settings (Schule, Familie, Peer-Group) beleuchtet. Dabei wird beschrieben, wie sich die Symptomatik in den verschiedenen Settings äußert, wie das Umfeld den Verlauf der Erkrankung mit beeinflussen kann sowie welche psychosozialen Schwierigkeiten mit einer depressiven Erkrankung einhergehen. Abschließend wird anhand von zwei Fallbeispielen die Symptomatik in den unterschiedlichen Altersstufen gezeigt. 1.1 Alters- und entwicklungsabhängige sowie geschlechtsspezifische Symptomatik
Sowohl in der ICD-10 (World Health Organization 1992), ICD-11 als auch im DSM-5 (American Psychiatric Association 2013) werden die gleichen Kriterien für die Depressionsdiagnose in den Altersstufen der Kindheit, des Jugend- und Erwachsenenalters angesetzt. Lediglich im DSM-5 wird beschrieben, dass es bei Kindern und Jugendlichen zu einer reizbaren anstatt einer depressiven Verstimmung kommen kann; zudem wird ausgeführt, dass es bei Kindern zu einem Ausbleiben einer erwarteten Gewichtszunahme statt zu einem Gewichtsverlust kommen kann (American Psychiatric Association 2013). Dem steht gegenüber, dass neben überlappenden Symptomen der depressiven Symptomatik in den unterschiedlichen Altersstufen auch entwicklungsabhängige Unterschiede existieren. Je jünger die Kinder sind, desto weniger ähnelt die Symptomatik der des Erwachsenenalters. Dies liegt u. a. an den spezifischen Charakteristika der psychischen, sozialen sowie (neuro-)biologischen Entwicklung der Kinder und Jugendlichen (Cicchetti und Toth 1998; Weiss und Garber 2003). Dabei werden unterschiedliche Möglichkeiten der Betrachtung der Symptomunterschiede diskutiert: Zum einen könnten dieselben Symptome in den Altersstufen unterschiedlich zum Vorschein treten (beispielsweise das Symptom »Anhedonie« als Spielunlust im Kindesalter und als Gefühl der Langeweile im Jugendalter). Zum anderen könnte in Erwägung gezogen werden, dass depressive Symptome im Laufe der Entwicklung variieren. Letzteres ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Kinder entwicklungsbedingt noch nicht (bzw. noch nicht gleichermaßen) in der Lage sind, bestimmte Symptome zu entwickeln: So haben junge Kinder noch kein Konzept von der Zukunft und dem Selbst, sodass Selbstwertprobleme oder Hoffnungslosigkeit als Symptome der Depression in diesem Alter noch keine signifikante Rolle spielen können. Des Weiteren könnten unterschiedliche Symptome in den Altersstufen möglicherweise auf unterschiedliche biologische Ursachen der Depression in den Altersstufen rückführbar sein. So ist die Wahrscheinlichkeit bei älteren Jugendlichen, dass sie schon mehrere depressive Episoden in ihrem Leben hatten, im Vergleich zu Kindern größer. Eine Theorie besagt, dass sich mit steigender Anzahl depressiver Episoden die biologische Vulnerabilität für eine Depression erhöht. Somit könnte diese veränderte biologische Vulnerabilität bei Jugendlichen mit mehreren depressiven Episoden andere Symptome auslösen als bei Kindern ohne diese veränderte biologische Vulnerabilität (für eine vertiefte Diskussion zu den unterschiedlichen Aspekten siehe Weiss und Garber 2003). Im Folgenden wird die Symptomatik der Depression in unterschiedlichen Altersstufen vorgestellt sowie auf Geschlechtsunterschiede eingegangen. Im Rahmen der Darstellung der Symptome in den weiteren Unterkapiteln werden diese Aspekte ebenfalls kurz aufgegriffen. In Tab. 1.1 ist die Symptomatik der Depression in Kindheit und Jugend getrennt nach Altersstufen dargestellt. In Tab. 1.2 befindet sich ein Überblick über die Symptomatik der Depression im Kindes- und Jugendalter. Tab. 1.1: Symptome der Depression getrennt nach Altersstufen AltersstufenAltersstufenAltersstufen Tab. 1.2: Überblick über die Symptomatik der Depression im Kindes- und Jugendalter anhand von Beispielen 1.1.1 Vorschulalter und Kindheit
Während es umfangreiche Forschung zur Symptomatik der Depression im Jugend- und Erwachsenenalter gibt, gründet die Studienlage zur Depression bei Kindern auf vergleichsweise wenigen Untersuchungen. Dies kann auch damit zusammenhängen, dass die Depression im Vorschul- und Grundschulalter noch relativ selten vorkommt. Studien zeigen für diese Altersgruppe eine Prävalenz von 0–2 % (Egger und Angold 2006; Whalen et al. 2017). Die Diagnose einer depressiven Störung sollte erst ab drei Jahren gestellt werden, wobei klinisch eine depressive Symptomatik auch bereits früher beobachtet werden kann (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) 2015; Luby und Belden 2012). Vorschulkinder mit Depression zeigen typischerweise nicht durchgehend oder die meiste Zeit eine depressive Symptomatik, sondern vielmehr eine Fluktuation der Symptome. Dies äußert sich im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen v. a. in einer Anhedonie, z. B. in Form einer Spielunlust, also als Aufgabe oder Vermeidung von zuvor geliebten Aktivitäten und Spielen. Hierbei werden häufig Ausreden erfunden, um den Aktivitäten nicht mehr nachgehen zu müssen. Oft sind auch unangemessene Schuldgefühle sowie eine erhöhte Reizbarkeit/Irritabilität ein Kennzeichen der Depression in dieser Altersgruppe. Aber auch andere, für das Erwachsenenalter typische Symptome der Depression können schon in diesem Alter auftreten, wie beispielsweise Schlafprobleme, Erschöpfung und Konzentrationsdefizite (z. B. leichte Ablenkbarkeit). Auch Suizidgedanken oder Gedanken an den Tod können bereits bei Vorschulkindern auftreten, was sich durch spielerische Szenen, in denen das Thema Tod inszeniert wird, äußern kann (Luby et al. 2003; Luby et al. 2002; Luby et al. 2006; Whalen et al. 2015; Whalen et al. 2017). Hierbei sollte erwähnt werden, dass Vorschulkinder ein anderes Todeskonzept aufweisen als Erwachsene und in dem Alter noch nicht klar ist, dass der Tod endgültig ist (Senf und Eggert 2014). Suizidversuche treten im Kindesalter nur selten auf (Becker et al. 2017). Kinder mit Depression zeigen häufiger gereizte Stimmung im Zusammenhang mit externen Faktoren (z. B. Stress in der Schule) als ältere Betroffene (Yorbik et al. 2004). Die Depression drückt sich bei Kindern im klinischen Alltag häufig indirekt, beispielsweise über Weinen, Wutausbrüche, Schlafstörungen, Nachlassen der Schulleistung infolge von Aufmerksamkeitsproblemen, auffälliges Essverhalten, Kopf- oder Bauchschmerzen aus. Zudem lässt sich in der Altersspanne eine fehlende Gewichtszunahme beobachten. Mit steigendem Alter verbessert sich die Introspektionsfähigkeit, und Gefühle können besser wahrgenommen und verbalisiert werden. Im Folgenden ist ein Fallbeispiel mit einer für das Kindesalter typischen Symptomatik aufgeführt. Fallbeispiel 1
Der neunjährige Steffen zeigt seit der konfliktreichen Trennung seiner Eltern vor sechs Monaten vermehrt aggressives und oppositionelles Verhalten, er hat Mitschüler und eine Lehrkraft körperlich angegriffen und wurde daraufhin für mehrere Tage von der Schule ausgeschlossen. Im Unterricht kann er sich nicht mehr konzentrieren, er erledigt seine Hausaufgaben nicht, und die Noten haben sich verschlechtert. Er wirkt sehr abgeschlagen und müde, der Mutter fällt auf, dass er abends sehr lange wach ist, unruhig schläft und früh aufwacht. Steffen klagt häufig über Bauch- und Kopfschmerzen und isst viel weniger als zuvor, er hat in den letzten drei Monaten 4 kg abgenommen. Er weigert sich, zum Fußballtraining zu gehen oder mit seinen Freunden im Hof zu spielen. Wenn die Mutter ihn motivieren will, nach draußen zu gehen, reagiert er aggressiv und beschimpft sie. Die Mutter traut sich nicht, ihren Sohn mit seiner kleinen Schwester (vier Jahre) alleine zu lassen, da er ihr schon mehrmals weh getan hat. Er zeigt kaum noch Mimik und sitzt die meiste Zeit alleine in seinem Zimmer, Beschäftigungsangebote nimmt er nicht an....