E-Book, Deutsch, 238 Seiten
Schley Verloren mein Vater
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-945944-02-8
Verlag: makrobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 238 Seiten
ISBN: 978-3-945944-02-8
Verlag: makrobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Mit «Verloren, mein Vater» legt Fridolin Schley seinen Debütroman vor: der Erzähler, Peter, Anfang zwanzig und Student der Medizin, blickt auf seine Familie - Schwester, Eltern und die Verwandtschaft -, um im Leben und in der Welt den richtigen Platz, die richtige Position für sich selbst zu finden. Auslöser für diese Neuorientierung ist das plötzliche und mysteriöse Verschwinden des Vaters: von einer seiner Dienstreisen als Photograph kehrt er nicht mehr nach Hause zurück. Niemand weiß, wo er steckt und warum er verschwunden ist. Nur eines steht fest: er lebt, denn in unregelmäßigen Abständen schickt er verschwommene, rätselhafte Photos an seinen Sohn. Schon bald wird Peter klar, daß er das Verhalten seines Vaters nur verstehen kann, indem er auch weiter zurück, in die vorhergehende Generationen blickt und nach Spuren sucht, die von der Vergangenheit in seine Gegenwart führen: auf einfühlsame Weise beschreibt er die Flucht seiner Großmutter und das Kennenlernen seiner Eltern, das schließlich zu seiner Existenz führte, die merkwürdigen Angewohnheiten seiner Schwester, seine eigene schwebende Liebesgeschichte mit seiner Cousine. All diese einzelnen Teile verbinden sich schließlich wie zufällig zu einem Ganzen, und am Ende ist der «junge Held» ein ganz anderer als der, der er am Anfang war.
Fridolin Schley, 1976 in München geboren, studierte Germanistik, Politik und Philosophie in München und Berlin sowie Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. 2012 erschien seine Dissertation er über W.G.Sebald. Heute ist Fridolin Schley Redaktionsleiter beim Literaturportal Bayern und weiterhin als Autor tätig. "Verloren, mein Vater" war Fridolin Schleys erste Romanveröffentlichung.
Autoren/Hrsg.
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ERSTES BUCH
1. Kapitel (Beerdigung)
Meine Schwester hat die seltsame Angewohnheit zu lachen, sobald etwas derartig spannend, traurig oder unfaßbar ist, daß es einer (körperlichen) Reaktion bedarf. Bedenkt man die Tatsache, daß diese Augenblicke oft alles andere als komisch sind, dann kann man sich die verblüfften Gesichter und Reaktionen derjenigen leicht vorstellen, die in solchen Situationen anwesend sind. So kommt ihr Freund einmal zu ihr, in der Absicht, die Beziehung zu beenden, und gesteht ihr unter Tränen die Liebe zu einer anderen Frau. Für meine Schwester bricht die Welt zusammen, doch sie weiß der blinden Panik nicht anders beizukommen, als in schallendes Gelächter auszubrechen. Freilich vergießt sie in den Folgetagen ein Meer an Tränen, doch in dieser Sekunde, mit dem weinenden, verlorenen Freund ihr gegenüber, kann sie einfach nicht aufhören zu lachen. Verstört verläßt der Mann ihre Wohnung und kehrt nicht wieder. Erst als sie sich im Spiegel lachen sieht, vor ihr ein verlassener Stuhl, über dem soeben noch eine Jacke hing, kommt meine Schwester zu sich und beginnt zu schreien. Der Tag, mit dem ich beginne, ist der Tag der Beerdigung meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters. Wir sind mit dem Auto gekommen, den ganzen Weg von München nach Essen. Mein Vater und ich wechseln uns am Steuer ab, meine Mutter sitzt auf dem Beifahrersitz und hat ununterbrochen Angst. Eigentlich wollte sie ja mit dem Zug fahren, doch diese Extrawurst brät bereits meine Schwester, die angeblich noch arbeiten muß und erst am nächsten Morgen, dem Morgen der Beerdigung, zu uns stoßen wird. Wir halten an einem Rastplatz, essen unsere Schinkenbrote und bestellen Orangensaft, Kakao für meine Mutter. Keine Ahnung, warum wir an diesem Morgen bereits um fünf Uhr starten mußten, doch mein Vater wollte es so, und keiner hat widersprochen. Als meine Schwester und ich noch Kinder waren, fuhren wir fast jedes Jahr zu Ostern nach Essen zu unserer Großmutter. Der Geruch im Haus?ur war immer der gleiche; Kinder ordnen die Umwelt mit Hilfe ihrer Nase; nicht die schlechteste Lösung, wie mir scheint. Essen ist grau und feucht, als wir gegen Mittag ankommen, und der Geruch im Haus?ur ist mir vertraut. Noch immer ist mir nicht klar, warum wir bereits jetzt, vierundzwanzig Stunden vor der Beerdigung, hier sind, und weil keiner weiß, was zu tun ist, gehe ich in die Küche und setze einen Topf mit Hühnersuppe auf. Ich schneide noch ein paar Wiener Würstchen dazu und fange an, meine Schwester zu beneiden. Langsam werde ich müde. Als Dessert serviert mein Vater Feigenlikör. Er hat ihn, auf der Suche nach einem weiteren Glas Würstchen, in der Speisekammer gefunden und erkennt darin denselben Feigenlikör, den er seiner Mutter vor über zwanzig Jahren geschenkt hat. Sie hat ihn niemals geöffnet; damals war ich noch nicht einmal geboren. Ich überlege kurz, aus welchem Grund man seiner Mutter wohl Feigenlikör schenkt, verzichte jedoch darauf, zu fragen. Meine Stimmung verbessert sich, was wohl vor allem dem Feigen likör und der Aussicht zu verdanken ist, später das Tennis?nale der French Open im Fernsehen verfolgen zu können. Nach dem Essen lege ich mich auf die Couch. Als ich wieder erwache, sind drei Stunden vergangen und das Tennisspiel ist gerade vorbei. Auf die Siegerehrung verzichte ich freiwillig. Allein meine Mutter hat sich keinen Mittagsschlaf gegönnt, hat statt dessen Bücher eingeräumt, Küche und Bad geputzt, Wäsche gewaschen und getrocknet. Mein Vater schlägt vor, sie solle die Nacht im Bett seiner toten Mutter verbringen. Abends machen wir noch einen Spaziergang, um ein Restaurant zu suchen, und ich erkenne einen Spielplatz wieder. Das erste Lokal gleicht einer Kneipe am Bahnhof von St. Pauli. Rosa Plastikstühle, Kellner in Hawaihemden und Musik, die so laut ist, daß wir uns in Zeichensprache darüber verständigen, zu gehen. Meine Mutter verbringt die Nacht im Bett ihrer toten Schwiegermutter, mein Vater in seinem alten Bett, ich daneben auf einer Gästeliege. Mein Vater war vierzehn Jahre alt, als sein Vater starb. Von meinem Großvater weiß ich: daß er ein angesehener Mann war, ein tüchtiger Arzt und Mitglied der NSDAP. Sein Beruf bewahrte ihn vor der Front. Er leitete während des Kriegs ein Lazarett, in?zierte sich mit Diph therie, was ihn zwar nicht das Leben, aber doch die fehlerfreie Funktion seiner Herzklappen kostete. Sechs Jahre nach dem Ende des Kriegs starb er und hinterließ seiner Frau einen guten Namen, einen kleinen Garagenhof und fünf Söhne, von denen mein Vater der jüngste ist. Meine Großmutter war eine sparsame Frau. Nach dem Tod ihres Mannes vermietete sie den Garagenhof, saß in einem kleinen Kaufmannsladen an der Kasse und p?ff auf den Bus, ging überall zu Fuß hin. Als sie genug Geld beisammen hatte, ließ sie sich ein Haus bauen, zog ins Erdgeschoß und vermietete die Wohnung im ersten Stock. Sie ließ die beiden Eheringe einschmelzen und sich einen Ring anfertigen, der aus zwei ineinander verschlungenen Schlangen besteht. Die letzten fünfundvierzig Jahre ihres Lebens verbrachte sie allein in ihrer Wohnung. Zwei Jahre vor ihrem Tod erlitt sie einen Schlaganfall und wurde in ein Altersheim eingeliefert. Mein Vater gibt im Schlaf lustige Geräusche von sich. Seine Lippen vibrieren wie bei einem Pferd. Ich liege da und kann nicht schlafen. Wieder nehme ich diesen Geruch wahr und frage mich, wo er herkommt und wie lange er schon existiert. Seit fast einem halben Jahr hundert, als der Fußboden noch frisch war und die Wände noch weiß. Als mein Vater noch ein Junge war und in eben diesem Bett lag und seine Lippen vibrieren ließ. Angst überkommt mich. Ich stehe auf und gehe aufs Klo. Ich stelle mir vor, wer schon alles auf dieser Schüssel saß. Mein Vater, als er jünger war, als ich es heute bin, meine Mutter, als sie mit mir schwanger war, mein Onkel Winnie, dreißig Jahre, bevor er an Krebs starb. Ich gehe ins Wohnzimmer und schalte den Fernseher ein. Im dritten Programm wiederholen sie das Tennis?nale aus Paris. Der eine schlägt auf, der andere returniert, der Linienrichter hebt den Arm, die Zuschauer klatschen, und ich denke: In hundert Jahren seid ihr alle tot. Wir fahren mit dem Auto zum Friedhof. Da stehen schon ein paar Leute, die wohl zu uns gehören, denn mein Vater stoppt den Wagen und versucht, den elektrischen Fensterheber zu betätigen. Erst bewegt sich die falsche Scheibe nach unten, dann wieder nach oben. Meine Mutter schlägt vor, erst einmal zu parken. Hinter uns hupt jemand, und mein Vater sagt Scheiße. Dann will er den Rückwärtsgang einlegen, vergißt aber, den Schaltknüppel herunterzudrücken. Der Motor heult auf. Die Leute auf der Straße haben uns inzwischen bemerkt, und mein Vater gibt ihnen seltsame Handzeichen. Hinter uns hat sich mittlerweile eine Schlange von ungefähr zwanzig Autos gebildet, als mein Vater zwar den Gang eingelegt hat, jedoch nicht bemerkt, daß der Motor abgestorben ist. Laura sitzt neben mir auf der Rückbank und grinst. Ich denke: 8.00 Uhr aufstehen, 9.30 Uhr Trauerrede, 10.00 Uhr Beerdigung, 11.00 Kaffee und Kuchen . . . und ein Satz aus einem Buch fällt mir ein: Wir machen aus dem Tod eine saubere Sache. Laura und ich sitzen in der zweiten Reihe, hinter unseren Eltern und Onkel Leo mit seiner Frau. Auf der anderen Seite des schmalen Ganges sehe ich die drei Gärtner-Brüder mit ihren Familien und meine Cousins und Cousinen, die ich seit zehn Jahren nicht gesehen habe (das letzte Mal am achtzigsten Geburtstag meiner Großmutter). Auch sie haben ihre Familien dabei, darunter Kleinkinder und Säuglinge, meine Neffen und Nichten zweiten Grades. Zum ersten Mal bin ich nicht das jüngste Mitglied der Familie, eine Stellung, mit der ich mich im Laufe der verschiedenen Familienfeste ganz gut an gefreundet hatte. Der Rest der Trauergemeinde besteht aus entfernten Verwandten und Bekannten, deren Namen und Gesichter ich nicht einordnen kann, die meisten scheinen über siebzig zu sein. Ich versuche, mich auf die Rede des Pfarrers zu konzentrieren. Er spricht von einer «einfachen Frau», den «kleinen Freuden im Leben», der «Liebe zur Natur» und dem «Vertrauen zu Gott und dem ewigen Leben». Meine Großmutter hat nie von Gott gesprochen, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie zu ihm Vertrauen hatte. Neben mir hat Laura angefangen zu weinen. Ich kann das Gesicht meines Vaters nicht sehen, dafür das von Onkel Leo und meiner Mutter, beide starren auf die Blumenkränze, ohne Tränen. Die monotone Stimme des Pfarrers lullt mich ein, und ich sehe meine Großmutter beim Bohnenschnippeln. Oder bei uns zu Hause, wie sie Laura und mir vorliest, den linken Zeige?nger auf den Zeilen, den rechten auf der Wange. Ein Schneidezahn war grau, und sie hatte einen braunen Fleck auf der einen Backe. Und wenn sie schläfrig wurde, zog sich ihre Oberlippe leicht zusammen und warf kleine Fältchen. Die Rede ist vorbei, und Orgelmusik setzt ein. Mein Vater steht als erster auf, und ich sehe, daß sein Stuhl naß ist. Eine Sekunde lang bin ich sicher, daß er in die Hose gemacht hat, doch die ist trocken, seine Augen sind feucht. Er und Onkel Leo gehen hinter dem Pfarrer und dem Mann, der die Urne trägt, dahinter ihre Frauen, dann Laura und ich. Der Pfarrer erzählt noch etwas von Asche und Staub, und ein Mann mit Handschuhen, der müde aussieht, stopft die Urne in das Loch im Rasen, als gelte es, mit einem riesigen...