E-Book, Deutsch, 94 Seiten
Schlier / Bremenkamp Ratgeber Stimmenhören und andere akustische Halluzinationen
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-8444-3076-9
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Informationen für Betroffene und Angehörige
E-Book, Deutsch, 94 Seiten
Reihe: Ratgeber zur Reihe Fortschritte der Psychotherapie
ISBN: 978-3-8444-3076-9
Verlag: Hogrefe Publishing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Ratgeber bietet hilfreiche Informationen über akustische Halluzinationen bzw. Stimmenhören. Zunächst wird dargestellt, welche Formen von Stimmenhören und anderen akustischen Halluzinationen es gibt, wie die Phänomene entstehen und wie sie sich über die Zeit hinweg entwickeln. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, ab wann und wodurch akustische Halluzinationen zu einem Problem werden können und wie Betroffene erkennen können, was ihre Halluzinationen zu einer Belastung macht.
Darauf aufbauend werden verschiedene Strategien zur Bewältigung belastender Halluzinationen vorgestellt. Ziel ist es, Betroffenen Methoden an die Hand zu geben, die sie kurzfristig bei einer akuten Belastung anwenden und mit deren Hilfe sie langfristig die Belastung durch Halluzinationen reduzieren können. Dazu werden u.a. Techniken aufgezeigt, die es ermöglichen, sich von belastenden Stimmen oder Halluzination zu distanzieren bzw. die eigene Aufmerksamkeit achtsam und konstruktiv auf sich selbst zu richten, anstatt auf die Halluzinationen. Zudem werden für den Umgang mit Stimmen Möglichkeiten beschrieben, den Stimmen selbstbewusst entgegenzutreten. Mithilfe von Übungen und Arbeitsblättern wird veranschaulicht, wie die verschiedenen Strategien zum Umgang mit belastenden Halluzinationen im Alltag umgesetzt werden können. Angehörige erhalten überdies Hinweise, wie sie Betroffene im Umgang mit akustischen Halluzinationen unterstützen können.
Zielgruppe
Betroffene, Angehörige, Psychotherapeut_innen, Psychiater_innen, Pflegekräfte, Sozialarbeiter_innen, Hausärzt_innen
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
Weitere Infos & Material
|23|2 Wie kommen Stimmen/Halluzinationen zustande und was führt dazu, dass sie bleiben und belastender werden?
Um zu verstehen, was man für einen besseren Umgang mit Stimmen/Halluzinationen tun kann, lohnt sich ein Blick darauf, wie Stimmen/Halluzinationen entstehen und was dazu führt, dass sie nicht von selbst wieder aufhören. Hierfür stellen wir Ihnen zunächst einige typische Risikofaktoren und Stressoren (erste Auslöser) vor, die dazu führen, dass Stimmen/Halluzinationen erstmalig zustande kommen. Um die Frage zu beantworten, warum Stimmen/Halluzinationen wieder und wieder kommen und nicht etwa von selbst wieder aufhören, stellen wir Ihnen zudem eine Reihe typischer Trigger vor. Das sind alltägliche Mini-Auslöser, die mehr oder minder direkt dazu führen, dass die Stimme anfängt zu sprechen oder eine Halluzination beginnt. Schließlich findet sich eine ganze Reihe sogenannter aufrechterhaltender Faktoren. Das sind Reaktionen im Denken und Handeln, die dazu führen, dass Stimmen/Halluzinationen stärker bzw. belastender werden. Die Grafik in Abbildung 5 veranschaulicht, wie Stimmen/Halluzinationen durch das Zusammenspiel all dieser Faktoren entstehen und aufrechterhalten werden. 2.1 Ursachen – Wie Stimmen/Halluzinationen entstehen
Die Forschung zu Stimmen/Halluzinationen hat inzwischen eine Reihe von allgemeinen Faktoren entdeckt, die dazu beitragen, dass eine Person anfängt Stimmen/Halluzinationen zu erleben. Auch hier stammen viele erste Erkenntnisse von Menschen mit einer Schizophrenie. Die meisten dieser Risikofaktoren und Auslöser finden sich in gewissem Maße aber auch bei anderen Menschen mit Stimmen/Halluzinationen. Auch bei denen, die keine psychische Störung und wenig belastende Stimmen/Halluzinationen haben. |24| 2.1.1 Risikofaktoren Unter Risikofaktoren (auch: Vulnerabilitätsfaktoren oder Verletzbarkeitsfaktoren) versteht man alles das, was langfristig die Chance erhöht, dass Sie irgendwann in Ihrem Leben anfangen, Stimmen zu hören. Von einigen dieser Faktoren haben Sie vielleicht schon einmal gehört. Die folgende Auflistung soll Ihnen einen Überblick über die gängigsten Risikofaktoren geben (Goldstone, Farhall & Ong, 2012): Genetische Faktoren: Es hat sich gezeigt, dass es bei Stimmen/Halluzinationen eine „familiäre Häufung“ gibt. Das heißt, die Neigung zu Stimmen/Halluzinationen ist teilweise erblich bedingt. Allerdings sollten Sie diese Aussage nicht zum Anlass nehmen zu denken, es gäbe das eine „Halluzinations-Gen“ und alle, die es haben, erleben zwangsläufig irgendwann Stimmen/Halluzinationen. Vielmehr haben genetische Studien eine größere Anzahl verschiedener Gene gefunden, die alle das Risiko für Halluzinationen ein Stück weit erhöhen und erst im Zusammenspiel von mehreren Genen relevant werden. Außerdem führt ein genetisches Risiko allein noch nicht zu Stimmen/Halluzinationen. Es ist vielmehr nur ein Grund|25|stein dafür, dass bestimmte Lebensereignisse und Erfahrungen leichter dazu führen können, dass Stimmen/Halluzinationen beginnen. Umweltfaktoren: Große Bevölkerungsstudien zeigen, dass Menschen, die Stimmen/Halluzinationen erleben, häufiger in Städten aufgewachsen sind. Ebenso erhöht sich das Risiko, wenn man als Kind in einer anderen Kultur aufgewachsen ist als die ursprüngliche Kultur der eigenen Eltern. Warum diese Faktoren das Risiko für Halluzinationen erhöhen, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Nach einigen Theorien ist der gemeinsame Nenner dieser Risikofaktoren eine erhöhte Gefahr für soziale Benachteiligung und das Erleben negativer Reaktionen durch das Umfeld: Nicht der Wohnort oder die Nachbarschaft an sich ist entscheidend, sondern die damit verbundenen Konflikte und Belastungen. Belastende Lebensereignisse und Traumata: Viele Menschen, die Stimmen/Halluzinationen erleben, waren in ihrer Kindheit oder Jugend vermehrt belastenden Umständen ausgesetzt. Befragungen von Menschen mit Stimmen/Halluzinationen nach ihrer Kindheit und Jugend haben ergeben, dass die große Mehrheit (über 80?%) relevante belastende Erfahrungen gemacht hat (Corstens & Longden, 2013). Das kann für den einen ein besonders strenges oder gar feindseliges Elternhaus gewesen sein, für die andere vielleicht ein Aufwachsen in einer gefühlskalten Familie. Wieder andere berichten von Mobbing in der Schulzeit. Auch Missbrauch in der Kindheit zählt zu diesen Risikofaktoren und wird zum Beispiel von etwa 3 von 10 Stimmenhörenden mit psychischen Problemen und 1 von 10 Stimmenhörenden ohne psychische Probleme berichtet (Goldstone et al., 2012). Einige Menschen können dabei den Beginn ihrer Stimmen/Halluzinationen direkt mit einem traumatischen Ereignis in Verbindung bringen. Bei einigen setzen Stimmen/Halluzinationen erst mit späteren Stressoren ein. Dennoch finden viele Stimmenhörende mit der Zeit Gemeinsamkeiten zwischen früheren belastenden Lebensereignissen und dem, was die Stimmen sagen, und über welche Themen sie sprechen. Phasen von Einsamkeit und Isolation: Nach einer Theorie zum Einfluss von Einsamkeit (Hoffman, 2007) gibt es in der Kindheit und Jugend bestimmte sensible Entwicklungsphasen, in denen Kontakt zu anderen Menschen besonders wichtig ist. Fehlt dieser Kontakt, versucht unser Gehirn dieses Fehlen auszugleichen. Der Mensch wird dann besonders empfindlich für Reize, die an einen Kontakt zu einer anderen Person erinnern. Als ein Nebeneffekt verlagern sich dabei selbst erdachte Kontakte oder innere gedankliche |26|Dialoge in der Wahrnehmung nach außen. Es entsteht ein „Phantom“-Interaktionspartner: Das heranwachsende Gehirn erschafft aus der Not heraus Stimmen, um das Bedürfnis nach Kommunikation und Gesellschaft zu stillen. Merke Es gibt zahlreiche mögliche Risikofaktoren, die die Chance erhöhen, irgendwann im Leben Stimmen/Halluzinationen zu erleben. Wir alle bringen eine mehr oder weniger starke Anfälligkeit oder Verletzbarkeit für das Erleben von Stimmen/Halluzinationen mit. Ihre eigene Anfälligkeit kann durch eine Reihe unterschiedlicher Faktoren oder wenige, sehr gewichtige Faktoren erhöht worden sein. 2.1.2 Das Gehirn feuert von selbst – Welche biologischen Abläufe stecken hinter den Stimmen/Halluzinationen? Die Frage, warum die beschriebenen Faktoren das Risiko für Stimmen/Halluzinationen erhöhen, wird häufig mit Blick auf Ergebnisse aus der Hirnforschung beantwortet. Hier gibt es verschiedene Erklärungsansätze für das Entstehen von Stimmen/Halluzinationen. Eine klassische Theorie aus der Forschung über Psychosen bezieht sich auf den Botenstoff Dopamin, der bei der Informationsweiterleitung im Gehirn beteiligt ist. Dopamin gibt im Gehirn Reize zwischen bestimmten Nervenzellen weiter. Ein Ungleichgewicht des Dopaminsystems wird mit einem Zustand von „Hypersalienz“ in Verbindung gebracht. Hypersalienz meint dabei eine übermäßige Aufmerksamkeit für nebensächliche, unzusammenhängende Dinge und die Tendenz, mehr Bedeutung in diese hineinzuinterpretieren. Diese Wahrnehmungsveränderung ist nach dieser Erklärung die Grundlage für Stimmen/Halluzinationen und andere psychotische Symptome. Diese Theorie ist weit verbreitet und erklärt unter anderem, warum bestimmte Medikamente Stimmen/Halluzinationen reduzieren. Dennoch ist bis heute noch vieles an dieser Theorie nicht ganz geklärt und wird kritisch diskutiert. Zum Beispiel, in welchen Teilbereichen des Gehirns das Dopaminungleichgewicht besonders relevant ist, welche Rolle andere Botenstoffe spielen und wie genau und wann das Ungleichgewicht entsteht. |27| Daneben zeigte die Hirnforschung bereits vor mehr als 30 Jahren anhand von bildgebenden Verfahren (umgangssprachlich: „Hirn-Scans“), dass bei Menschen mit Stimmen/Halluzinationen ein...