E-Book, Deutsch, 118 Seiten
Schmahl / Stiglmayr Selbstverletzung
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-8444-2751-6
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 118 Seiten
Reihe: Fortschritte der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-2751-6
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Nichtsuizidales Selbstverletzendes Verhalten (NSSV) tritt vergleichsweise häufig im Jugendalter auf. Es spielt aber auch im Erwachsenenalter im Zusammenhang mit verschiedenen psychischen Störungen eine gewichtige Rolle, z.B. bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung, bei dissoziativen und affektiven Störungen sowie bei der Posttraumatischen Belastungsstörung. Entsprechend wurde NSSV als Forschungsdiagnose in das DSM-5 aufgenommen. Der Band gibt praxisorientierte Hilfestellungen für die effektive Behandlung von NSSV.
Der erste Teil des Buches liefert wichtiges Hintergrundwissen: Er informiert über die Häufigkeit sowie über die psychologischen und neurobiologischen Hintergründe dieses Verhaltens und geht auf Begleiterkrankungen ein. Im zweiten Teil wird ein Behandlungsleitfaden vorgestellt, der das konkrete Vorgehen in Diagnostik und Therapie beschreibt. Die therapeutische Herangehensweise orientiert sich an der Dialektisch-Behavioralen Therapie (DBT), berücksichtigt jedoch auch neuere therapeutische Ansätze, wie z.B. das Achtsame Selbstmitgefühl. Zudem wird aufgezeigt, wie mit möglichen Problemen bei der Behandlungsdurchführung umgegangen werden kann. Anhand eines Fallbeispiels wird die therapeutische Arbeit greifbar gemacht.
Zielgruppe
Ärztliche und Psychologische Psychotherapeuten, Fachärzte für Psychiatrie und Psychotherapie, Fachärzte für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Klinische Psychologen, Psychologische Berater, Sozialpädagogen, Studierende und Lehrende in der psychotherapeutischen Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Psychopathologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychosomatische Medizin
Weitere Infos & Material
|2|1 Beschreibung der Störung
1.1 Definition
Selbstverletzungen finden sich in verschiedenen Ausprägungsformen und werden mit den unterschiedlichsten Motivationen durchgeführt. Merke Das hier im Zentrum stehende Nichtsuizidale Selbstverletzende Verhalten (NSSV) wurde 2005 von Muehlenkamp als eigenständiges Syndrom eingeführt und 2009 von Nock als „direkte, absichtliche Zerstörung des eigenen Körpergewebes ohne suizidale Intention“ (S. 9, Übersetzung durch die Autoren) definiert. Das heißt, dass zum Beispiel ein übermäßiger Alkoholkonsum zwar selbstschädigend sein kann, aber nicht unter die Definition von NSSV fällt. NSSV lässt sich in einen größeren Kontext von selbstverletzenden Gedanken und Handlungen einordnen (vgl. Abb. 1). Diese werden zunächst in suizidal und nichtsuizidal unterteilt. Suizidale Gedanken und Handlungen sind durch die Intention zu sterben charakterisiert, während dies per definitionem bei |3|NSSV nicht der Fall ist. Hierbei ist jedoch festzuhalten, dass die Motivationslage bzgl. der Absicht zu sterben nicht in jedem Fall völlig eindeutig ist und auch bei derselben Art von Handlung (z.?B. beim Schneiden mit Rasierklingen) innerhalb einer Person wechseln kann. Die hier im Vordergrund stehenden Verhaltensweisen umfassen Formen der Gewebeverletzung von leichtem Ritzen bis zu tiefen Schnittverletzungen, Verbrennungen oder Verätzungen oder Mit-dem-Kopf-an-die-Wand-Schlagen. Als alternative Begriffe, die aber nicht die Präzision des NSSV-Begriffes aufweisen, d.?h. insbesondere nicht die klare Abgrenzung von suizidalen Handlungen aufweisen, und daher von uns nicht verwendet werden, existieren das „deliberate self-harm syndrome“ sowie der Begriff „parasuicide“. Beim NSSV werden zunächst stereotype von anderen Formen unterschieden. Stereotypes NSSV wird mit hoher Frequenz durchgeführt und kommt fast ausschließlich bei Entwicklungsstörungen mit geistiger Retardierung oder neuropsychiatrischen Erkrankungen wie dem Tourette- oder dem Lesch-Nyhan-Syndrom vor. Die hier im Vordergrund stehenden Formen des NSSV sind demgegenüber durch eine bewusste Entscheidung und durch gewisse unterscheidbare Intentionen gekennzeichnet, welche auch für die Behandlung eine wesentliche Rolle spielen. Die Motive für NSSV wurden insbesondere bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung genauer untersucht. Dabei steht eine Reduktion der hohen inneren Anspannung durch die Selbstverletzung im Vordergrund. 1.2 Epidemiologie, Verlauf und Prognose
NSSV ist ein häufiges Phänomen. Eine erste Studie an mehr als 5.000 Schülern zeigte eine Prävalenz von 10,9?% gelegentlichem NSSV (ein- bis dreimal/ Jahr) und 4?% repetitivem NSSV (mindestens viermal/Jahr). Eine weitere Studie, die im Schulsetting durchgeführt wurde, ergab, dass ein Viertel aller 14- bis 17-Jährigen sich mindestens einmal selbst verletzt hatten und 9,5?% mindestens viermal. Außerdem berichteten 6,5?% der befragten Jugendlichen, dass sie bereits mindestens einen Suizidversuch verübt hätten. Internationale Vergleichsstudien ergaben weltweit recht ähnliche, mittlere Lebenszeitprävalenzen von 18?% mit gleichbleibenden Werten für die Erhebungszeitpunkte 2005 bis 2011. Eine große, in mehreren europäischen Ländern an mehr als 12.000 ca. 15 Jahre alten Schülern durchgeführte Studie ergab eine mittlere Lebenszeitprävalenz von 27,6?% (wobei Frankreich und Deutschland die höchsten Werte aufwiesen) und eine Häufigkeit von repetitivem NSSV (= 5 Ereignisse/Jahr) von 7,83?%. In einer Übersichtsarbeit, in die 32 individuelle Studien eingingen, zeigte sich ein Anstieg der NSSV-Raten im Alter zwischen 12 und 16 Jahren mit einer anschließenden Abnahme bis zum jungen Erwachsenenalter (Plener, Schumacher, Munz & Groschwitz, 2015). |4|Den natürlichen Verlauf von NSSV untersuchte eine größere australische Studie an fast 2.000 Heranwachsenden über die Altersspanne von knapp 16 bis 29 Jahren. 10?% der Mädchen und 6?% der Jungen zeigten zu Beginn der Studie mit knapp 16 Jahren NSSV; bereits nach einem Jahr war die Frequenz auf ca. 2?% gesunken und pendelte sich dann mit Beginn des Erwachsenenalters auf ca. 1?% ein. Die häufigsten Methoden waren Schneiden und Verbrennen, gefolgt von Sich-selber-Schlagen. Mädchen zeigten eine höhere Kontinuität von NSSV im jungen Erwachsenenalter. Mit NSSV in der Adoleszenz assoziiert waren depressive und ängstliche Symptome, antisoziales Verhalten, Alkohol-, Cannabis- und Nikotin-Missbrauch. Insgesamt zeigt NSSV also über die Altersspanne der Adoleszenz eine deutlich rückläufige Tendenz. Eine weitere große Studie (Whitlock, Eckenrode & Silverman, 2006) erfasste NSSV an knapp 3.000 College-Studierenden in den USA. Hier berichteten 17?% der Teilnehmer, sich bereits mindestens einmal selbst verletzt zu haben. Der Beginn des NSSV wurde von 34?% der Teilnehmer zwischen 17 und 20 Jahren, von 27?% zwischen 15 und 16 Jahren, und von 25?% zwischen 10 und 14 Jahren angegeben. Von denjenigen mit repetitivem NSSV hatten knapp 80?% nach fünf Jahren wieder aufgehört, 40?% bereits nach einem Jahr. Die häufigsten NSSV-Methoden sind: 61,8?% Schneiden, 42,7?% Kratzen?/ Kneifen, 29,4?% Beißen, 27,6?% Stechen und 26,5?% Sich-selber-Schlagen. Als Lokalisation von NSSV wurde von den meisten Arm/Handgelenke angegeben, gefolgt von Hand/Fingern und Beinen. Während bei Mädchen das Schneiden die am häufigsten praktizierte Methode ist, zeigen Jungen am häufigsten Sich-selbst-Schlagen (Barrocas, Hankin, Young & Abela, 2012). Merke NSSV ist in der Adoleszenz sehr häufig, ca. 20 bis 25?% der Jugendliche haben sich schon einmal selbst verletzt. Wie erwähnt, hört bei den allermeisten Betroffenen NSSV nach dem 20. Lebensjahr wieder auf. Insbesondere bei der Borderline-Störung (BPS) gehört NSSV jedoch zum zentralen klinischen Erscheinungsbild. Der Langzeitverlauf von NSSV bei der Borderline-Störung wurde von Zanarini und Mitarbeitern untersucht. Sie schlossen 290 BPS-Patientinnen und 72 Patientinnen mit einer anderen Persönlichkeitsstörung während einer stationären Behandlung ein und verfolgten diese beiden Gruppen über einen Zeitraum von zehn Jahren. Zu Beginn wiesen fast 90?% der BPS-Gruppe und ungefähr ein Viertel der Vergleichsgruppe repetitives NSSV mit mehreren Methoden auf. Nach zehn Jahren im natürlichen Verlauf war dieser Prozentsatz auf unter 13?% gesunken, lag jedoch immer noch höher als in der Vergleichsgruppe (2?%). |5|1.3 Differenzialdiagnose und Komorbidität
1.3.1 NSSV als normales Adoleszenten-Verhalten Schon aufgrund der hohen Prävalenzzahlen wird deutlich, dass es sich bei NSSV nicht immer um pathologisches Verhalten im engeren Sinn handeln muss; auch die starke Assoziation mit bestimmten Jugend-Subkulturen (z.?B. Emo, Goth) geht in diese Richtung. Die wenigen vorhandenen Daten zum Langzeitverlauf sprechen dafür, dass in den meisten Fällen dieses Verhalten spätestens zu Beginn der dritten Lebensdekade von selbst wieder aufhört. Eine bislang noch völlig ungeklärte Frage ist, in welchen Fällen NSSV persistiert und sich in Richtung einer weitergehenden Psychopathologie, z.?B. der BPS, entwickelt. Eine Rolle spielt hier sicher die Frequenz des Verhaltens, wobei repetitives Verhalten als Risikofaktor anzusehen ist, sowie schwierige familiäre Konstellationen und andere Verhaltensauffälligkeiten wie z.?B. Substanzgebrauch. 1.3.2 NSSV als klinische Diagnose Im DSM-5 wurde erstmals NSSV als Forschungsdiagnose aufgenommen (vgl. Kasten). Kriterien für Nichtsuizidale Selbstverletzungen nach DSM-51 (APA/Falkai et?al., 2018) Die Person hat sich im letzten Jahr an fünf oder mehr Tagen absichtlich selbst Schaden an der Körperoberfläche in einer Weise zugefügt, dass dies zu Blutungen,...