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Schmitz | Offenheit und Berührbarkeit | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 220 Seiten

Schmitz Offenheit und Berührbarkeit

Neue Wege zu Verletzbarkeiten und Resilienz

E-Book, Deutsch, 220 Seiten

ISBN: 978-3-15-962359-7
Verlag: Reclam Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Verletzbarkeiten sind lebensnotwendig - für Empathie, Solidarität und Glück Verletzbarkeit ist ein Thema, das jeden angeht. Wir können nicht nur autark und autonom sein, sondern sind auch verletzbar. Doch welche Zugänge, welche Wege zur Verletzbarkeit gibt es, was ist kennzeichnend für sie? Welche Rolle spielt sie im menschlichen Leben? Und was verbindet sie mit Natur, Macht, Gerechtigkeit oder Resilienz? Barbara Schmitz zeigt uns, dass wir Verletzbarkeiten in unserem Leben zulassen können und welche spannende Rolle der Begriff in ethischen und politischen Zusammenhängen spielt. »Ein engagiertes, warmherziges Plädoyer, statt nach dem ?Sinn des Lebens? nach dem ?Sinn im Leben? zu schauen.« chrismon über Was ist ein lebenswertes Leben?

Barbara Schmitz, geb. 1968, ist habilitierte Philosophin. Sie lehrte und forschte an den Universitäten in Basel, Oxford, Freiburg i. Br., Tromsø und Princeton. Sie lebt als Privatdozentin, Lehrbeauftragte und Gymnasiallehrerin in der Schweiz. Bei Reclam erschien zuletzt Was ist einlebenswertes Leben? Philosophische und biographische Zugänge.
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Fragen der Verletzbarkeit
Meine Patentante, von mir als Kind liebevoll »Goo« genannt, war eine beherzte, fröhliche, zupackende Frau, die beim plattdeutschen Erzählen von Geschichten, die sich im Dorf zugetragen haben sollten, gern herzhaft lachte und sich dabei auf die Schenkel schlug. Sie war es, die mich auf das Thema Verletzbarkeit brachte. Reagierte ich als Kind in ihren Augen zu verletzlich, belehrte sie mich: Auch sie sei früher so verletzbar gewesen, habe dies aber abgelegt, als sie 25 Jahre alt gewesen sei. Diese vehement vorgetragene Lektion in Sachen Lebensführung unterstrich sie stets mit einem kraftvollen waagerechten Strich in die Luft, so als würde man etwas abschneiden. Mit 25, so fand ich bald heraus, hatte Goo geheiratet; eine Ehe, die fast 50 Jahre dauern sollte. Die Verletzbarkeit ablegen. Ich stand diesem Ratschlag stets mit großem Staunen, ungläubiger Bewunderung und vagem Unbehagen gegenüber: Wie konnte man die Verletzbarkeit einfach ablegen? War sie nicht etwas, das zum Leben dazugehörte? Einerseits schien es mir verlockend, nicht verletzlich zu sein – welche Möglichkeiten zum Handeln würden sich im Verhalten zu anderen Kindern ergeben, dachte ich, wenn man nicht mehr aufpassen musste, dass eine Beleidigung, ein Schlag, eine Ungerechtigkeit weh tun würde. Andererseits schien mir die Verletzbarkeit an etwas Positives geknüpft, das ich aber irgendwie nicht fassen konnte. Würde mit dem Verlust der Verletzbarkeit nicht auch etwas verlorengehen, das wichtig für mein Leben war? Brauchte man die Verletzbarkeit denn nicht? Und was ist sie überhaupt? Goos Ratschlag, die Verletzbarkeit abzulegen, abzuschneiden, abzuschaffen, reiht sich ein in eine lange Geschichte der menschlichen Träume davon, die eigene Verletzbarkeit zu besiegen: Sowohl die griechische als auch die germanische Mythologie kennen den Mythos der Unverwundbarkeit. So will die Meernymphe Thetis ihre Söhne von dem Makel der Sterblichkeit befreien und ihnen Unverwundbarkeit geben. Je nach überlieferter Version sind die Methoden hierzu unterschiedlich grausam: In einer Erzählung wendet sie zunächst das Verfahren an, ihre Kinder in einem Topf zu kochen, damit der sterbliche Teil dabei aufgezehrt werde. Einer anderen Version zufolge taucht Thetis Achill in das Wasser des Styx, des Flusses der Unterwelt. In beiden Versionen übersteht Achill die drastische Prozedur. Im ersten Fall wird sie von Peleus unterbrochen, als sie dabei ist, Achill in den Topf zu geben, nur seine Ferse ist bereits verbrannt worden. In einer zweiten hält sie das Baby an der Ferse, die dadurch nicht mit Wasser benetzt wird und verletzlich bleibt. Beide Male überlebt Achill, aber beide Male wird er nicht vollständig unverwundbar, sondern behält eine verwundbare, eine verletzbare Stelle, die heute noch bekannte Achillesverse, die dann später auch zu seinem Tod führt. Thetis taucht Achill in den Styx; Ölgemälde von Peter Paul Rubens, ca. 1630–35 (Foto: Wikimedia Commons / Vincent Steenberg) Das erinnert an nordische Sagenkreise: Der germanische Held Siegfried führt seine Unverwundbarkeit selbst herbei. Siegfried sei, so seine Frau Kriemhild, »mutig und dazu überaus stark. Als er den Drachen am Berg erschlagen hatte, badete sich der stolze Kämpfer im Blute. Deshalb hat ihn seither keine Waffe in den Kriegsstürmen verwundet«. Doch fiel ihm »zwischen die Schulterblätter ein ziemlich breites Lindenblatt«, was ihr seitdem Sorgen bereitet – und gerade das erzählt sie mit ebendiesen Worten dem hinterlistigen Hagen: Dieser solle besonders auf Siegfried achtgeben und die verwundbare Stelle im Auge behalten – und Hagen wird genau in diese Stelle später einen Speer stoßen und Siegfried töten.1 In der nordischen Mythologie findet sich die Geschichte von Balder, einem eigentlich friedlichen, schönen und weisen Gott. Seine Mutter fordert alle Wesen der Schöpfung auf, zu schwören, dass sie Balder kein Leid zufügen werden – nur beim jungen Mistelzweig hält sie dies nicht für nötig. Natürlich kommt es, wie es kommen musste: Der ewig hinterhältige Loki ist neidisch, dass Balder unverletzbar ist, und redet auf den blinden Höd, den Bruder Balders, ein:2 ›Warum schießt du nicht auf Balder?‹ Er antwortete: ›Weil ich nicht sehe, wo er steht, und zum anderen, weil ich keine Waffe habe.‹ Loki meinte: ›Mache es doch so wie die anderen, und erweise Balder die Ehre wie sie. Ich werde dich dorthin weisen, wo er steht. Wirf diesen Zweig nach ihm.‹ Höd nahm den Mistelzweig und schoß ihn nach Lokis Anweisung auf Balder. Das Geschoß durchbohrte ihn, und er stürzte tot auf die Erde. Die Mythen erzählen vom Traum der Unverwundbarkeit und meinen damit vor allem die Unmöglichkeit der physischen Verwundung. Wenn ich hier von Verletzbarkeit rede, so gebrauche ich den Begriff etwas umfassender. Das Verb »verwunden« geht ebenso wie das englische »vulnerable« auf lateinisch »vulnus« zurück. Mit der Bedeutung »Wunde« bezieht es sich vor allem auf körperliche Schädigungen, wie etwa durch Waffen. Das Wort »verletzen« schließt hingegen »verwunden« mit ein. Doch steht es auch mit dem althochdeutschen »letzten« in Zusammenhang. Und das bedeutet zum einen »hindern«, zum anderen »erquicken«. Ein erstaunlicher Befund: Dass die Verletzbarkeit des Menschen über seine physische Verwundbarkeit hinausgeht und eigentlich auch alle Arten von Verletzungen einschließt, deutet sich bereits in der Geschichte des Begriffs bzw. in der Etymologie an. Auffällig ist, dass in unserer heutigen Zeit die Sicht auf Verletzbarkeit von einer eigentümlichen Ambivalenz gekennzeichnet ist: Auf der einen Seite hält sich hartnäckig der Traum von der Unverwundbarkeit, wie wir ihn aus der Antike kennen. Es mögen einem hier zuerst die Cyborgs, diese Mischwesen aus Maschinen und Menschen, in den Sinn kommen, die die philosophische Strömung des Transhumanismus als Weiterentwicklung der Evolution ansieht. Das Verschmelzen von Menschen mit der Technik, sei es durch Gehirnimplantate oder Verbindungen des Menschen mit dem Computer, verfolgt nicht nur das Ziel einer Leistungssteigerung, sondern durch diese Überwindung der menschlichen Beschränkung tritt auch der alte Traum der Unverwundbarkeit in neuem Gewand wieder auf. Der Wunsch nach Unverletzlichkeit kommt aber bereits an ganz anderer Stelle in unserer Gesellschaft scheinbar harmloser zum Vorschein. Er spiegelt sich auch in dem Begriffspaar »Vulnerabilität und Resilienz«, das in letzter Zeit viele Debatten in ganz unterschiedlichen Fachrichtungen beherrscht. Der englische Begriff »vulnerabel«, der spätestens seit der Corona-Pandemie bekannt wurde, hat heute das deutsche Wort weitgehend verdrängt. Dies mag nicht nur daran liegen, dass hier ein Anglizismus Einzug gehalten hat, sondern auch daran, dass das Fremdwort technischer und unpersönlicher als das deutsche Wort »verletzbar« klingt. Als »vulnerabel« gilt heute beinahe alles: von bestimmten Gruppen von Menschen hin zu Energiesystemen bis zu den Schweizer Banken. Wer von »vulnerabel« statt von »verletzbar« redet, hat aber auch schon eine bestimmte Deutung des Begriffs im Sinn. Gemeint ist dann, dass ein Wesen, eine Entität oder ein System störungsanfällig ist, was wiederum negativ besetzt ist. Der Begriff der Resilienz stellt hierzu den Gegenbegriff dar, der positiv gefasst wird, denn er bezeichnet die Widerstandskraft, die Stör-Unanfälligkeit, letztlich die Stärke. Kurz: Jeder will heutzutage resilient sein – oder es zumindest werden, denn wer resilient ist, ist nicht vulnerabel. Resilienz gilt somit als Antwort auf alles, als Lösung, als Aufhebung, als richtiger Umgang mit der Vulnerabilität. Man könnte also sagen: Der Traum der Unverwundbarkeit wird in dieser Geringschätzung der Verletzbarkeit wieder neu geträumt. Und das passt zu einer Gesellschaft, die den autonomen Menschen ins Zentrum rückt, denn Verletzbarkeit wird in einer neoliberalen Gesellschaft allzu oft als Einschränkung der Freiheit, der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gesehen. Doch es gibt noch eine gegensätzliche Tendenz in unserer Gesellschaft, denn auf der anderen Seite wird individuelle Verletzlichkeit wertgeschätzt. Es fehlt nicht an Ratgebern, dass man sich verletzlich zeigen soll. Der Ted Talk von Brené Brown mit dem bezeichnenden Titel »The Power of Vulnerability« gilt als einer der erfolgreichsten Ted Talks überhaupt.3 Das Sich-verletzlich-Zeigen wird bei der Psychologin als unumgänglicher Weg gesehen, um ›Großes zu erreichen‹, um ›seine Scham zu überwinden‹ und ›in die Arena zu steigen‹. Nur wer sich verletzlich zeige, könne erfolgreich sein. Das Sich-verletzlich-Zeigen, das Manager in Kursen erwerben können, wird damit aber wiederum als Teil einer umfassenden Erfolgsstrategie verstanden. Zu dieser Betonung der Verletzlichkeit passt es, dass immer mehr Menschen gern als »hochsensibel« bezeichnet werden möchten; als besonders feinfühlig und verletzlich zu gelten, liegt also definitiv im Trend. Eine herausragende Stellung hat die Verletzlichkeit in den letzten Jahren zudem dadurch erhalten, dass immer mehr Gruppen im...


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