E-Book, Deutsch, 237 Seiten
Scherwath / Friedrich Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung
5. überarbeitete Auflage 2025
ISBN: 978-3-497-61958-0
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 237 Seiten
ISBN: 978-3-497-61958-0
Verlag: Ernst Reinhardt Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Thema "Traumatisierung" gehört in vielen sozialen und pädagogischen Arbeitsfeldern untrennbar zum Alltag. Nicht immer besteht dabei ausreichend Handlungssicherheit. Dieses Überblickswerk zeigt, wie pädagogische Fachkräfte stabilisierend und ressourcenorientiert mit traumatisierten Menschen arbeiten können.
Erkenntnisse aus Trauma-, Hirn- und Bindungsforschung machen die Entstehung von Traumafolgen verständlich - sowohl nach Extremsituationen wie Gewalterfahrungen oder Flucht, als auch bei anhaltenden Bindungs- oder Entwicklungstraumatisierungen.
Neben Symptomen, Risiko- und Schutzfaktoren, Handlungsleitlinien, Methoden und konkreten Verhaltenstipps behandelt das Buch auch das Thema Selbstschutz für Helfende.
Zielgruppe
PädagogInnen und SozialpädagogInnen
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Inhalt
Vorwort zur 5. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
1 Was ist ein Trauma? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
1.1 Psychobiologische Reaktionen auf ein Trauma . . . . . . . . 23
Die traumatische Zange. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Traumatisierung aus der Perspektive des
Nervensystems. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
1.2 Symptombildung als Traumafolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Posttraumatische Belastungsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . 30
Entwicklungsverzögerungen
als Folge traumatischer Erschütterungen. . . . . . . . . . . . . 41
Instabile Bindungsentwicklung
als traumabasierte Folgeerscheinungen. . . . . . . . . . . . . . . 45
Schuld- und Schamgefühle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
Dissoziative Phänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
1.3 Traumaspezifisches Symptomverstehen . . . . . . . . . . . . . . 51
1.4 Biografische Erkundungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Traumatische Situationsfaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Diskriminierungserfahrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
1.5 Risiko- und Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Risikofaktoren und Vulnerabilitäten. . . . . . . . . . . . . . . . . 60
Schutzfaktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
2 Leitlinien traumabezogener Interventionen
im sozialpädagogischen Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
2.1 "Erst verstehen - dann handeln" (P. Moor) . . . . . . . . . . . 71
Das Konzept des guten Grundes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Traumapädagogische Navigation
in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. . . . . . . . . . . . . . . 80
2.2 Safety First - pädagogische Orte als sichere Orte . . . . . . 81
2.3 Die Fachkraft als sicherer Hafen -
Bindungsorientierung in der Traumapädagogik . . . . . . . 95
Die Pädagogin als primäre Bindungsperson
und fürsorgliches Introjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Personale Kompetenzen und Voraussetzungen
für bindungsorientierte Pädagogik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
2.4 Stabilisierung und Ressourcenorientierung . . . . . . . . . . . 108
Konsequente Ressourcenorientierung in der Praxis. . . . 110
Pädagogische Schatzsuche auf der Insel der
Persönlichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112
Die Schatzkarte des pädagogischen Alltags. . . . . . . . . . . 120
2.5 Arbeit mit dem Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
Psychoedukation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134
Enttabuisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Traumasensible Biografiearbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
2.6 Das multidimensionale Selbst -
Ego-States und Innere Teams . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
Es ist normal, verschieden zu sein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Traumapädagogische Ego-State-Arbeit . . . . . . . . . . . . . . 154
2.7 Traumabasierte Störungen der Affekt- und
Impulskontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
Präventive Entschärfungsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . 162
Stressbarometer / Stressskala. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
Katastrophenschutz - Strategien zur Distanzierung
und Selbstberuhigung . . . . . . . . . . .
1Was ist ein Trauma?
Nicht nur in der gegenwärtigen Fachsprache der Pädagogik und Psychologie ist Trauma ein zunehmend häufig verwendeter Begriff. Auch alltagssprachlich wird er oft inflationär genutzt. Sätze wie „Das Fussballspiel gestern war voll das Trauma!“ oder „Unser letzter Urlaub war wirklich traumatisch!“ werden zum Ausdruck gebracht, um dem Gegenüber die Dramatik oder Schwere einer Situation zu verdeutlichen. Hierbei handelt es sich jedoch normalerweise um Situationen, die vom Erzählenden zwar als besonders konflikthaft, ärgerlich oder belastend wahrgenommen wurden, jedoch weder im Ereignis noch in seinen Folgen dem fachlichen Verständnis des Traumabegriffs entsprechen. Problematisch bei dieser umgangssprachlichen Begriffsverwendung ist gerade aus Sicht traumatisierter Menschen die Bagatellisierung dessen, was in ihrem eigenen Leben in höchstem Maße zu Zerrüttung mit häufig langfristigen bis lebenslangen Folgen geführt hat. Ursprünglich kommt der Traumabegriff aus dem Altgriechischen und bedeutet Verletzung oder Wunde. Während sich diese Verwundung im medizinischen Feld zunächst auf eine Schädigung des Körpers bezieht, bezeichnet sie in der Psychologie die Verletzung der menschlichen Psyche, das sogenannte Psychotrauma. Im klinischen Kontext wird das Traumaverständnis aktuell durch die ICD 10/ICD 11 (Internationale Klassifikation von Erkrankungen der WHO) und das DSM-5 (US-amerikanisches – international genutztes – diagnostisches Handbuch für psychische Krankheiten) geprägt. In der bisher gültigen 10. Revision der ICD wurde ein Trauma beschrieben als „belastendes Ereignis von außergewöhnlicher Bedrohung oder mit katastrophalem Ausmaß, das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde“. Die am 01.01.2022 eingeführte 11. Überarbeitung der ICD 11 (WHO, 2021) definiert ein Trauma kurz gefasst als ein „extrem bedrohliches oder schreckliches Ereignis“. Dabei kann es sich sowohl um ein einzelnes Ereignis, als auch um eine Abfolge von Ereignissen handeln (DIMDI, zit. n. Knefel 2021). In der im Mai 2019 verabschiedeteten 5. Auflage des DSM (DSM-5)wird ein Trauma gekennzeichnet als: „eine Konfrontation mit tatsächlichem oder drohendem Tod, ernsthafter Verletzung oder sexueller Gewalt auf eine (oder mehrere) Arten“. Diese Arten werden im DSM-5 dann nachfolgend detailliert aufgeführt (American Psychiatric Association, zit. n. Knefel 2021). Diesen Definitionen gemein ist, dass das Traumaverständnis vorrangig auf das Ereignis bezogen wird, während die Begriffsbestimmung des Traumas als Wunde ursprünglich deutlicher auf die Bedeutung und Folgen für die Betroffenen hinweist. In der modernen Trauma-Literatur werden diese der Diagnostik zugrunde gelegten Definitionen zwar oftmals als leitend aufgegriffen, gleichfalls jedoch, entlang aktueller Forschungen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychotraumatologie, von FachexpertInnen erweitert und modifiziert betrachtet. Ein besonderes Anliegen der erweiterten Definitionen ist es, dem subjektiven Erleben des Menschen in der Konfrontation mit traumatischen Erfahrungen eine höhere Bedeutung zu schenken. Im Vordergrund steht die Frage, wie jemand das Geschehen subjektiv erlebt hat, und nicht ausschließlich der Aspekt, womit jemand konfrontiert war. Die folgende Erläuterung von Fischer und Riedesser in ihrem Lehrbuch der Psychotraumatologie greift diese Konnotation stellvertretend gut auf. Sie beschreiben Trauma als ein „vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt“ (Fischer/Riedesser 2020, 88). Eine traumatische Erfahrung ist demnach – im Gegensatz zu belastenden Ereignissen – dadurch gekennzeichnet, dass Menschen keine Möglichkeiten haben, diese aus eigener Kraft zu lösen. Ihre individuellen Fähigkeiten reichen zur Bewältigung nicht aus. In diesem Zustand der eigenen Macht- und Hilflosigkeit sind Betroffene auf Schutz und Unterstützung angewiesen. Steht dies nicht zur Verfügung, erlebt der Mensch sich als „verloren“, was Fischer und Riedesser als „schutzlose Preisgabe“ (Fischer/Riedesser 2020, 88) bezeichnen. Die Situation ist somit in alle Richtungen auswegslos. Kennzeichnend für traumatische Erfahrungen ist somit ein vollständiger Zusammenbruch des eigenen Sicherheitsgefühls, verbunden mit überwältigender Angst und existenziellem Bedrohungsempfinden, ausgelöst durch: Fassungslosigkeit: Die Dimension des Erlebten übersteigt die Fähigkeit der Einordnung: Was passiert da? Warum passiert das? Die Geschehnisse sind unvorstellbar/unfassbar. Schutzlosigkeit: Es ist niemand da, der:die bewahren, schützen, beruhigen, sichern, retten kann. Ich bin menschenseelenallein. Ohnmacht: Die eigenen Handlungskompetenzen sind überschritten. Es gibt keine Möglichkeit, wirksam zu handeln, um für Sicherheit zu sorgen. Ich bin ausgeliefert. „Traumata sind ihrem Wesen nach unerträglich.“ (van der Kolk 2024, 10) Mit diesen Worten beschreibt Bessel van der Kolk, einer der führenden Traumaforscher, diese spezifische Dimension der Erfahrung. Welche Ereignisse, Situationen, Erfahrungen und Empfindungen in diesem Sinne als „unerträglich“ empfunden werden und wann traumatischer Stress ausgelöst wird, kann nicht eindeutig bestimmt werden. Wie ein Mensch erlebt, was auf ihn einwirkt, was in seinem Körper passiert und wie das Erlebte im Nachhinein verarbeitet wird, bleibt subjektiv. Entsprechend sind Traumatisierungen und ihre Folgen zwar konzeptionell beschreibbar. In der pädagogischen und sozialpädagogischen Arbeit ist es jedoch entscheidend, sich über die fachspezifischen Kategorien hinaus immer für die Selbstsicht, die autobiografischen Erzählungen und die Symptomsprache des einzelnen Menschen zu interessieren (?Kap. 2.1). Diesem Buch liegt entsprechend ein erweitertes Traumaverständnis zugrunde, das über die klinisch-diagnostische Deskription hinausgeht. Die folgende Devise des kanadischen Arztes und Traumaexperten Gabor Maté leitet uns in unseren Ausführungen und unserem fachlichen Verständnis, wenn es darum geht, Menschen mit einem traumasensiblen Blick zu begegnen: „Trauma is not what happens to you, but what happens inside you“ (Maté 2021). 1.1Psychobiologische Reaktionen auf ein Trauma
Insbesondere die Neurowissenschaften haben seit den 1990er Jahren viel dazu beigetragen, dass die Facette des „inside you“ im obigen Zitat von Maté heute weitreichender und vor allem ganzheitlicher verstanden werden kann. Entlang der These, dass das menschliche Gehirn im Wesentlichen erfahrungsabhängig geprägt wird, wurden seitdem vielfältige forschungsbasierte Annahmen dazu formuliert, was unter traumatischen Bedingungen in Gehirn und Körper geschieht, und wie sich entsprechend traumabasierte Folgesymptomatiken erklären lassen. Die traumatische Zange
Um die spezifische Dynamik, die traumatischem Erleben und seinen Folgen zugrunde liegt, fassbar zu machen, wird als Erklärungsmodell häufig die traumatische Zange genutzt. Sie veranschaulicht diejenigen Prozesse, die ablaufen, wenn die Handlungskompetenzen und Verarbeitungsfähigkeiten, die einem Menschen üblicherweise zur Verfügung stehen, an ihre Grenzen geraten. Grundsätzlich steht für derartige Situationen allen Menschen ein genetisch determiniertes Notfallprogramm zur Verfügung. Dieses wird unwillkürlich aktiviert, wenn das Gehirn einen Umstand als stark verunsichernd, hochgradig beängstigend oder existenziell bedrohlich einstuft. Nimmt das Gehirn – seiner Interpretation nach – derartige Gefahrensignale wahr, führt dies „zur Ausschüttung starker Stresshormone, unter anderem von Kortisol und Adrenalin, was den Herzschlag beschleunigt, den Blutdruck erhöht und die Atemfrequenz ansteigen lässt – erforderliche physiologische Vorbereitungen auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion“ (van der Kolk 2024, 98). Das Stress- und Nervensystem wird also aktiviert. Gleichermaßen werden Funktionen der Großhirnrinde (Frontalhirn, Sprachzentrum, Hippocampus), die normalerweise unser Denken und Handeln steuern und ordnen, in ihrer Funktionalität stark eingeschränkt oder außer Betrieb gesetzt. Energie und Fokus des Organismus sind zunächst ausgerichtet auf die Aktivierung der archaisch angelegten Überlebensprogramme: Flüchten – der Situation entkommen oder Kämpfen – die Gefahr aus eigener Kraft heraus durch Gegenwehr abwenden. Gelingt dies und kann dadurch zur Bewältigung der Situation beigetragen werden, so wird im Normalfall eine Traumatisierung...