E-Book, Deutsch, 348 Seiten
Schönknecht Rückkehr der Kontingenz?
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-8192-5523-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Strategien der Kontingenzbewältigung vom antiken Schicksalsglauben bis zu den Aporien Nietzsches und der Postmodernen
E-Book, Deutsch, 348 Seiten
ISBN: 978-3-8192-5523-6
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit mehr als zwei Jahrzehnten veröffentlicht der Autor Hans-Joachim Schönknecht (Universitätsabschlüsse in Philosophie und Germanistik, Studien in Romanistik, Volkswirtschaftslehre, ev. Theologie) philosophisch relevante Schriften zum geschichtlich bestimmten menschlichen Selbstverständnis. Darunter sind so gewichtige Titel wie die 2017 erschienene dreibändige, 1300 Seiten starke Studie "Mythos, Wissenschaft, Philosophie. Zur Genese der okzidentalen Rationalität in der griechischen Antike" sowie die umfassende Studie "René Descartes Denker der Moderne" (2022), die den gegenwärtig überwiegend missverstandenen großen französischen Denker als Mitbegründer unserer eigenen Weltsicht wieder zu Ehren bringt. Die vorliegende Schrift setzt die historisch-systematische Intention des Autors fort, die maßgebende Bedeutung der europäischen Geistigkeit für die existentielle Sinnstiftung herauszuarbeiten.
Autoren/Hrsg.
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I. Zufall und Kontingenz als Phänomene
1. Exposition des Problems
Der Titel vorliegender Untersuchung mag in mehrfacher Hinsicht Fragen aufwerfen. Zunächst ist ja bereits das Thema selbst als Frage formuliert. Das ist ein konventionelles Mittel von Autoren, das Interesse des Lesers zu wecken, birgt für diesen aber das Risiko, dass der Autor die Antwort selbst nicht weiß und der Leser, nach der Mühe der Lektüre, nicht klüger ist als zuvor. Und dies Risiko besteht in erhöhtem Maße, wenn das Argument ein philosophisches ist. Hatte doch schon Platon, der eigentliche Begründer und Namensgeber dieser Wissenschaft (oder, wenn man lieber will, dieser Begriffskunst), sie wohlweislich als philo-sophia, d. h. als Liebe, Neigung, Lust zur Weisheit (bzw. zum Wissen) bezeichnet und nicht als deren Erlangung und Besitz, was den Titel Sophia als solchen gerechtfertigt hätte, wie sie – der Name sagt es – unbescheidenerweise die Sophisten, als selbsternannte Weisheitslehrer, für sich in Anspruch nahmen. Platon war vielmehr der Überzeugung, dass unverkürzte Weisheit bzw. Wissen nur dem Gotte zukomme, jedoch die menschlichen Möglichkeiten übersteige – zumindest in diesem letzten Punkt ist ihm zuzustimmen.
Sodann aber scheint auch der Sinn des nicht der Alltagssprache angehörenden Begriffs Kontingenz einer Nachfrage bedürftig. Dieser wissenschaftssprachliche, insbesondere philosophische Terminus leitet sich her vom lateinischen Substantiv contingentia, dem seinerseits das Verb contingere zugrunde liegt. Dieses hat die Grundbedeutung ‚berühren‘ und bezeichnet in seinem für unseren Kontext zunächst maßgebenden Sinnaspekt das (zeitliche) Sich-Berühren (zweier Ereignisse). Das alltagssprachliche Äquivalent des Fachterminus Kontingenz – so übertragen es die Wörterbücher – ist ganz treffend das Wort Zufall. In seiner etymologischen Form Zusammen-Fall bezeichnet es wie Kontingenz das Zusammentreffen zweier voneinander unabhängiger Vorgänge, ihr zeitliches In-eins-Fallen1. Ein solches liegt etwa vor, wenn einer Person auf dem Weg zur Arbeit vom Dach eines Hauses, an dem Ausbesserungen stattfinden, ein Ziegel oder das Werkzeug eines Dachdeckers auf den Kopf fällt und die Person schwer verletzt oder gar tötet. Hier fallen zwei Vorgänge unvorhersehbar, aber mit erheblicher Auswirkung zusammen. Der Weg von Herrn X zur Arbeit und die Ausbesserung am Dach von Familie Y haben ‚nichts miteinander zu tun‘, doch treten sie in tragische Berührung zueinander. Das ist es, was wir ‚Zufall‘ nennen. Das Leben ist von Zufällen aller Art durchzogen, die ‚glücklicherweise‘, d. h. wiederum zufällig, meist keinerlei tragische Auswirkungen haben. Erblicke ich beim Bummel durch die Stadt einen lange nicht mehr gesehenen Freund, ist diese Begegnung auch zufällig, jedoch ohne Anflug von Tragik – im Gegenteil!
Allerdings scheint gerade das zufällig, kontingent Geschehene sich erklärendem Verständnis zu entziehen – dies liegt ja, wie aufgezeigt, in seinem Begriff –, und wer trotzdem Erklärungen versucht, gelangt in der Regel nicht über Trivialitäten hinaus oder endet in dem die voraufklärerische Welt bedrückenden Aberglauben, der Ereignisse aus Konstellationen der Gestirne, durch göttliche Schickung oder ganz trivial durch die schwarze Katze und ähnliches erklärte.
Betrachten wir dazu nochmals das Beispiel des vom Dachziegel getroffenen Herrn X: dass er die bestimmte Straße zu seiner Arbeit nimmt, hat den trivialen Grund, dass es der für ihn bequemste Weg ist, und nähme er auch eine andere Straße, könnte ihm dort das gleiche zu-stoßen (ein weiterer Ausdruck für das Zufällige!) Dass einem Dachdecker mitunter das Werkzeug oder Werkstück aus der Hand gleitet, ist ebenso gewöhnlich, anders gesagt, es ist trivial wahr. Allerdings dürfte ein Ereignis mit solch gravierenden Folgen – Zufall hin oder her – die Berufsgenossenschaft oder gar den Staatsanwalt auf den Plan rufen und nach Erklärungen suchen lassen: War die Baustelle nicht ausreichend gesichert? War der Arbeiter noch halb betrunken vom Vorabend? Und was dergleichen Fragen mehr sind.
Das zeitliche Zusammentreffen beider Ereignisse wird aber kein Verständiger zu erklären versuchen. Um es in der Vorstellungsweise der Naturwissenschaften zu sagen: Hier sind zwei in sich transparente Kausalketten ohne ersichtlichen Grund in einem bestimmten Zeitpunkt miteinander in Berührung gekommen, eben ‚zusammen-gefallen‘: ein klassischer Zufall, der als solcher niemandem als Schuld zuzurechnen ist (und wahrscheinlich dem nachlässigen Handwerker mildernde Umstände schafft).
Allerdings zeigt das Beispiel: Ist der Zufall auch nicht an sich fassbar, ist er auch keine Substanz, hat er als Begriff doch eine positive Funktion für die Erkenntnis. Er stellt eine Art Grenzstein für die Ursachensuche dar, indem er signalisiert: Hier hört das Erklären auf. Und darin mag sogar ein erzieherischer Aspekt liegen: uferlosem Hin- und Hergerede wird das Wort abgeschnitten!
2. Ist Zufall ein ‚Nichtwissen der Ursachen‘?
An dieser Stelle sei sogleich eine grundsätzliche Überlegung angeschlossen. Sie bezieht sich auf eine von G. W. F. Leibniz (1646-1716) gegebene Interpretation des Zufallsbegriffs. In seiner Theodizee führt Leibniz aus: „Alle Wissenschaftler stimmen darin überein, dass der Zufall [hazard], ebenso wie das Schicksal [fortune], nur ein scheinbar Reales ist; er ist das Nichtwissen der Ursachen, die ihn hervorbringen“2.
Dass Leibniz dem Zufall die Qualität des Realen abspricht, mag sich gegen Aristoteles richten, der in seiner Physik die Überzeugung bekundet, „daß Schicksalsfügung und Zufall [týche kai autómatou] wirklich etwas sind“3, und wir müssen Leibniz‘ Kritik zustimmen. Zurückzuweisen ist allerdings der zweite Teil von Leibniz‘ Aussage, der Zufall sei das ‚Nichtwissen der Ursachen, die ihn hervorbringen‘, die ihrerseits die Feststellung des Erzdeterministen Spinoza paraphrasiert: „Zufällig wird ein Ding [] lediglich im Hinblick auf unser Erkenntnisdefizit genannt“4.
So sehr es dem neuzeitlichen Empfinden von der Notwendigkeit eines zureichenden Grundes5 für jedes Ereignis widersprechen mag, gilt doch für Zufälle wie das mehrfach angeführte Beispiel des Unfalls: beide Ereignisse sind durch keine gemeinsame Bedingtheit miteinander verknüpft. Was sie verbindet, ist ihre Gleichzeitigkeit, aber diese hat keinen bedingenden oder Ursache-Charakter, und eben hier liegt das Kontingente. Verhielte es sich anders, und dem Ereignis lägen verborgene Ursachen zugrunde, die uns nur unbekannt und unerforschbar sind, wie Leibniz annimmt, hieße das, die Welt als kausal geschlossenes System und die Wirklichkeit als deterministischen Mechanismus aus lauter Zwangsläufigkeiten aufzufassen, wie es Spinoza tat und wie es im späten 19. Jahrhundert bei einigen philosophierenden Naturwissenschaftlern Mode wurde, etwa beim Autor der ironisch so betitelten Welträtsel, Ernst Haeckel (1834-1919), der alles Geschehen vom Gesetz mechanischer Kausalität gesteuert sah6. Haeckels Ansatz war eine Art naturwissenschaftlich gestützter Rückfall in den Schicksalsglauben der Alten, demzufolge alles Sich-Ereignen strenger Notwendigkeit folgt, also Verhängnis ist, wie es uns die Atridensage vorführt. Dahinter steckt eine Art schlechter Metaphysik.
Eine Berechtigung erhält Leibniz‘ Definition allerdings, wenn wir auf die zwischen den beiden bisher synonym behandelten Begriffen Zufall und Kontingenz bestehende Differenz sehen und uns von dem die Etymologie der Begriffe so plastisch veranschaulichenden Beispiel der unerklärlichen Koinzidenz zweier Ereignisse lösen. Der Begriff der Kontingenz bezeichnet nämlich grundloses Sein im allgemeinsten Sinne. Wir nennen kontingent etwas faktisch Seiendes, ein Faktum, dessen Seinsgrund sich nicht zeigt bzw. aufweisen lässt. Wir könnten es treffend und weniger objektzentriert auch als das dem Denken Inkommensurable bezeichnen. Wie bei dem berühmten Präzedenzfall für Inkommensurabilität, der Hypotenuse c=v2 im rechtwinkligen Dreieck mit den Katheten a, b=1, findet der Intellekt zwischen zwei Sachverhalten keine ratio, mit dem griech. Terminus: keinen logos, kein fassbares Verhältnis.
Das angeführte Beispiel aus der Geometrie führt zu weiterer Klärung der kritisierten Bestimmung Leibniz‘ bzw. Spinozas, Zufall sei Unkenntnis der Ursachen. Das Ursache-Wirkung- bzw. Grund-Folge-Verhältnis sind jeweils ein solcher Logos, eine Ratio, die resultieren aus der Methode, dem Verfahren, ein auffälliges Phänomen durch Rückführung auf ein anderes, das erste bedingendes Phänomen zu erklären, d. h. ihm eine Ratio zu unterlegen. Die gefundenen Rationes,...




