Scharbert | Für Anna. Eine Belichtung | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

Scharbert Für Anna. Eine Belichtung


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-942375-83-2
Verlag: edition AZUR
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 180 Seiten

ISBN: 978-3-942375-83-2
Verlag: edition AZUR
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Anna Atkins, geboren 1799 im englischen Tonbridge, gestorben 1871 in Halstead, gilt heute als eine der ersten Fotografinnen. Mit ihrer unermüdlichen Arbeit leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Wissenschaft des viktorianischen Zeitalters — und wurde doch kaum wahrgenommen. Zu einer Zeit, in der Erinnerung, Dokumentation und Bebilderung fast ausschließlich der Malerei und Illustration vorbehalten waren, widmete sie sich einem einfachen manuellen Verfahren, das mit Hilfe von bloßem Licht und UV-empfindlich beschichtetem Papier neue Möglichkeiten der Abbildung schuf. Die so entstandenen Cyanotypien gelten heute als Vorläufer der späteren Fotografie.
In ihrem dritten Prosatext nach "du, alice" (2019) und "Rosa in Grau" (2022) verfolgt Simone Scharbert ihr Projekt des Sichtbarmachens weiblicher Biografien weiter. Sie erzählt, wie Anna Atkins gegen viele Widerstände ihre fotografischen und wissenschaftliche Arbeiten vorantrieb, im Gepäck all die Verluste ihres Lebens, Fragen der Erinnerung und der Belichtung. Leise eingestreut sind kleine Einblicke in botanische sowie koloniale Geschichte des viktorianischen Zeitalters.

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// Sieben Jahre ist sie alt, als sie das erste Mal danach fragt. Dieses eine Wort aus den Höhlen ihres kleinen Körpers hinauf in den Mund, dann ins Licht schiebt. Warm und weich fühlt es sich an, traurig auch. Sie hängt ein Fragezeichen ans Wort. Einfach so, eine Erwartung. Vater sieht es genau, nickt. Sagt aber nichts. Nimmt ihr das Wort aus dem Mund und streicht darüber. Zart. Hält es wie ein frisch geschlüpftes Küken in der Hand. In beiden Händen. Lange hat er es nicht gehört. Ihm ist, als würde das Wort atmen. Mum? Ihr Zögern. Erzählst du mir von ihr? Von Mum. Über Mum. Ihr Insistieren, sein Nicken. Vater blickt Anna an. Sieht seine Tochter, sein einziges Kind. Wie sie da sitzt. Klein, schmächtig. Das Haar widerspenstig, schwarz gelockt. Ihr Blick neugierig und klar. Unerschrocken. Sie wartet, ihr Warten tickt stumm mit der Zeit. Vater weiß, dass Anna hartnäckig ist. Sitzen bleiben wird, bis sich aus seinem Gedankendunkel etwas Greifbares, eine Kontur abzeichnet. Ein Bild, endlich. An dem sie sich festhalten kann. Das ihr Gewissheit gibt, eine Lücke schließt. Lange hat er gewartet. Vielleicht zu lange. So viel, das vergangen, verloren, verschwunden ist. In ihm. Und doch immer wieder anklopft, sich bemerkbar macht, als wohnte es in den entlegensten Winkeln seines Brustkorbs. Als wollte es nun endlich ans Licht. Vater aber spricht nicht darüber, schweigt immer wieder in sich hinein, an Anna vorbei. Diesmal aber ist es anders. Anna sieht Vater, wie er den Stuhl nach hinten schiebt, die Schöße seines Anzugs im Rücken geradezieht, Haltung wahren, eine Haltung haben, egal, was passiert, er kann nicht anders, eingeschrieben ist es ihm, während er Anna nicht aus den Augen lässt. Gegenseitig halten sie sich. Die kurze Strecke, bis er bei ihr ist. Die lange Zeit, die sie schon allein sind. Komm, Anna. Steh auf. Seine Stimme. Wie warme Milch. Ich will dir etwas zeigen. Vor dem Fenster, überhaupt draußen, findet sich Licht ein. Strahlt, überlagert alles. Vater reicht Anna die Hand. Ihr Blick weiter unverrückt, ernst. Ihr Abwarten. Er sieht es genau. Sieht es, als sie ihm die Hand gibt. Sieht es, als sie vom Stuhl rutscht, mit ihrem kleinen Körper. Sieht es an ihren Kleiderschichten. All diese Stoffberge, die ihm ein Rätsel sind. Schon immer waren. Aber sie fügen sich. Alle und alles. Der Stoff, die Zeit. Er. Und Anna. Er sieht all das, als sie an seiner Seite geht. Zwei kleine Schritte in einem großen: Annas Zwischenklang. Sohlensingsang. Weiter hält er Anna an der Hand, versucht seine Schritte klein zu halten, im Takt zu bleiben, in ihrem Takt, vorbei an Wandgemälden, Wandtapeten, Wandgestecken, an Porträts aus einer anderen Zeit, in Öl, in Farbe, in vielen Pinselstrichen, schwer, dekorativ. Ihm ist das alles zu viel. Menschen, an die er sich kaum erinnern kann, Menschen, die er nicht gekannt hat. Und weiter treibt es ihn. Vorbei an Floralem, an Dekor, an Stuck. Hier und da ein Aufschimmern. Als gäbe es sie noch. Hester. In ihm. Vor ihm. Als säße sie hier im Raum oder stünde gleich in der Tür. Würde seinen Namen sagen. Oder Annas. Ihn ansehen. Unverwandt. Vielleicht hätte sie Anna auf dem Arm. Wie zu Beginn. Die wenigen Wochen und Monate. Als sie Anna noch halten, sie wiegen konnte. Vielleicht. Sein Körper randvoll: mit all den Bildern, Erinnerungsfetzen. Ihre Schreie, ihr Blut, ihre Blässe. Ihr Weißwerden, dann: ihr Auflösen. Im Bett, ihr Unsichtbarwerden. Und Vater ohne den Anflug einer Idee, womit er sie hätte festhalten, bei sich halten können. Nichts. Was bleibt: der Tag, an dem sie mitten im Raum stehen geblieben ist. Gebrüllt hat. Mit ihrem ganzen Körper. Dass es losginge, er sofort nach dem Doktor schicken solle. Nach einer Hebamme. Egal nach wem, aber dringend sei es. Dass das Kind kommen würde. Die Fruchtblase geplatzt sei. Um sie das Wasser. Viel zu früh. Alles viel zu früh. Und dann das Kind. Ausgewurzelt, wurzellos. Und wie sie dann da liegt: Anna. So klein, frisch geboren, abgeschnitten. Eingerollt. In sich. Dieser kleine Körper. In all der Unruhe. Um sie herum nur Ärzte: ihr Ein- und Ausgehen. Ihre Ratlosigkeit. Vaters Hilflosigkeit. Ihre Versuche, sein Wunsch, Hester nicht aus diesem Leben zu lassen, die irrsinnigen Blutungen zu stoppen. All die Gespräche, Behandlungen. Dazwischen Vaters Flüstern. Mit sich selbst. Seine Angst. Ins Verblassen hinein, bis zum Schluss. Ins Schwarze. Ein ganzes Jahr. Hesters Sterben. In Zeitlupe. Er erinnert die Tage. Jeder einzelne sitzt in ihm. Ihr unnachgiebiges Wachsen, Treiben. Wie Luftwurzeln. Ihr Ausrollen, Hineintasten. Von einem Jahrhundert ins andere. 1799. 1800. Kein Halt, kein Aufhalten, kein Innehalten. Vaters Atem geht schwer. Annas Atem so leicht. Und Vater geht weiter, sieht jetzt zu Anna hinab. Sieht, dass etwas an ihrem Kleid, aus einer ihrer Taschen hängt. Was hängt aus deiner Tasche, Anna? Annas Blick auf Vater, dann auf sich. Ein Windröschen-Stiel. Annas Ton beiläufig. Als wäre es selbstverständlich, dass Pflanzenreste an ihrem Kleid hängen. Was sie damit vorhabe, will Vater wissen. Sie wolle ihn trocknen, ihre Stimme jetzt ernst. Und bevor Vater weiter nachhaken kann, zieht Anna den Stiel aus der Tasche, hält ihn Vater hin. Vater aber sieht nur Anna, sein Kind. Sieht, wie sie den Blütenstiel hält, ein Seil zwischen ihren Händen. Zerbrechlich, verletzbar. Sieht, wie vorsichtig sie ist: den Stiel nicht verlieren will, dieses Seil in eine andere Zeit. Und Vater wünscht, er könnte sich daran festhalten. Anna spricht weiter. Ihre Stimme jetzt hell, die Worte kurz. Erklärt, dass sie den Stiel pressen wolle. So wie Vater es ihr gezeigt hat. Damit sie eine Erinnerung an ihn habe, ein Bild. Falls er stirbt. Falls er stirbt? Der Stiel? Vater weiß nicht, was er sagen, was er antworten soll. Verwundert ist er, über dieses Kind. Immer wieder. Woher sie solche Gedanken nimmt, einfach aus der Tasche zieht. Mit ihren sieben Jahren. Dass auch Pflanzen sterben. Wann eine Pflanze tot sei, ob Vater das wisse. Annas Stimme jetzt neugierig. Vater schüttelt den Kopf. Nein, genau wisse er es nicht. Schwierig sei das. Vom Tod zu sprechen. Übers Totsein. Überhaupt: totes Sein. So ein Widerspruch. Vater fällt in sich. Immer wieder passiert das. Ein Zusammenklappen. Im Innern. Als falte das Herz sich zusammen, seine Lunge, Flügel auf Flügel, als wäre er ein Klappbild. Könne er sich vor der Welt verschließen. Einfach so. Ein einzelner Begriff manchmal ausreichend. Oder eine Erinnerung. Dieses Aufblitzen. Unverhofft. Eines Bildes. Oder von einem Wort. Totes Sein. Immer wieder denkt Vater darüber nach. Kann nicht anders. Über dieses Paradox. Totes Sein. Ein Nachdenken über das Einsetzen des Todes. Wann er beginnt, wann er aufhört. Dieser Prozess, unaufhaltsam, alle verbindend: das Absterben, das Aussterben. Eines einzelnen Körpers. Wie bei Hester. Aller Körper. Das Sterben an sich. Seine Vermutung, dass der Tod nicht plötzlich kommt, sondern einzieht. Langsam. Sich einschleicht ins Leben. Weiterzieht. Oder immer schon da ist. Von Beginn an in jedem einzelnen Körper nistet. In jedem Organismus ein Zuhause hat. Falls er stirbt. Vater streicht Anna über den Kopf. Weiß nicht, wie lange sie neben ihm stehen geblieben ist, ganz ruhig, ob Anna schon lange auf eine Reaktion, eine Antwort wartet. Er sagt nichts. Weiß nicht, was er sagen soll. Sagen kann. Diesem Kind. Geht weiter. Vertraut auf die Lautstärke seiner Schritte, dass sie genug sind. Für diesen Moment. Und Anna folgt ihm in einer Selbstverständlichkeit, die ihn schmerzt. Als wären sie verwachsen. Als würde sie aus seinen Füßen wurzeln, aus seiner Anwesenheit heraus. Dieses kleine Kind. Und er. Das Licht jetzt in Flecken, flimmert über Annas Hände, über den Stiel. Wölbt den Stiel zur Schattenbrücke. Und Anna, wie sie dem Licht gern folgen würde, dann, wenn niemand hinsieht, sie früh aus dem Bett schlüpft, heimlich, Türen öffnet, eine nach der anderen, barfuß ist, der Boden kalt, drinnen, draußen, aber es ihr nichts ausmacht, im Gegenteil: Ihre Füße können gut mit Kälte. Oft steht sie draußen, frühmorgens schon, im Gras, im Sand oder auf Kies, ohne dass jemand davon weiß, am liebsten dann, wenn das Licht es noch nicht richtig in den Tag geschafft hat, das Gras noch feucht ist, in sich gekauert, die Welt noch aus Rundungen besteht. Annas Augen hängen sich dann in den Himmel. Suchen die Baumkronen ab nach Vögeln, ihren offenen Schnäbeln. Diesem Geräusch-Theater, dem Tschilpen. Manche Stimmen erkennt Anna nach ein, zwei Tönen. Vater hat es ihr beigebracht. Ihr die Vögel gezeigt und erzählt: was den einzelnen Vogel ausmacht, nicht sichtbar ist. Die Hohlknochen, so leicht. Die innere Struktur eines Gefieders, so weich. Wie sich Feder um Feder zu etwas Kleidähnlichem fügt. So wie Annas Rockbauschen. An Vaters Schreibtisch, an seinem Schreibfenster, at the dear writer’s window: Buchfinken und Kleiber, Sperling und Rotkehlchen. Vater spricht mit ihnen, lockt sie, versucht, ihnen nah zu kommen. Scheitert, immer wieder, gibt nicht auf. Schreibt Gedichte für sie. Und Anna beobachtet sie. In aller Ruhe. Der ganze Tag aus Zeit gewoben, ein dünnes Flechtwerk, durchscheinend. Anna zieht an den Rändern, zieht die Zeit ins Weite. Mit aller Kraft. Und immer wieder liegt so ein Tag vor ihr: blank, ohne konkrete...


Scharbert, Simone
Simone Scharbert, geboren 1974 in Aichach, hat Politikwissenschaft, Philosophie und Literatur in München, Augsburg und Wien studiert, anschließend in Politikwissenschaft promoviert. Sie lebt und arbeitet als freie Autorin und Dozentin in Erftstadt.



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