Begegnungen in einem widersprüchlichen Land
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
ISBN: 978-3-218-01089-4
Verlag: Kremayr & Scheriau
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Carola Schneider, seit 2011 Auslandskorrespondentin des ORF in Moskau, zeigt in berührenden Porträts Innenansichten eines faszinierenden und zugleich widersprüchlichen Landes, das dem Westen immer noch fremd ist. Sie spricht mit Menschenrechtsaktivisten, Künstlern und kritischen Journalisten ebenso wie mit innovativen Käsebauern, Putin-treuen Jugendlichen und Befürwortern der Krim-Annexion. Schneiders Reportagen ergeben ein vielstimmiges, fein nuanciertes Bild Russlands, das von Widerstand und Resignation, Aufbruchstimmung und Regierungstreue erzählt.
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»Eine solche Konzentration an Ungerechtigkeit, Unglück und Lüge, wie es sie in Russland gibt, ist ohne Ironie und Selbstironie nicht zu ertragen.«
Wassilij Slonow, Künstler, Krasnojarsk, Sibirien »Willkommen in Sibirien«, ruft Wassilij Slonow und stapft uns vor seinem Atelier am Stadtrand von Krasnojarsk durch den knietiefen Schnee entgegen. Sein langer Bart ist weißgefroren und er trägt eine Uschanka, die warme russische Wintermütze mit Ohrenklappen. In einer Hand schwenkt er eine Axt. »Soll ich im Waldstück da drüben ein wenig Holz hacken? So etwas Archaisches mitten im klirrenden russischen Winter, das kommt doch sicher ganz gut im Fernsehen«, grinst der Künstler, und erst beim näheren Hinsehen erkenne ich, dass auf der Schneide der Axt das Porträt von Präsident Putin eingraviert ist. Das Werkzeug ist eine künstlerische Arbeit Slonows. Es ist Ende Januar 2014, in Kürze werden, mehrere tausend Kilometer von hier entfernt, in der subtropischen Schwarzmeerstadt Sotschi die Olympischen Winterspiele eröffnet. Putins persönliches Lieblings- und Prestigeprojekt, mit dem der begeisterte Sportler Russland auf der internationalen Bühne als modern, innovativ und jede Herausforderung meisternd präsentieren möchte. Mit den ersten olympischen Winterspielen Russlands setzt sich auch Wassilij Slonow künstlerisch auseinander, auf die ihm eigene, ironische Weise. Er führt uns durch sein Atelier und zeigt uns seine jüngsten Arbeiten: »Welcome! Sotschi 2014« heißt das Projekt, eine fiktive satirische Werbekampagne für den sportlichen Großanlass, ein ironischer Kontrapunkt zur offiziellen, staatlich gesteuerten PR-Kampagne im Vorfeld der Spiele. Auf knallbunten Gemälden, die wirken wie Werbeplakate, verbindet Slonow typisch russische Symbole und Klischees mit der olympischen Symbolik. Dies mit beißendem Humor, bei dem einem das Lachen zuweilen im Hals stecken bleibt. So sind auf einem Bild die fünf olympischen Ringe aus Stacheldraht gefertigt, auf einem anderen sehen sie aus wie die Schlingen eines Galgens. Eine Matrjoschka, die traditionelle russische Steckpuppe mit pausbäckigem Gesicht, ist bei näherem Hinsehen eine Granate. Auf den drei Stufen eines Podests stehen nicht Sieger eines Wettbewerbs, sondern eine Wodkaflasche und zwei jener gerippten Trinkgläser, wie sie seit Sowjetzeiten berühmt und beliebt sind. Auf einem anderen »Werbeplakat« droht ein überdimensionaler, zähnefletschender Bär mit seiner Tatze ein eiskunstlaufendes Paar zu zerquetschen. Ein Wegweiser mit mehreren Pfeilen in unterschiedliche Richtungen weist nicht nach Sotschi, sondern in den Gulag, nach Tschernobyl und zur Lubjanka, Sitz des russischen Inlandsgeheimdiensts. »Meine Arbeiten sollen das Geheimnis Russlands zeigen, so wie es in unserem Land, aber auch im Ausland gesehen wird. Daher verwende ich russische Symbole und Klischees, die allen bekannt sind«, erklärt Wassilij Slonow. »Russlands typischstes Charaktermerkmal ist seine Unvorhersehbarkeit. Wir sitzen alle auf einem Pulverfass, man weiß nie, was am nächsten Tag passiert. Das war schon immer so, während der ganzen langen Geschichte des Landes. Ich möchte, dass auch meine Kunst so unvorhersehbar und überraschend ist. Dass man auch bei ihr nie weiß, was als nächstes kommt.« Unerwartet heftig ist wohl auch die Reaktion der russischen Politiker und Kulturbeamten auf die satirische »Werbekampagne« des sibirischen Künstlers. Eine Ausstellung der Werke in Perm im Uralgebiet ist von den Behörden kurzerhand geschlossen und der Museumsdirektor, der bekannte russische Galerist Marat Gelman, gefeuert worden. Zuvor hatten kremlnahe politische Größen die Ausstellung für skandalös befunden, als sie anlässlich der Reise der olympischen Fackel durch Russland in Perm Halt machten. Gegen Wassilij Slonow leiteten die russischen Justizbehörden Ermittlungen wegen des Vorwurfs des Extremismus ein. »Wenn die politische Führung auf Satire beleidigt reagiert, dann bedeutet das, dass etwas nicht ganz sauber abläuft«, meint dazu Slonow. »Dass sie Schuldgefühle hat und etwas verbergen will.« Tatsächlich stoßen die ersten Olympischen Winterspiele Russlands nicht nur auf Zustimmung im Land. So wurden Tausende Hausbesitzer zwangsenteignet, um Platz für die olympischen Objekte zu schaffen. Nicht alle wurden dafür entsprechend entschädigt. Umweltschützer, die es wagten, das Hochziehen von olympischen Bauten mitten in Naturschutzgebieten zu kritisieren, wurden kurz vor Beginn der Spiele kurzerhand verhaftet. Gleichzeitig wurde für die Dauer der Spiele ein allgemeines Demonstrationsverbot auf und rund um die Spielstätten verhängt. Auf scharfe internationale Kritik stieß vor den Spielen auch die Diskriminierung von gesellschaftlichen Minderheiten in Russland, etwa Homosexuellen, insbesondere ein umstrittenes neues Gesetz, das positive Äußerungen über Homosexualität in der Öffentlichkeit verbietet. Auch dieses Thema verarbeitet Wassilij Slonow satirisch in seiner fiktiven olympischen Werbekampagne. Noch haben die russischen Behörden auf diesen jüngsten künstlerischen Seitenhieb nicht reagiert. Wassilij Slonow ist jedenfalls auf alles gefasst: »Ich bin mir bewusst, dass jedes Interview mein letztes sein kann.« Er werde sich aber nicht einschüchtern lassen, sondern weiterhin das tun, was ein Künstler in seinen Augen tun müsse, meint er energisch: die Realität abbilden. Für die Zukunft Russlands erwartet der Künstler in diesen Januartagen des Jahres 2014 nichts Gutes. Es stünden gewaltsame Ereignisse bevor, prophezeit er, als wir uns verabschieden und er uns in die klirrende Kälte hinausbegleitet: »Es brodelt im Land wie in einem Kochtopf, der bald explodiert.« Drei Jahre später, im Frühling 2017, treffe ich Wassilij Slonow wieder in seinem Krasnojarsker Künstleratelier. »Das ist eine neue Strömung der zeitgenössischen Kunst: Chem-Punk!«, meint der Künstler fröhlich und zeigt auf zwei überlebensgroße Figuren in einer Ecke des Raums. »Ich habe diese Kunstrichtung vor Kurzem erschaffen, sie zeigt die wunderbaren existenziellen Krämpfe moderner Großstädte und die vor-apokalyptischen planetaren roten Wangen!« Während ich noch überlege, was der Künstler damit genau meint, erklärt er mir die Bedeutung der beiden schwarzen Figuren. Sie stellen die bekannten russischen Märchencharaktere Väterchen Frost und seine Enkelin und Helferin Schneeflöckchen dar. Allerdings sind sie nicht als solche wiederzuerkennen: Sie tragen schwarze Ganzkörperanzüge und Gasmasken. Schneeflöckchen ist offenbar schwanger und trägt eine durchsichtige Glaskugel am Bauch, in der ein Baby liegt, das ebenfalls eine Gasmaske trägt. Die Kopfbedeckung von Schneeflöckchen ist dem traditionellen russischen Kopfschmuck für Frauen nachempfunden, allerdings aus schwarzem, autoreifenähnlichem Gummi gefertigt und nicht, wie üblich, aus bunt besticktem Stoff. Mit der Kunstrichtung »Chem-Punk« wolle er die Ästhetik von Atomreaktoren und Chemiefabriken besingen, erklärt Wassilij Slonow grinsend. Ernster Hintergrund der ironischen Arbeiten seien unter anderem die Umwelt- und Luftverschmutzung in Krasnojarsk durch das Heizen mit Kohle minderwertiger Qualität und die Abgase eines nahen Aluminiumwerks, fügt der Künstler hinzu. Im Moment arbeite er aber an einem völlig anderen Thema, sagt Wassilij Slonow. Nämlich dem Jubiläumsjahr der Russischen Revolution 1917, die vor genau 100 Jahren der Herrschaft der Zaren ein Ende setzte und den Grundstein für die spätere Gründung der Sowjetunion durch Lenin legte. »Das T-Shirt, das ich trage, gehört zu meinen neuesten Arbeiten zum Thema Revolution: Es heißt »Lenin im Sarg!«. Slonow zeigt auf seine Brust, auf der ein Bild des mumifizierten Lenin im Mausoleum prangt. »Das ist Super-Realismus. Kann ja auch kaum jemand bestreiten«, lacht der Künstler: »Die Kommunisten wissen nur noch nicht, ob sie es als Beleidigung auffassen sollen oder nicht. Aber es ist nun einmal eine Tatsache, dass Lenin im Sarg liegt.« Er wolle eine ganze Serie von T-Shirts drucken, die sämtliche Staatsführer seit Gründung der Sowjetunion im Sarg zeigten: »Stalin, Chruschtschow, Breschnew und alle anderen! Und auch Putin. Der schläft allerdings nur«, fügt Slonow hinzu. Die T-Shirts mit den Staatsführern im Sarg sollten den Menschen in Erinnerung rufen, dass alle endlich seien. Und sie deshalb versuchen sollten, ein möglichst ehrliches Leben zu führen, so der Künstler. Eine ähnliche Serie von Kunstwerken gestaltet Slonow auch mit Äxten, auf deren Schneiden die Porträts aller Staatsführer seit der Revolution abgebildet sind, bis zum heutigen Präsidenten Putin. »Die Axt ist ein Symbol für Macht«, erklärt Slonow. »Eine Macht, die etwas schafft und gleichzeitig bestraft. In der Geschichte Russlands war es immer so, dass die Macht im Land gleichzeitig schöpferisch und zerstörerisch war.« Die Russische Revolution sei ein bedeutendes Ereignis...