Heraklitischer Fließtext
E-Book, Deutsch, 126 Seiten
ISBN: 978-3-939483-38-0
Verlag: Elsinor Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Gegen seine Vernunft, also willentlich wieder kehrtmachend, schlenderte er die Oranienburger zurück Richtung Synagoge. Sein Blick fiel auf das wohlgeformte Hinterteil einer sich zu einem Autofenster herunterbeugenden Hure, die, so dachte er sofort, nicht in diesen Wagen hineingehen würde, nicht passen würde, ihrer Länge wegen. Unsinn natürlich. Ich warte, hörte er die Frau in das Wageninnere hinein sagen, such Dir einen Parkplatz. Sich seiner Beute sicher fuhr der Fahrer behutsam an und bog mit seinem Gefährt majestätisch links ab. Die Frau stelzte zurück auf den Gehweg. Wie einfach das alles ist, im Grunde, dachte er. Unter einem Baugerüst stehend rauchte eine andere Hochbeinige eine Zigarette, auch sie, ohne ihn zu beachten. Ich kauf Dich mir, dachte er unwillkürlich, nicht im Sinne des Bezahlens einer Hurenleistung, eher dachte er ihren Gedanken, im gegenteiligen Sinne würde sie ihn kaufen, ihn sich kaufen können. Er ging an ihr vorbei, ohne sie anzusehen. Na, suchste Dein Auto, hörte er. War er gemeint, bin ich gemeint, dachte er, drehte sich um, ja, sie lächelte ihn an, sie hatte einen Satz hinter ihm hergesagt, leise, nicht einmal fragend, er musste nicht reagieren, er musste sich nicht umdrehen. Aber jetzt stand er vor ihr, sie sah herab auf ihn, lächelnd und rauchend. Kommen Sie mit, sagte sie, sie siezte ihn, lächelte ihn an, fragte nicht einmal, sondern forderte ihn ganz einfach auf. Er schüttelte den Kopf, zu ihr hinaufsehend, die die Stirn in Falten legte, an ihrer Zigarette zog und den Rauch über ihn hinwegblies, um ihn ziehen zu lassen. Sei nicht dumm, sagte er sich, geh. Er ging. Wortlos, matt lächelnd. An der nächsten Straßenecke bog er nach rechts ab, wie um sich zu retten, der Nächsten werde ich nicht widerstehen können, denke ich, dachte er, ich habe es auf die Spitze getrieben, in der Wiederholung, im Zurückgehen wurde ich zur Beute. Also, nein, ich verbiete mir das, dachte er, ich werde stattdessen an die Semper denken, an ihr Lächeln ebenso wie an ihre Beine, an die Semper muss ich denken, befahl er sich, kein anderer Gedanke darf sich Bahn brechen. Aus einem im Hochpaterre geöffneten Fenster war ein Telefon zu hören, kein altmodisches Klingeln wie bei seinem Apparat, sondern ein Gedödel, wie er sagen müsste, nervenzerreißend, allgegenwärtig, und wo fidelte und dödelte es nicht, heutigentags, aber es erinnerte ihn an seinen Anruf, denn natürlich konnte jetzt, in diesem Augenblick, sein Telefon in seiner Wohnung Laut geben, klingeln, aber er war nicht dort, man würde es noch einmal versuchen, später, am frühen Morgen vielleicht. Es war nicht der Rede wert, man tat nichts weiter, als sich an die Abmachung zu halten, sofort anzurufen, ohne Aufschub, meldete sich niemand, so probierte man es später noch einmal, bis sich jemand meldete, wovon man fest auszugehen hatte, denn ein Nichtüberbringen der Nachricht war gänzlich ausgeschlossen, wie man dort denken musste. Ich habe darauf bestanden, dachte er wieder, so schnell als möglich das Untersuchungsergebnis zu bekommen, nicht erst am Montag. Man soll mich nicht unnötig quälen, quälen Sie mich nicht unnötig, habe ich gesagt, mit heiserer und somit womöglich etwas gebrochen wirkender Stimme, rufen Sie mich sofort an, sagte ich, so bestimmt wie möglich. Sobald die Ergebnisse sicher sind! Ja, ich erinnere mich, dachte er jetzt, ich sagte es mit heiserer Stimme, die, so denke ich, letztlich die Veranlassung gab, meinem Wunsch zu entsprechen, sofort es mir mitzuteilen, nicht erst am Montag, denn am Montag bin ich tot vor Ungeduld, so hatte er es formuliert, erinnerte er sich, Montag sei es zu spät, das könne man ihm nicht antun. Die Vorhalle des Krankenhauses linker Hand war hell erleuchtet, einladend wie ein Hotel soll das wohl wirken, denke ich, tut es aber nicht, dachte er. Wie sollte es auch, man geht als Kranker hinein und kommt als Kranker wieder heraus, wenn nicht gar mit den Füßen zuerst. Ein Krankenhaus ist nicht einladend, auch dieses nicht, wenn es auch von der Straße aus heimelig und klein wirkt, wie dazugehörig zu einem Wohngebiet, wie es dieses ist, immer noch, trotz des um es herum herrschenden und in es eindringenden Tourismusverkehrs, der ein viertel-, ein kiezvernichtender Tourismus ist, wie es hier unten nicht einmal mehr beklagt wird. Kein Haus ohne Kneipe, Bar oder Restaurant, kaum Platz noch für Einheimische, denke ich, überall der Lärm großer Gruppen, die aus aller Herren Länder, wie man so sagt, über die Oranienburger Straße hereinbrechen. Kein Platz, als Einzelner hier ein Bier zu trinken oder etwas zu essen, aber der Appetit war ihm in der Oranienburger ohnehin vorerst vergangen, vielleicht auch wegen der Huren, die in den Büschen und auf den Parkplätzen an den Männern ihre Dienste verrichteten, gegen einen entsprechenden Obulus. Ich wüsste ja zu gerne, dachte er, wie hoch dieser Außentarif ist. Und wenn sie auf die Zimmer gehen mit den Männern, um gegen höheres Entgeld sich, mal trocken formuliert, oben auf zu hocken, das erigierte Glied des Mannes in ihnen, bis es zum Samenerguss kommt, dem Ende der Angelegenheit und dem Beginn, so denke ich, dachte er, sich als Mann sich seiner Handlungsweise zu schämen, oder wenigstens das verlorene Geld zu beklagen, während man mit einem hergereichten Papierhandtuch von seinem schon wieder schlaffen Glied das Kondom zieht, warm gefüllt mit dem Ejakulat, dem Samen, den mein Körper von sich schleuderte in einem unbedachten Moment, der nun aber in einem mit einer Mülltüte bewehrten Mülleimer landet. Wäre hier nicht einiges noch weiter zu verdienen, dachte er plötzlich, warum den noch frischen Samen nicht an eine hinter einem Vorhang sich ein Bild von dem Freier machenden Frau verkaufen, verhökern, die, warum und aus welchen Gründen auch immer, ihren Kinderwunsch nur mit Fremdsamen zu erfüllen bereit ist, aber ja, das wäre sicher eine denkbare, kaufmännisch fast einwandfreie Vorgehensweise. Der kleine Imbissladen, bis zum Bersten gefüllt mit Ausgehpublikum. Man aß schnell noch etwas. Einmal hatte die Semper ihm gegenüber ungefragt von einem heftigen Heißhungeranfall während einer durchtanzten Nacht berichtet. Man aß Pizza oder einen Döner, einen Falafel, was wusste er, sicher gab es inzwischen auch Dinge zu essen, die er nicht kannte, auch wenn ich ja kein alter Sack bin, dachte er, auch mit Mitte oder Ende vierzig ist man heutigentags kein alter Sack, kein gesetzter Herr, wie vielleicht noch in den Fünfziger oder Sechziger Jahren. Man kann und darf, ja muss noch jugendlich sein, ist man noch unter fünfzig. Ab fünfzig, so dachte er weiter, kann man es vielleicht ruhiger angehen lassen, dann jedenfalls, wenn man, aber da mache ich mir keine unnötigen Gedanken, Arbeit hat, befriedigende Arbeit, nicht die Art von Arbeit, die die meisten Menschen in den Industrieländern und auch sonstwo zu verrichten haben. Die Semper immerhin hat, trotz ihrer jungen Jahre, eine gute Arbeit, und eben weil sie Kranzler hinterherarbeiten muss und auch soll, hat sie jetzt schon den Einblick, den sonst niemand hat bei uns, dachte er, sie weiß mehr als die Krämer, die ja schon mehr weiß als ich, jedenfalls mehr über all das eigentlich Innerbetriebliche, der ich aber doch der in der Rangfolge Folgende bin, also Anwärter auf den Posten Kranzlers, wenn dieser ausscheiden sollte. Manchmal denke ich ja, dachte er plötzlich in einer Anwandlung, es könnte gut sein, Kranzler platzt eines Tages einfach, stinkendes und fettes Schwein, das er ist, oder er bricht durch alle Stockwerke hindurch hinunter zu Kübler, in die Hausmeisterwohnung, er kracht in den uralten, riesigen Hausmeisterfernseher, mit dem gemeinsam er dann in Flammen aufgehen wird. Und denke ich nicht jeden Morgen, überlegte er weiter, wo er schon einmal bei Kranzler war, eigentlich sollten auf den Toiletten Brechbecken installiert werden, denn der erste Gedanke an jedem Morgen ist ja der, kotzen zu müssen, den kranzlerschen Gestank nicht eine weitere Sekunde aushalten zu können, auch wenn man erst wenige Sekunden im Haus ist, welches zu betreten ihm als Vorstellung allein bereits beim Aufwachen ein erstes Würgen bescherte, das sich dann während des Frühstücks fortsetzte, um beim Zurarbeitfahren ein wenig nachzulassen, was sicher der positiven Auswirkung des sommerlichen Radfahrens geschuldet ist, während er in der kalten Jahreszeit morgens in der Tram oder der U- oder S-Bahn saß und mit seinem Brechreiz kämpfte, die erste Herausforderung des Tages. Doch gleichwie, das Unwohfühlen tritt jedenfalls unvermindert, dachte er, wenn nicht gar schon gesteigert wieder auf, biegt man nur in die Straße ein, in der unser Gebäude steht und in der es, je nach Windrichtung, bereits bedrohlich stinkt, wenn auch Kranzler noch nicht im Büro ist. Genau genommen war allen Mitarbeitern am Morgen also immer zum Kotzen zumute, sann er weiter, und wenn auch die einen sich im Laufe des...