E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Magie und Macarons
Roman | Urban Fantasy Roman in Paris um ein magisches Café
E-Book, Deutsch, Band 1, 448 Seiten
Reihe: Magie und Macarons
ISBN: 978-3-492-98933-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stefanie Schuhen wurde 1987 im Westerwald geboren. Für ihr Studium der Literaturwissenschaft verschlug es sie nach Mainz und Berlin und ein Auslandssemester verbrachte sie in Paris. Seit 2016 ist sie zurück im Westerwald und arbeitet dort als freie Lektorin für wissenschaftliche Texte. »Die rastlosen Geister des Salon Nocturne« ist ihr erster Roman.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1
Manchmal, wenn ihr Geist aus einem fremden Körper auszubrechen drohte, erinnerte sie sich an den Tag, seit dem ein Teil von ihr nicht mehr zum Diesseits gehörte. Dann fühlte sie, wie es an ihr zerrte, wie das Flüstern des Zwischenreichs in ihr Innerstes drang. Eine Welle klirrender Kälte, die in ihrem Nacken ihren Anfang nahm und von dort aus ihren Körper durchströmte, bis ihre Fingerspitzen zu zittern begannen. Sie kniff fest die Augen zu. Konzentrierte sich auf das, was sie im Hier und Jetzt umgab. Als Erstes ihr Name. Jackie. Kein verlorener, namenloser Geist. Jackie. Als Nächstes ihre Sinne. Der Duft von Lavendel und unter ihren Händen das weiche, rissige Holz. Nein! Diese Dinge gehörten zu dem Raum ein paar Straßen weiter, in dem sie ihren eigenen, ihren menschlichen Körper zurückgelassen hatte. Sich darauf zu konzentrieren, würde sie nur aus dem fremden Körper reißen, von dem sie vorübergehend Besitz ergriffen hatte. Jackie hielt inne, spürte in diesen fremden Körper hinein. Suchte nach dem kühlen, nassen Asphalt unter ihren Pfoten, nach dem Geruch des frisch gefallenen Regens auf dem Herbstlaub. Ihre Sicht klärte sich, ihr Geist fand seinen Weg zurück – als würde sie aus einem Traum erwachen, dessen Bilder nun rasch verblassten, um der Wirklichkeit zu weichen. Vor ihr lag die Avenue Samson auf dem Cimetière de Montmartre, dem Nordfriedhof von Paris. Der Morgen war grau und ihre Schnurrhaare zuckten in der frostigen Luft. Niemand war so früh hier außer den Katzen von Montmartre, die zwischen den Grabsteinen von Schatten zu Schatten huschten. Diese Stille war es, die Jackie jeden Morgen hierher kommen ließ. Entgegen dem, was so manche sagten, waren auf dem Friedhof selten Geister vorzufinden – die Körper, die in ihren Gräbern und Mausoleen verrotteten, waren von ihren Geistern verlassen worden, lange bevor jemand sie hier vergraben hatte. Jackie sprang die Treppenstufen hinauf und wandte sich nach links. Ob der Morgen durch Menschenaugen auch so grau wirkte? Es war lange her, dass sie diese Wege in ihrem menschlichen Körper gegangen war. In der Avenue Montebello, direkt hinter dem Grab Edgar Degas’, steuerte sie die von Efeu überwucherte Friedhofsmauer an. Mit einem Sprung und einer kurzen Klettereinlage war sie oben, mit einem weiteren Satz auf der anderen Seite. Auch in den Straßen jenseits der Mauern hingen noch die Reste der morgendlichen Stille, aber Paris erwachte bereits allmählich. In der Ferne hallte eine Sirene, in einer Wohnung ging gerade das Licht an. Leichtfüßig und lautlos setzte Jackie ihren Weg fort, bis sie die Rue Steinlen erreichte. Die Tore vor ihrem Haus waren noch verschlossen; sie würde sie bald öffnen. Für den Moment erklomm sie die niedrige Mauer und schlüpfte zwischen den Gitterstäben darauf hindurch. Sie durchquerte den Innenhof, folgte dem schmalen Pfad zwischen ihren Kräuterbeeten. Durch die Katzenklappe schlüpfte sie nach drinnen, eilte dann gleich in den dritten Stock – und fand ihren menschlichen Körper genau dort vor, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Einen Moment noch verharrte sie im Körper der Katze. So oft schon hatte sie diesen Sprung gewagt, und doch war an diesem Morgen etwas anders. Etwas zerrte an ihrem Geist – das gleiche Etwas, das sie vorhin auf dem Cimetière de Montmartre aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Um von dem fremden Körper in ihren eigenen zurückzukehren, musste sie für einige wenige Augenblicke ins Zwischenreich springen. Wenn dieses Etwas nun dort auf sie lauerte? Nein. Wahrscheinlich bildete sie sich das alles nur ein. Sie war müde und unkonzentriert, mehr nicht. Es würde ihr schon gelingen, den nötigen Fokus für ein paar Sekunden im Zwischenreich aufzubringen. Selbst wenn dort etwas auf sie wartete – sie musste einfach so schnell sein, dass es keine Chance hatte. Sachte legte sie die Pfote auf eine Hand ihres menschlichen Körpers. Je näher sie ihm war, desto leichter würde der Sprung sein. Einmal tief Luft holen. Ins Zwischenreich zu springen war in etwa so, als tauche sie in einen See ein – einen äußerst düsteren See, dessen Tiefe sich nicht einmal erahnen ließ und dessen Kälte sie jeden Augenblick zu lähmen drohte. Sofort wurde Jackie nach unten gezogen, aber sie kannte dieses Spiel. Kannte ihr Ziel. Dort drüben, das sanfte Leuchten, das war ihr menschlicher Körper. Sie konzentrierte sich darauf, griff danach. Und schlug die Augen auf. Blinzelte ein paarmal. Der Wechsel von Katzen- zu Menschenaugen ließ die Welt zunächst zu grell und zu bunt erscheinen; die zuvor gedämpften Farben gewannen an Leuchtkraft und trieben Jackie Tränen in die Augen. Noch einmal blinzeln. Allmählich nahm ihre Umgebung gewohnte Formen an. Sie saß auf dem Fußboden, mit dem Rücken gegen ihr noch ungemachtes Bett gelehnt. Vor ihr hockte die schwarze Katze, deren Körper sie sich für den morgendlichen Spaziergang geliehen hatte. Das Tier blickte kurz in ihre Richtung, zuckte mit dem Schwanz und huschte dann durch die angelehnte Tür hinaus. Jackie kämpfte sich auf die Beine, streckte ihre Gliedmaßen, um wieder ein Gefühl für ihren menschlichen Körper zu erlangen. Für gewöhnlich ließen ihre Morgenspaziergänge sie nicht so erschöpft zurück. Für gewöhnlich verlor sie nicht die Kontrolle über ihren Geist. Sie verjagte den Gedanken in eine dunkle Ecke ihres Bewusstseins. Dann riss sie mit einem Ruck die Vorhänge auf und öffnete das Fenster. Allmählich ging die Dämmerung in den Tag über. Sie tauschte das Nacht-Shirt gegen Jeans und Pulli und machte sich auf den Weg ins Bad. Als sie später hinunter in ihr Café im Erdgeschoss kam, saß die schwarze Katze zwischen den noch leeren Tischen und schaute sie erwartungsvoll an. »Ich weiß schon.« Sie musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass die Katze ihr folgte. Sie hatten einen Deal, sie und die streunenden Katzen von Montmartre: Die Tiere erlaubten es ihr, vorübergehend von ihnen Besitz zu ergreifen, dafür stellte Jackie jeden Morgen ein paar Schalen Futter vor die Tür. In der Küche schaltete sie das Licht und den Ofen ein. Die Croissant-Teiglinge, die sie gestern Abend vorbereitet hatte, würde sie nachher mit Eigelb bepinseln und in den Ofen schieben, bevor die ersten Gäste auftauchten. Die zugehörige Marmelade würde sie noch mit einer kleinen Portion Magie verfeinern – Pflaume-Zimt mit einem Schuss Glückseligkeits-Trunk, um den einsetzenden Herbstblues zu bekämpfen. Jetzt befüllte sie erst einmal drei Schälchen mit Katzenfutter, während die schwarze Katze ihr maunzend um die Beine strich. Die Schälchen balancierte sie auf einem Tablett, während sie mit der freien Hand den Schlüssel zum Eingang von seinem Haken neben der Küchentür angelte. Dicht gefolgt von dem kleinen Vierbeiner durchquerte sie das Café und steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein entsetztes Maunzen kündigte den Eindringling an, ehe er ihr durch die nun offene Tür entgegenstürzte. Jackie stolperte zurück, das Tablett samt Katzenfutter fiel krachend zu Boden. Die Katze fauchte und schoss an ihr vorbei, um sich unter einem der Tische zu verstecken. Ehe sie sich dem Störenfried zuwandte, holte sie tief Luft. Roland kostete sie wirklich eine Menge Energie. »Hey Jackie, gut geschlafen?«, fragte er mit einem unschuldigen Grinsen – als hätte er nicht die ganze Nacht wer weiß wo verbracht, sondern sei gerade erst frisch ausgeruht aus dem Bett gestiegen. Er quetschte sich an ihr vorbei durch die Tür und ließ sich in den erstbesten Stuhl fallen. Wie er dort saß, die Beine lang von sich gestreckt, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, in den gleichen Klamotten, in denen er am Vorabend ausgegangen war … auch ohne die bernsteinfarbenen Augen wäre die Ähnlichkeit mit seiner Mutter nicht zu leugnen gewesen. »So schön, dich hier zu haben, Roland«, sagte Jackie. »Als wäre Tante Florence wieder eingezogen.« Als er das Gesicht verzog, konnte sie sich selbst ein Grinsen nicht verkneifen. So stark er seiner Mutter auch ähnelte, so sehr hasste er es, mit ihr verglichen zu werden. »Nimm das sofort zurück!«, protestierte er. »Ich bin viel unterhaltsamer als Maman.« »Kommt drauf an, wen du fragst.« Sie zog einen Stuhl zu sich heran und nahm ihm gegenüber Platz. Tatsächlich würde sie nie zugeben, wie froh sie gewesen war, als sie vor fünf Nächten ihren Cousin im strömenden...