Ein interdisziplinäres Praxisbuch: Pflege, Betreuung, Anleitung von Angehörigen
E-Book, Deutsch, 274 Seiten
ISBN: 978-3-17-041296-5
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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2 Demenz als Krankheit
2.1 Demenzen aus biomedizinischer Perspektive
Bei der Einordnung des Begriffs Demenz gilt es, zunächst eine allgemeine Begriffsbestimmung von der medizinischen zu unterscheiden. Auf allgemeiner Ebene bedeutet Demenz lateinisch übersetzt ›ohne Verstand‹ (Jahn & Werheid 2015; Falk 2015). Bereits diese (veraltete) Kennzeichnung ist nicht unproblematisch, können doch den von Demenz betroffenen Menschen nicht zwangsläufig Unverstand unterstellt werden. 2.1.1 Medizinische Einordnung des Begriffs Demenz
Demenzen zählen aus biomedizinischer Sicht zu den häufigsten neuropsychiatrischen Erkrankungen des höheren Lebensalters. Das Risiko, an einer Demenz zu erkranken, steigt mit dem Lebensalter exponentiell an. In der Medizin wird somit das Lebensalter als der größte Risikofaktor für Demenz angesehen, weil im Alter generell die Wahrscheinlichkeit zu erkranken steigt und zugleich die Widerstandsfähigkeit des Gehirns sinkt (Karakaya et al. 2014; Fellgiebel 2013). Allgemein formuliert handelt es sich bei Demenz nach Förstl & Lang (2011, S. 4) um einen »schwerwiegenden Verlust der geistigen Leistungsfähigkeit aufgrund einer ausgeprägten und lang andauernden Funktionsstörung des Gehirns.« Die aktuellen Definitionen der Medizin zum Begriff der Demenz basieren auf den medizinischen Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV (bald: 51). Gedächtnisstörung als Leitsymptom Bei der Erfassung des Begriffs Demenz ist zunächst deren allgemeine Bedeutung als Sammelbegriff von den spezifischen Formen der Demenz zu unterscheiden. Demenz als Sammelbegriff bezeichnet ein Syndrom einer mnestischen bzw. Gedächtnisstörung, wenn auch nicht alle Formen der Demenz dieses Leitkriterium als kleinsten gemeinsamen Nenner aufweisen. Formen von Demenz sind auf unterschiedliche Ursachen (Krankheiten) zurückzuführen und unterscheiden sich damit in ihrem Erscheinungsbild, in ihrem Verlauf und anhand ihrer zeitlichen Perspektive. Aber auch die medizinischen Definitionen der oben erwähnten Klassifikationen sind uneinheitlich (Förstl & Lang 2011; Jahn & Werheid 2015). Bei aller Unterschiedlichkeit in der medizinischen Terminologie können die folgenden Grundgemeinsamkeiten festgehalten werden: Demnach handelt es sich bei Demenz um ein psychopathologisches Syndrom. Die hierbei auftretenden krankhaften Veränderungen sind eine erworbene Störung von Gedächtnisfunktionen, was bedeutet, dass die Gedächtnisfunktion der davon betroffenen Menschen zuvor auf einem höheren Niveau lag. Kognitive Störungen Die Verwendung der Diagnose Demenz fordert aus medizinischer Sicht (ICD) mindestens noch eine weitere kognitive Einbuße in den Bereichen Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache und Urteilsvermögen (DGPPN & DGN 2009). Das DSM-IV-TR enthält demgegenüber die folgenden mit einer Demenzdiagnose verbundenen kognitiven Störungen: Aphasie, Apraxie, Agnosie und Störung der Exekutivfunktionen (Planen, Organisieren, Einhalten einer Reihenfolge, Abstrahieren) (Jahn & Werheid 2015). Allein die Kombination dieser möglichen Symptome verdeutlicht, dass es sich bei der Demenz um ein komplexes Krankheitsbild handelt. Doch die medizinische Terminologie differenziert weiter, dass mit den zuvor bezeichneten Symptomen Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens und der Motivation des davon betroffenen Menschen einhergehen können. Verlauf der Demenzen Die ICD fordert für die Verwendung des Begriffs Demenz zudem eine Mindestdauer der Symptome von einem halben Jahr. Je nach der zugrundeliegenden Ursache der Demenz verlaufen diese kognitiven Beeinträchtigungen progredient (sich fortlaufend entwickelnd), gleichbleibend, treppenförmig, schwankend oder reversibel. Das bedeutet, dass seltenere Demenzformen durchaus heilbar sind, wohingegen der größte Teil der Demenzformen chronisch fortschreitender Natur und damit nicht heilbar ist. Bei der Diagnose Demenz muss aber auszuschließen sein, dass es sich um ein Delir oder eine Depression handelt, die mit ähnlichen Krankheitszeichen einhergehen und daher leicht mit einer Demenz verwechselt werden können. Ausgeschlossen werden muss auch ein vorübergehender Verwirrtheitszustand und eine rasch einsetzende Bewusstseinstrübung (Förstl & Lang 2011). Die genaue Diagnose unter Ausschluss anderer Krankheitsbilder mit ähnlicher oder identischer Klinik ist für die Wahl des geeigneten therapeutischen Ansatzes wesentlich. Schließlich schlagen sich die mit der Demenz einhergehenden Veränderungen in einer verringerten Alltagskompetenz nieder. Diese können soziale und berufliche Beeinträchtigungen und Selbstpflegedefizite in der Selbstversorgung wie der Körperpflege, dem Kleiden oder dem Essen und Trinken umfassen (Jahn & Werheid 2015; Förstl & Lang 2011). Verhaltensauffälligkeiten bzw. BPSD Bei etwa 80 % der Menschen mit Demenz kommt es im Verlauf ihrer Krankheit neben den kognitiven Beeinträchtigungen zu weiteren nicht-kognitiven Veränderungen ihres Erlebens und Verhaltens. Dazu zählen Symptome wie »vermehrte Angst und Depressivität, hyperaktives Verhalten (Agitation, Aggressivität, Enthemmung, psychomotorische Unruhe), Apathie oder psychotische Symptome« (Karakaya et al. 2014, S. 319). Diese nicht-kognitiven Veränderungen werden als psychische und Verhaltenssymptome oder Verhaltensauffälligkeiten bezeichnet (im Englischen ›behavioral and psychological symptoms of dementia‹ oder BPSD).Vor allem sie führen zu Herausforderungen und Problemen in der Versorgung bzw. Betreuung, die sich pflegenden Angehörigen und Fachpersonen stellen (Karakaya et al. 2014; Schuler & Oster 2008). Karakaya et al. (2014) weisen darauf hin, dass diese Verhaltensveränderungen Ausdruck einer Reaktion der Menschen mit Demenz auf eine Umgebungsveränderung oder neu auftretende körperliche Veränderungen wie Schmerzen sein kann. Folgende Schweregrade eines Demenzsyndroms werden unterschieden: Tab. 2.1: Schweregrade der Demenz (modifiziert nach Lang & Förstl 2011, S. 7) Bevor der Demenzbegriff weiter aufgeschlüsselt wird, wird zunächst auf eine der Krankheit vorausgehende Vorstufe Bezug genommen. 2.1.2 Die leichte kognitive Störung bzw. Mild Cognitive Impairment (MCI)
Vorstufe von Demenz In dem Versuch, zwischen normaler, altersbezogener und krankhafter Vergesslichkeit zu unterscheiden und damit eine Grenzziehung zwischen gesund und krank vorzunehmen, sind Konzepte wie ›leichte kognitive Störung‹ bzw. ›mild cognitive Impairment‹ gebildet worden (Jahn & Werheid 2015). Wo bereits Fortschritte in der Erkennung von Vorzeichen einer Demenz erzielt wurden, wird einem solchen prädemenziellen Stadium insofern besondere Aufmerksamkeit zuteil, weil sich die medizinische Forschung in Zukunft damit einen Interventionsansatz zur Vermeidung einer Demenz verspricht (Wallesch & Förstl 2012). Die Gedächtnisdefizite zeigen hierbei eine unter der Altersnorm liegende Leistung, wobei Betroffene jedoch nicht dement sind und keine Beeinträchtigung in ihren normalen Alltagsaktivitäten erfahren. Es zeigen sich Probleme im Bereich des Kurzzeitgedächtnisses, der Auffassung und der Aufmerksamkeit (Zaudig 2011; Jahn & Werheid 2015; Wallesch & Förstl 2012). Die leichte kognitive Störung kann einerseits als »Vorläuferstadium einer sich später entwickelnden Demenz« oder andererseits als eine »gutartige, sich nicht weiter verschlechternde Altersvergesslichkeit« angesehen werden (Zaudig 2011, S. 26); sie gilt auch als (größter) Risikofaktor für Demenz (Hagg-Grün 2013; Karakaya et al. 2014; Wallesch & Förstl 2012). 2.1.3 Demenzformen: Ätiologien – Symptome – Krankheitsverläufe
Mit dem Sammelbegriff Demenz ist lediglich das Demenzsyndrom ohne spezifische Ursache beschrieben. Demenzen werden aber von recht unterschiedlichen Ursachen (Ätiologien) hervorgerufen. Diese können sein: • neurodegenerative Veränderungen, wie z. B. Alzheimer-Demenz, Parkinson, • vaskuläre Krankheitsprozesse, wie z. B. Multi-Infarkt-Demenz, • ernährungsbedingte Mangelerscheinungen, wie z. B. Vitamin-B1- oder Vitamin-B12-Mangel, Folsäuremangel, • internistische Erkrankungen, wie z. B....