Theologisch-diakoniewissenschaftliche Zugänge für Management, Spiritualität und Bildung
E-Book, Deutsch, 92 Seiten
ISBN: 978-3-17-045765-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In der Diakonie wird Nachhaltigkeit als die Frage nach der Verantwortung für unsere natürlichen Lebensgrundlagen zum Thema sozialer Gerechtigkeit. So verlagert sich der Fokus vom "grünen" Produkt in die ethische Tiefe: Sind Menschen mündig und befreit? Wird der Mensch als mehr angesehen denn als lebendige Materie? Werden Menschen in ihrer Verantwortung für die unantastbare Würde des Lebens von dessen Anfang bis zu dessen Ende gestärkt?
Der Blick in die Tiefe kennzeichnet die Aufgaben für das Nachhaltigkeitskonzept der Diakonie: Bildung und Entwicklung, Spiritualität und Ethik, Emanzipation und Empowerment. Über diese Aufgaben trägt der Band den Nachhaltigkeitsbegriff in die diakoniewissenschaftliche Theoriebildung und Praxisreflexion ein. Die Beiträge denken ethische Reflexion, gemeinwohlorientiertes Management, religiöse Bildung und Personalentwicklung zusammen.
Autoren/Hrsg.
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Nachhaltigkeit – zwischen Greenwashing, Angst und Verantwortung1
Reiner Anselm 1 Nachhaltigkeit als »Thick Moral Concept«
Der Begriff der Nachhaltigkeit hat in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere erfahren. Von einem eher technischen Begriff hat er sich zu dem gewandelt, was man im Anschluss an Bernard Williams als »thick moral concept«2 bezeichnen könnte, eine Charakterisierung, die eine Sache in einer hinreichend exakten Weise beschreibt und zugleich mit einer handlungsanleitenden Wertung versieht. Anders als unspezifische, »dünne« moralische Konzepte, die zwar auch etwas als erstrebenswert kennzeichnen, aber nicht genau sagen, worin dies begründet ist, charakterisieren »dichte« Konzepte einen Sachverhalt näher und präziser. Welchen Unterschied dies macht, wird deutlich, wenn man sich folgendes Beispiel vor Augen führt: Wenn ich ein Produkt als »gut« bezeichne, dann ist klar, dass ich es auch positiv bewerte und etwa eine Kaufempfehlung abgebe. Wenn Sie mich und meine Vorlieben aber nicht kennen, dann wird Sie ein solches »dünnes« Konzept vielleicht noch nicht vollständig überzeugen und zum Kaufen veranlassen. »Nachhaltig« hingegen könnte eine entsprechende Eigenschaft sein, denn »Nachhaltigkeit« führt bereits einen Bedeutungshorizont mit sich, der mehr ist als nur eine auf bestimmten Überzeugungen und Präferenzen beruhende Meinung. Nachhaltig zu handeln, heißt richtig zu handeln, und umgekehrt ist es falsch und nicht eben nur »schlecht«, nicht nachhaltig zu agieren. Diese Eigenschaft von »nachhaltig« macht den Begriff besonders attraktiv für die Werbung. Denn Werbung ist ja ganz grundlegend daran interessiert, Beschreibungen mit einer letztlich alternativlosen Handlungsentscheidung zu verbinden: Du musst mich kaufen. Allerdings, und hier beginnen dann die Probleme, ist viel zu unpräzise definiert, worin Nachhaltigkeit genauer besteht. Auch die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen helfen hier nicht wirklich weiter, denn in ihrer Vielzahl und auch in ihrer umfassenden Ausrichtung bieten sie letztlich für jede Maßnahme und jede Eigenschaft einen Haftpunkt. So dürfen sich Wirtschaftsförderungsprogramme durchaus als SDG-kompatibel bezeichnen, da menschenwürdige Arbeit und Wirtschaftswachstum (SDG 8) explizit Teil der Agenda 2030 sind. Gleichzeitig aber ist – interessant, weil zirkulär formuliert – von nachhaltiger Produktion und nachhaltigem Konsum (SDG 12) die Rede. Greenwashing ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Es zeigt aber auf der anderen Seite auch trotz allen Missbrauchs, der damit einhergeht, dass Nachhaltigkeit einen starken Handlungsimpuls freisetzt. Dieser Impuls ist dabei motiviert durch eine positive Erzählung. Es sind keine apokalyptischen Ängste, es ist eben nicht die Heuristik der Furcht, von der noch Hans Jonas 1979 im »Prinzip Verantwortung«3 sprach, sondern eine positive Begrifflichkeit, die Zuversicht, durch Handeln die Welt verändern zu können, die Nachhaltigkeit mit sich bringt und die sie dann eben auch anfällig und attraktiv für diejenigen macht, die ihre Praktiken damit reinwaschen möchten. Doch trotz aller Skepsis an solchen Praktiken bringt die Tatsache, dass sich so viele und so unterschiedliche Akteure des Begriffes bedienen, ein weiteres Moment zum Ausdruck, das mit der Verwendung von »Nachhaltig« einhergeht: die Wahrnehmung nämlich, dass Probleme nur gelöst werden können, wenn sie nicht nur sektorial betrachtet werden. So muss etwa Personalpolitik nicht nur den Rationalitäten der kaufmännischen Geschäftsführung und damit der Gewinnorientierung – bzw. im freigemeinnützigen Bereich – der Verlustvermeidung dienen, sondern auch dem Arbeitsklima, der Ressourcenfreundlichkeit. Oder die Backmischung – um mit dem Beispiel am Bielefelder Vortragsort zu bleiben – muss nicht nur einen guten Kuchen hervorbringen, sondern auch die Umwelt schonen und zu weniger Energieverbrauch führen. Nachhaltigkeit ist ein Indiz dafür, dass komplexe Fragestellungen durch das strukturierte Zusammenwirken unterschiedlicher Systeme gelöst werden müssen – und die Art, wie eine solche Zusammenarbeit aussehen kann, ohne die Eigenrationalitäten der jeweiligen Funktionssysteme zu stören, wird durch den Nachhaltigkeitsbegriff angezeigt. 2 Die Sehnsucht nach überschaubaren Verhältnissen
Eben deswegen gilt Nachhaltigkeit bei vielen als Schlüssel für die Lösung der großen Herausforderungen, vor die sich die Menschheit derzeit gestellt sieht: Klimawandel, Umweltzerstörung, globale Gerechtigkeit, Migration. Konfrontiert mit komplexen Herausforderungen unterstützt der Begriff das Gefühl eines Handelns, das über die unmittelbare Systemlogik hinausgeht. Genau darin aber liegt nun auch eine Gefahr begründet, die tiefer reicht und auch problematischer ist als solche Zweckentfremdungen: Nachhaltigkeit kann sich mit der Sehnsucht nach überschaubaren, vormodernen Verhältnissen verbinden, nach einer Gesellschaft, in der unangetastet von dem ökonomischen Druck eines weltweiten ökonomischen Wettbewerbs eine Insel des verantwortungsbewussten und harmonischen Handelns entsteht. Ich denke, erst allmählich, dann aber mit hoher Geschwindigkeit und Dringlichkeit ist in den letzten Jahren klar geworden, dass solche Bilder regionaler Wohlordnung keineswegs nur und allein positiv zu sehen sind als Ausdrucksformen vorbildlichen Handelns. Sie können auch eine Schattenseite haben, wenn sie nämlich an die Stelle globaler Verantwortung die Abschottung in das Überschaubare setzen und sich dies mit einem ausgrenzenden, antimodernen Regionalismus verbindet. Wie leicht dies möglich ist und wie schwierig entsprechende Grenzziehungen sind, zeigte sich nicht nur im Kontext der Corona-Pandemie. Auch die tiefe Ambivalenz, die z.?B. Konzepten der Naturheilkunde und der Alternativmedizin anhängt, oder auch die Möglichkeiten der Ideologisierung des ökologischen Landbaus etwa im Umfeld der Anthroposophie wären hier zu nennen.4 Nachhaltigkeit darf nicht zum trojanischen Pferd werden, um antimoderne und möglicherweise sogar neonationale Gedanken zu verbreiten. Dazu kommt, dass tatsächlich oft eine Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen zu verzeichnen ist. Die oft gebrauchte Formel »Global denken – lokal handeln« kann dieses Problem nur mühsam und vor allem nur oberflächlich überdecken. Denn nur zu häufig stehen beide Ebenen zueinander in Konkurrenz: Gerechtigkeit im globalen Maßstab muss keineswegs auch regional Gerechtigkeit zur Folge haben und die Ressourcen, mit denen ein nachhaltiger Umgang gepflegt werden soll, sind im globalen Maßstab keineswegs so klar und vor allem so einheitlich zu definieren, wie es auf einer oberflächlichen, oft rhetorischen Ebene erscheint. Die Bauernproteste haben uns das wieder eindrücklich vor Augen geführt. Ebenso stehen sich, um noch ein weiteres Beispiel zu nennen, in den Diskursen über Nachhaltigkeit die Kritik an globalen Handelsströmen und die Aufforderung, Fragen von Armut und Entwicklung im weltweiten Maßstab zu betrachten, oft spannungsreich gegenüber. Es spricht für sich, dass sich in der ökumenischen Bewegung, in der das Konzept der Nachhaltigkeit schon früh präsent war, schnell eine Debatte darüber entspann, ob das Nachhaltigkeitsparadigma nicht nur eine neue Form eines als Moral getarnten Kolonialismus der reichen Staaten des Nordens darstellen solle, um den sich entwickelnden Ländern des Südens Wachstumschancen zu versagen. Die Konflikte, die sich hier schon in den 1960er-Jahren artikulierten, kommen zu keiner Klärung, sie werden vielmehr über einen Formelkompromiss befriedet: Seit 1970 wird im ÖRK eine zweigliederige Formulierung favorisiert; die Mitgliedskirchen streben, so heißt es nun, eine »nachhaltige und gerechte Entwicklung« an – ohne dass das Verhältnis von Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit hinlänglich geklärt wäre.5 Die Umstellung von »sustainable and just society auf »just, participatory, and sustainable society” nur ein Jahr später bei der fünften Vollversammlung des ÖRK 1975 in Nairobi spricht hier Bände.6 Dass nun aber gerade der Gerechtigkeitsbegriff sehr unterschiedliche und kontroverse Assoziationen und Konsequenzen motivieren kann, habe ich eben herauszustellen versucht. Doch nicht der Blick auf solche Unabgeglichenheiten, sondern die dahinterliegende Tiefenstruktur soll hier im Vordergrund stehen – und zwar deswegen, weil sie den Weg für einen konstruktiven Umgang mit dem Nachhaltigkeitskonzept bahnen und zugleich auch die Sensibilität für einen antimodernistischen Gebrauch der Nachhaltigkeitssemantik wecken kann. Diese Tiefenstruktur besteht in der Renaissance der Vorstellungswelten des Biedermeier und der Romantik, mit denen dem ins Offene Weisenden der Aufklärung entgegengetreten werden soll. Aller Globalorientierung zum Trotz: Es sind oft die kleinen heilen Welten, denen das Ziel gilt. Die Hochschätzung alternativer Schulformen in den Milieus, die den Nachhaltigkeitsdiskurs zivilgesellschaftlich prägen, stellt hierfür vielleicht das sprechendste Beispiel dar: Der Vielfältigkeit und auch der Widersprüchlichkeit, die den Alltag an einer allgemeinen Schule prägen, wird die geschlossene Gemeinschaft einer durch gemeinsame Überzeugungen getragenen Privatschule entgegengesetzt. Hierzu passen auch die Rückkehr des Heimatbegriffs und die Orientierung an einem Leben im Einklang mit der Natur. Und dazu gehört auch, im Kleinen das eigene Leben möglichst gut abzuschotten gegenüber den irritierenden Entscheidungskonflikten und Pluralitätserfahrungen moderner Gesellschaften. 3 »Schöpfung« statt »Natur« als Referenzrahmen
Die spezifische Färbung, die dem Verweis auf die Herkunft des...