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E-Book, Deutsch, 308 Seiten

Schlosser Die Macht der Worte

Ideologien und Sprache im 19. Jahrhundert

E-Book, Deutsch, 308 Seiten

ISBN: 978-3-412-50679-7
Verlag: Böhlau
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection



Erneut begibt sich der renommierte Sprachforscher Horst Dieter Schlosser auf die Suche nach der Wirkmacht von Worten und Sprachbildern. Nach seinem Buch über die „Sprache unterm Hakenkreuz“ betrachtet er diesmal die wichtigen Leitbilder und Schlüsselbegriffe des 19. Jahrhunderts. Der große Einfluss von Sprache auf politische und gesellschaftliche Entwicklungsprozesse wird in historischen Analysen häufig unterschätzt. Hier setzt das neue Buch von Horst Dieter Schlosser an. Der Sprachforscher zeichnet an einer Vielzahl von konkreten Beispielen die verschiedenen Wirkmechanismen von Worten und Sprachbildern im 19. Jahrhundert nach. Von der unkritischen Vereinnahmung bis zur kritischen Reflexion, von identitätsstiftend bis rassenideologisch-abgrenzend, von „Einheit“ über „Nation“ und „Volk“ bis „Freiheit“: Schlossers Analyse schließt eine Lücke in der historisch-politischen Geschichtsschreibung und veranschaulicht, wie die bewusstseins- und realitätsbildende Macht der Worte sogar bis in die Gegenwart wirkt. Ein Buch für alle, die die Geschichte des 19. Jahrhunderts anders lesen, verstehen und reflektieren möchten.
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Einleitung Die Macht sprachlicher Symbole
Der Darstellung der Geschichte Deutschlands wie Europas, ja sogar der Welt im 19. Jahrhundert ist nach exzellenten Analysen gerade der jüngeren Zeit kaum noch etwas hinzuzufügen.1 Ob Fakten-, Sozial- oder Mentalitätsgeschichte: alles scheint gesagt zu sein. Und doch kommt dabei zumeist die Rolle der Sprache zu kurz. Gemeint ist nicht der Siegeszug des hochdeutschen Standards, der sogenannten Hochsprache, der sich zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und der Einigung auf verbindliche Normen einer deutschen Rechtschreibung um 1900 ereignet und der durchaus auch ein Politikum darstellt. Vielmehr erscheint häufig zu wenig beachtet, wie stark und manchmal sogar entscheidend ein bestimmter Sprachgebrauch auf die politische und soziale Entwicklung eingewirkt hat. Die Macht sprachlicher Symbole zeigt sich immer wieder, wenn durch sie das Bewusstsein ihrer Benutzer sogar bis hin zur Autosuggestion geprägt wird, wie man es noch im 20. Jahrhundert beim Zusammenbruch der beiden deutschen Diktaturen erfahren konnte: Je weiter sich die Realität von den einmal installierten ideologischen Deutungen entfernte, umso fester glaubten zumindest deren Hauptvertreter an die Überlegenheit ihrer Sprache über die Realität. Die sprachlichen Symbole von Leitbildern können also auch ein Eigenleben entfalten. Auch die Rangfolge einzelner Leitbilder kann sich verändern, wie es sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an der Dominanz von „Einheit“ gegenüber der Zielvorstellung von „Freiheit“ zeigen lässt. Selbst wenn die Politik ganz neue Leitbilder verfolgt, bleiben die zentralen sprachlichen Symbole davon vielfach unberührt. Ihr Charakter als (einstige) Schlüsselwörter wird dabei schlicht missbraucht – als rein sprachliche Fundamente für die Etablierung von Ideologien. Ob im Deutschen Bund, ob in den verschiedenen Reaktionen auf die Restauration, ob im Aufbruch der Arbeiterbewegung oder der Frauenbewegung, ob in der Überhitzung von Nationalismus und Antisemitismus: ohne die Selbstvergewisserung der Akteure und ohne ihre Vorstellungen von Zukunft, die sich primär in gemeinsamen oder differenten, gar antagonistischen sprachlichen Sym-[<<9] Seitenzahl der gedruckten Ausgabebolen dokumentieren, könnte die historische Entwicklung eigentlich nur als beliebige Folge von gedanken-, weil sprachlosen Aktionen erscheinen. Natürlich wird kein seriöser Historiker leugnen, wie sehr jeweils schon zeitgenössische sprachliche Urteile über die erfahrene Realität die Einschätzung der „objektiven“ Fakten geprägt haben, und er zieht daraus für seine nachträgliche Deutung oft genug Gewinn. Diese Funktion der Sprache kann im weitesten Sinn als deskriptiv, damit aber im Verhältnis zu den beschriebenen oder gedeuteten Sachen und Themen eher als nur sekundäre Kraft gesehen werden. Das gilt auch für die Fälle, in denen sich die Deutungen der Realität, ob schon zeitgenössisch oder erst in nachträglichen Interpretationen, auf bereits vorgegebene, traditionelle sprachliche Muster stützen. Doch schon dabei wird die eigentlich sekundäre Funktion der Sprache nicht selten zur primären Kraft einer Weltdeutung: Noch bevor die zu behandelnde Sache eine ihrer Spezifik angemessene sprachliche Definition erhalten kann, bestimmen vielfach tradierte Nominationen, die in ihrem Ursprung angemessen gewesen sein mögen, das Urteil auch über das Neue, indem sie – oft genug unbesehen, mitunter aber auch absichtsvoll – auf die Gegenwart übertragen werden. Der Übergang von der sekundären Funktion der Sprache zur primären Kraft, die realitätsbestimmend und sogar handlungsleitend sein kann, ist erst recht in all den Fällen erkennbar, wo es sich um eine wirklich neue Sprachgebung für ein bis dato noch unbekanntes oder unbeachtetes Phänomen handelt. Spätestens dann steht am Anfang nicht das sogenannte Faktum, sondern das Wort. Um diese abstrakten Überlegungen auf Themen des 19. Jahrhunderts zu beziehen, seien drei Beispiele aus einem eher politikfernen Bereich, dem der technischen Entwicklung, angeführt. In ihnen wird deutlich, dass Wörter einer Sachentwicklung eindeutig vorauseilen und ihr als entwicklungsleitende Perspektive dienen können: Telegraf, Telefon und Fernseher. Zwar gingen den beiden erstgenannten Innovationen technische Entwicklungen voraus, die diese Termini in ihrem sprachlichen Ursprung erklären: Als „Telegraph“ galt bereits Anfang des 19. Jahrhunderts ein optisches Übertragungssystem mittels Signalmasten, das zur schnelleren Übermittlung wichtiger Nachrichten unter anderem auch von Napoleon genutzt wurde. Als „Telephonium“ wurde eine akustische Übertragungstechnik bezeichnet, für die ein Franzose namens François Sudre 1828 eine eigene Musiksprache kreierte. Doch die in diesen Termini fixierte Idee, über sonst nur schwer zu überwindende Entfernungen hinweg in kürzester Zeit Informationen optisch bzw. akustisch zu übermitteln, wurde zum Kern eines [<<10]Leitbilds für eine bei Nutzung der Elektrizität rasant entwickelte neue Technik.2 Und auch den „Fernseher“ gab es als Wort, das in Analogie zum „Fernsprecher“ gebildet wurde, bereits Jahrzehnte, bevor eine elektronische Übermittlung bewegter Bilder technisch überhaupt erst möglich war. Was sich in diesen Fällen semantisch ereignete, lässt sich modellartig auch auf andere Gegenstände übertragen, nicht zuletzt auf die Ideen, durch welche die politischen und sozialen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts vorangetrieben wurden: Von vorgegebenen Nominationen für politische und gesellschaftliche Themen werden bestimmte semantische Facetten akzentuiert, die als Leitbilder für erst in der Zukunft erreichbare Realitäten etabliert werden, andere Facetten werden vernachlässigt oder gehen ganz unter. Insofern ist Ideengeschichte in ihrem Kern stets auch Sprachgeschichte; denn sprachlose Ideen sind im doppelten Wortsinn undenkbar. Wohl am einleuchtendsten ist die These vom Vorrang der Sprache vor jeder Realität bei Utopien, weil sie eine zunächst nur sprachlich vorgestellte zukünftige Wirklichkeit vorführen. Aufs engste damit verwandt, wenn nicht gar selbst im eigentlichen Sinne utopisch, sind alle politischen und sozialen Programme, deren Spezifikum es ja gerade ist, über eine wie auch immer angemessene Beschreibung von Ist-Zuständen hinaus Ziele in der Zukunft, also Soll-Zustände zu repräsentieren, die zunächst nur in Form sprachlicher Symbole existent sein können. Überflüssig zu sagen, dass auch politische Propaganda und kommerzielle Werbung vom Vertrauen in die Macht der Sprache leben. Trotz aller vorgängigen Realitätserfahrungen, die aber ebenfalls schon sprachlich, wenn auch meist noch unsicher und variantenreich, gefasst wurden, sind die politischen und sozialen Ideen des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunächst nur als sprachliche Symbole präsent. Sie kursieren in einem ersten Stadium häufig sogar nur als Schlagwörter und werden erst nach und nach mit jeweils eigenen pragmatischen Perspektiven verbunden und entwickeln sich so zu Schlüsselwörtern. Durch semantische Erweiterung oder Verengung entsteht dann oft eine ganze Bandbreite von Fahnen- und/oder Stigmawörtern. Trotzdem fungieren die einmal in Umlauf gesetzten Begriffe oftmals abseits ihrer pragmatisch-semantischen Differenzierung weiterhin als Schlagwörter, unter die sich vielerlei subsumieren lässt. [<<11] Als prominentes Beispiel kann der Begriff „Freiheit“ gelten. Zwar hatte dieser Begriff bereits eine lange philosophie-, auch religionsgeschichtliche Vorgeschichte, die für die politische Praxis in Deutschland aber erst in dem Moment relevant wurde, als man – via sprachlicher Kommunikation – von seiner außerdeutschen Wirkung, in der Amerikanischen und Französischen Revolution, erfuhr. Noch bevor man die konkrete, die politische und soziale Deutung des Begriffs in der außerdeutschen Praxis kannte, versammelten sich unter dem Schlagwort „Freiheit“ und seinem semantischen Ableger „liberal“ alle möglichen Vorstellungen einer erwünschten Abkehr von tradierten Ordnungen – von einer Selbstbefreiung des Individuums bis zum revolutionären Umsturz. Auch die „Restauration“ als mögliche Gegenkraft wurde ihren Vertretern so recht erst von dem Augenblick an bewusst, als sie mit der Bedrohung ihrer jahrhundertelang sakrosankten Position konfrontiert wurden. Erst in der Konkurrenz der Leitbilder und ihrer Schlüsselwörter entstand und wuchs – auf beiden Seiten – ein Rechtfertigungsdruck, der Berufungen auf sehr unterschiedliche Traditionen nötig machte: auf restaurativer Seite die Betonung vor allem eines althergebrachten „Gottesgnadentums“ der Herrschenden, das bisher unangefochten gegolten hatte, auf Seiten der Opposition die Behauptung einer schon in der Vergangenheit, gar in prähistorischen Zeiten gültigen Werteordnung, die dem aktuellen Herrschaftssystem entgegenzusetzen wäre. Es ist gewiss kein Zufall, dass das 19. Jahrhundert mit seinen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft ein Jahrhundert der „Bewegungen“, also kollektiver Bemühungen auf angestrebte Ziele hin wurde. Der Philosoph und Schriftsteller Ludolf Wienbarg sprach 1834 sogar vom „prophetischen Gefühl einer neubeginnenden Weltanschauung“. Das in der ersten Jahrhunderthälfte allmählich wachsende Selbstbewusstsein unterer Bevölkerungsschichten, insbesondere der lohnabhängigen Arbeiter, wurde zwar durch die außersprachlichen Erfahrungen von Unterdrückung und Ausbeutung zweifellos gefördert. Aber diese Erfahrungen hätten sich kaum mehr als in einem schon lange gepflegten Lamento artikulieren können, wenn diese...


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