Thomas Bernhard. Eine kulinarische Spurensuche
E-Book, Deutsch, 176 Seiten
ISBN: 978-3-7106-0629-8
Verlag: Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Angegriffenes Befinden bis Siechtum wohin man blickt also. Manchmal steht die Gesundheit in direkter Relation zum Essen: Heringe sind demnach »absolute Existenzverkürzer« (Immanuel Kant), Topfenstrudel wiederum, so der Bassist zum Tenor, solle er essen, denn der sei »stimmbandfreundlich« (Die Berühmten). Wie aussichtslos dieser Kampf um das eigene Wohlsein – immer auch ein sinnloser Existenzkampf – einzustufen ist, demonstriert par excellence der Arzt aus Der Ignorant und der Wahnsinnige. In einem der typischen Bernhard’schen Übertreibungsmanöver erfahren wird, dass der Mediziner seit zwanzig Jahren an einem zwölfbändigen Werk über den menschlichen Körper schreibe. Auf die Erkenntnisse daraus dürfen wir wohl noch länger warten. Ohnehin gibt es, was Essen und Gesundheit angeht, nur zwei bittere Wahrheiten: »Die Köche haben uns in der Hand«, so konstatiert es der »Weltverbesserer«, und: »Der Kranke und der Verkrüppelte/ beherrschen die Welt«, stellt der Jongleur in Die Macht der Gewohnheit fest. Essen als Instrument der Beherrschung
Essen ist – bei aller Alltäglichkeit – ein Ritual und folgt gewissen Regeln beziehungsweise den der jeweiligen gesellschaftlichen Schicht entsprechenden Normen. Das von Bernhard bevorzugte Setting im Großbürgertum und der abgehobenen Künstlerschaft eröffnet eine Spielfläche mit hohem Hierarchiegefälle. Tischmanieren geraten zu einem Distinktionsmerkmal (mit allen Abweichungen), das Essen an sich wird zu einem Abbild von Machtverhältnissen, zwischen Herrschaften und Bediensteten, zwischen Gastgebern und Gästen, aber auch innerhalb von Familien. Erwähnenswert ist Bernhards unumwundene Sympathie für untergebene Figuren, also das Hauspersonal oder generell rangniedrigere Personen. Sie vertreten gewissermaßen den vernünftigen, souveränen Bürger, an dem sich die Scheindistinguiertheit der Aristokratie oder Oberschicht oft als nur schlecht geschmückte Niedertracht entlarvt. Das Dienstpersonal wird grundsätzlich herabwürdigend herumkommandiert, seine Koch- und Servierpraktiken geschmäht. Bisweilen müssen die Kellner sogar damit vorliebnehmen, nicht einmal gerufen, sondern bloß herbeigeklatscht zu werden (Die Berühmten). Der namensgebende Philosoph in Immanuel Kant will aus Anlass einer von ihm konstatierten »Suppenfatalität« vom herbeizitierten Schiffskoch sogar wissen, wie viele Kümmelkerne (!) er für gewöhnlich in eine Suppe gibt. Fräulein Zallinger in Elisabeth II. wiederum muss Tische und Tabletts noch und nöcher hereinschleppen, wird aber von ihrem Dienstherrn Herrenstein als »ein Faktotum/ mit stark eingeschränktem Nützlichkeitsfaktor« bezeichnet. Ihre stillschweigende Duldsamkeit (bis auf ein wenig Husten) ist indes typisch für die Bernhard-Dienstleute. Sie dienen im Wesentlichen nur als Spiegel für die Oberschicht. Besonders dreist ist die Schmach in Der Freispruch, wenn Frau Sütterlin Fräulein Noras geschlagene Sahne abqualifiziert: »Wie dumm diese Geschöpfe sind/ wie dumm/ Jetzt ist sie schon zwei Jahre im Haus/ und weiß noch immer nicht/ wie Sahne geschlagen wird.« Der Theatermacher Bruscon – er wurde immerhin, wie eingangs erwähnt, vorsorglich mit einem 43 Kilogramm schweren Käselaib bestraft – beansprucht bei seiner Ankunft im Gasthaus Schwarzer Hirsch nicht nur das Ohr des Wirten über Gebühr, er kapriziert sich auch darauf, um halb vier Uhr am Nachmittag eine Frittatensuppe vorgesetzt zu bekommen. Und das, obwohl Blutwursttag ist, wie der Wirt dem Theatermacher erklärt, und die Wirtin eigentlich mit dem Abfüllen von Würsten beschäftigt ist. In der Frittatensuppe drückt sich also nicht nur der Triumph der Provinz aus, nein, auch des Theatermachers lebhafte Egomanie. Herrschaft und Bedienstete, Gast und Wirt – das tatsächliche oder vermeintliche Hierarchiegefälle manifestiert sich am gedeckten Tisch. Auch innerhalb von Verwandtschaftsverhältnissen dient das Essen und Trinken regelmäßig zur Demütigung, insbesondere in Eltern-Kind-Beziehungen oder Ehen. So erniedrigt »die Gute« in Ein Fest für Boris ihren Mann auf vielfache Weise, vor allem aber ist es ihm aufgrund gewisser Essgeräusche auf ihre Anweisung hin untersagt, Äpfel zu essen. Der »Weltverbesserer« hält sich seinerseits eine Frau (eine Heirat stand im Raum) wie eine namenlose Hausangestellte, um seine Befehlsmarotten und seine Besserwisserei auszuleben – um fünf Uhr früh geht es schon los! »Daß mir kein Tintenfisch mehr/ auf den Tisch kommt«, schreit der schwerhörige Mann bei der Lektüre eines Buches plötzlich. Das herrische Verhältnis der Mutter gegenüber ihrer Tochter wiederum definiert sich in Am Ziel über das Teetrinken. Ist die Mutter, eine jammervoll-lästige Gusswerksbesitzerin, leidenschaftliche Teetrinkerin, so ist die Tochter dies –naturgemäß – nicht. Die Tragik besteht nun darin, dass es der Tochter auch nach zwanzig Jahren (!) Praxis nicht gelingt, den Tee zur Zufriedenheit der Mutter zuzubereiten. »Es ist eine Kunst«, nörgelt diese: »wenn du ihn machst schmeckt er nicht«. Immanuel Kant weist seiner Gattin ihren Platz zu, indem er seinen Papagei namens Friedrich in allen Belangen über sie erhöht. Der Vogel bezieht auf dem Luxusdampfer gen Amerika nicht nur eine eigene Kabine. Das vom Diener umsorgte Tier erhält auf Wunsch nur die erlesensten und bekömmlichsten Körner (guatemaltekische, nicht brasilianische) – und am Sonntag eine geröstete Semmel. Indes wird Frau Kant – weit entfernt von solcher Umsorgtheit – für ihre nicht adäquate Hochseekost nur kritisiert. Essen anbieten, aufzwingen, vorenthalten, es abkanzeln oder idealisieren, es entbehren, verbieten oder ablehnen: Im Was und Wie manifestieren sich sozialer Status und Autorität der Essenden, Macht, Machtgewinn und Machtverteilung innerhalb des Dramenpersonals. Auch klassifiziert Bernhard Figuren gern über ihre mit Küche oder Gastronomie zusammenhängende familiäre Herkunft. So outet sich etwa der Bassist als Abkömmling einer Bierbrauerdynastie (Die Berühmten), für die Schauspielerin aus Der Präsident hat sich Thomas Bernhard, in dessen Texten immer wieder Elemente der Hanswurstiade und des Alt-Wiener Volkstheaters à la Nestroy aufblitzen, gar eine Kochlöffelschnitzerfamilie ausgedacht. Aber auch das ist Bernhard: Essen kann letztendlich ebenso als positives Verbindungsglied gelesen werden, wie etwa die dem damaligen Burgtheaterdirektor in spe, Claus Peymann, und seinem Chefdramaturgen Hermann Beil gewidmete Dramolett-Trilogie, die bei Rindsuppe beziehungsweise kaltem Wiener Schnitzel ein Theatertriumvirat besiegelt hat. Ein schönes und für Bernhards Verhältnisse geradezu rührendes Beispiel dafür ist der Bernhard Minetti zugedachte Monolog Einfach kompliziert. Da sinniert ein alter, einsamer Schauspieler über sein Leben und vermag nichts anderes mehr als die Reliquien seiner Karriere zu hüten. Die Außenwelt hat ihm nichts mehr zu sagen, einzig die Gegenwart eines neunjährigen Mädchens erfreut ihn noch. Dieses trägt denselben Namen wie seine verstorbene Frau, Katharina, und bringt ihm nach alter nachbarschaftlicher Art zweimal wöchentlich Milch. Stets hat der in seiner Häuslichkeit vergrabene alte Mann dann Weichselsaft für das Mädchen vorrätig, eine für sein asoziales Rückzugsleben bemerkenswerte Zuwendung. Milch und Saft sind die unschuldigen Lockmittel, mit denen der Mann den Besuchskontakt erhalten möchte. Und nicht nur das: Katharina scheint für ihn insofern ein unentbehrlicher Lichtblick zu sein, als er ihre Milchlieferung beansprucht, obwohl er Milch in Wahrheit verabscheut, wie er später einräumt. Er trinkt sie nicht, sondern leert sie in den Ausguss, und doch kann er ohne sie nicht sein, weil sie ihm den Zutritt zu einer versunkenen Welt ermöglicht, die er nur mehr erinnern kann. Kirsten Dene und Martin Schwab philosophieren bei einer Jause in Claus Peymann und Hermann Beil auf der Sulzwiese, Akademietheater 1998 Man könnte nun meinen, Thomas Bernhard ist der Lebensmittel- und Speisendramatiker schlechthin. Ginge man statistisch vor, so ist er in puncto Essensschauplätze und -bezüge wohl wirklich schwer einzuholen. Das dramaturgische Potenzial, das im Essensvorgang liegt, hat Bernhard indes so wohldosiert, es nachgerade verborgen, sodass man über dessen nachgerechnete Dichte wahrlich staunt. Es wurden in den Inszenierungen seiner Stücke zwar die schönsten Suppenschüsseln hereingetragen und formvollendete Servierszenen absolviert. Doch als »Theater-Arcimboldo« sollte man Bernhard nicht missverstehen. Die beim Essen unterschwellig ausgelösten Prozesse, die aufgetanen Räume und Zeiten führen bei aller Besessenheit immer über dieses hinaus und weisen hin auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Es wird am Essen und am Körper gelitten,...