Roman
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-485-06008-0
Verlag: Nymphenburger
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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DIE SCHWINGEN DER ZEIT
Caleb saß im Bagelshop unterhalb seiner Wohnung. Er leerte seine Kaffeetasse, dann bezahlte er zwei Cappuccinos, einen Orangensaft, Rühreier und zwei Kümmelbagels. Es war kurz nach elf Uhr vormittags. Er würde noch ein Geschenk für Carol besorgen, dann war es Zeit aufzubrechen. Um halb fünf Uhr nachmittags checkte er im Abflugsterminal des Newark Liberty Airport für den Abendflug nach Oklahoma City ein. Er gab seine beiden großen Rollentaschen beim Gepäckschalter auf. Den Technikkoffer und eine kleine Notebooktasche behielt er als Handgepäck. Dann kaufte er sich einen Kaffee und suchte sich einen Platz, möglichst weit weg von anderen wartenden Gästen. Ein paar Armlängen links neben Caleb kam ein Flughafenangestellter an und leerte den Inhalt des Mülleimers in einen gelben Plastiksack. In der Sitzreihe gegenüber tippte ein graumelierter Geschäftsmann in dunkelblauem Anzug und glanzpolierten Schuhen in sein Notebook. Wie um größtmöglichen Kontrast zu bieten, wickelte zwei Plätze daneben eine übergewichtige Frau mit fettigen roten Haaren ein Riesensandwich aus der Klarsichtfolie. Eine Reihe hinter den beiden wischte eine Mutter ihrem Jungen Schokoladenflecken aus dem Mundwinkel. Gegenüber dem Wartebereich, hinter der Flughafenausführung einer mobilen Coffee-Fellows-Theke, sortierte ein junger Mann puertoricanischer Herkunft Pappbecher in einen Metallspender. Eine Gruppe Flugbegleiter, drei Frauen und ein Mann, zogen mit klappernden Rollenkoffern an ihm vorbei. Es war eine Situation, wie man sie zu jeder Zeit überall auf der Welt erleben konnte. Dennoch hatte Caleb das Gefühl, als stimmte etwas nicht. Er spreizte die Finger und betrachtete seine Handrücken. Vielleicht war etwas mit seiner Wahrnehmung nicht in Ordnung? Alles wirkte surreal, grell und überzeichnet, fast so, als wäre er zum Teil einer Filmkulisse geworden. Caleb drehte die Handflächen nach oben, starrte sie an, als hoffte er, dass sich auf ihnen eine Antwort zeigte. Eine junge Frau in grauem Kostüm, die ihn an Abigail erinnerte, betrat mit einem Coffee-Fellows-Becher in der einen und einem Rollenkoffer in der anderen Hand den Wartebereich. Caleb fiel auf, wie übermäßig sie geschminkt war. Wie eine Wachsmaske. Sie nahm sich eine der von der Fluggesellschaft bereitgestellten Zeitungen und setzte sich an einen Platz am Fenster. Obwohl auf den ersten Blick so verschieden, wirkten diese Menschen auf Caleb wie leere Hüllen. Als hätte ein Filmteam Statisten und Flughafenkulissen so zusammengestellt, dass sie den Durchschnitt aller Flughäfen des Landes zur jeweils langweiligsten Zeit darstellten. Wie konnte man erkennen, ob man gerade träumte? Gab es überhaupt unwiderlegbare Merkmale dafür, dass die Realität, die man erlebte, auch tatsächlich real war? Einen Augenblick dachte er daran, seinen Technikkoffer zu öffnen und die Szene mit der Infrarotkamera zu untersuchen. ›Wenn sie leben, müssen sie wärmer sein als die Umgebung‹, sagte eine Stimme in ihm. Selbst sie fühlte sich sonderbar fremd an. Irgendwann in dieser zeitlosen Szene tauchte eine Mitarbeiterin der American Airlines auf, entfernte die roten Sperrbänder und öffnete den Boardingschalter. Inzwischen hatte sich der Wartebereich gefüllt. Nach wenigen Sekunden bildeten die ungeduldigsten Fluggäste bereits eine Schlange. Erst nachdem sich der Großteil der Passagiere ins Flugzeug begeben hatte, stand Caleb auf und stellte sich ebenfalls an. Sein Sitz lag am Gang in der dritten Reihe. Der Geschäftsmann mit den polierten Schuhen saß bereits am Fensterplatz daneben. Caleb grüßte ihn, verstaute sein Handgepäck und ließ sich in seinen Sitz gleiten. Das weiße Gewebetuch auf der Kopfstütze vor ihm saß schief. Wie ein Fehler in diesem perfekten System. Er widerstand dem Impuls, den Klettverschluss zu lösen, um es gerade zu rücken. Der Flug war ausgebucht. Nachdem alle Passagiere Platz genommen hatten, kehrte Ruhe ein. Caleb wartete instinktiv auf den kleinen Ruck, der signalisierte, dass das Flugzeug vom Gate gezogen wurde. Nach etwa einer Viertel- stunde bemerkte er, dass eine der Flugbegleiterinnen einen Anruf entgegennahm, während dem sie zu ihm herüber sah. Kurz darauf öffnete sich die Einstiegsluke. Eine farbige Frau in der schwarzen Uniform der Flugsicherungsbehörde trat ein. Sie war einen halben Kopf kleiner als die Flugbegleiterin, dafür etwa doppelt so umfangreich. Das Koppel mit Schlagstock, Pistolenhalfter und Handschellen wirkte wie der Reifen um den Bauch eines Holzfasses. Sie tauschte einen Satz mit der Stewardess aus, dann ging sie auf Caleb zu. »Sir, sind Sie Caleb Brooks?« »Ja. Warum?« Er spürte, wie sich die Augen und Ohren der umgebenden Fluggäste auf ihn richteten. »Haben Sie Handgepäck bei sich?« »Ja, natürlich.« »Ich möchte es sehen.« »Gut.« Er löste seinen Gurt. Die Polizistin trat einen Schritt zurück. Dabei legte sie eine Hand an ihr Koppel, als würde sie sich bereit machen, jeden Moment eines ihrer Werkzeuge herauszuziehen, um ihn auszuschalten. Caleb schälte sich aus dem Sitz. Er öffnete die Klappe über seinem Kopf, zog den grauen Pelicase heraus und wandte sich zu der Polizistin. »Sir, gehört dieser Koffer Ihnen?«, fragte sie ihn mit überdeutlich lauter Stimme. Was für eine überflüssige Frage. Caleb spürte, dass die Frau gerade ihre Vorschriften abarbeitete. »Ja.« »Bitte öffnen Sie ihn.« »Da ist nichts Gefährliches drin.« »Ich sagte: Bitte öffnen Sie ihn.« Caleb stellte die Zahlenfolge von Abigails Geburtsdatum an den beiden Schlössern ein und ließ die Verschlüsse aufschnappen. Er legte den Koffer auf den Boden, drehte ihn der Sicherheitsbeamtin entgegen und klappte den Deckel auf wie ein Vertreter, der seine Kollektion präsentierte. Sie musterte den Inhalt. »Was ist das, Sir?« Sie deutete auf die hellgraue Kamera mit den orangefarbenen Streifen. »Eine Flir-425-Wärmebildkamera«, erklärte er. »Ein hochsensibles Messinstrument.« »Mister Brooks, wozu brauchen Sie diese Kamera?« »Ich bin Wissenschaftsjournalist, unter anderem für die New York Times. Die Messgeräte gehören zu meiner Standardausrüstung. Manchmal verwende ich diese Kamera, um bestimmte Themen zu illustrieren. Wenn zum Beispiel eine Tierseuche im Anmarsch ist, kann ein einziges Bild mit dieser Kamera kranke Tiere mit Fieber von gesunden Tieren unterscheiden. Oder Wetterphänomene sichtbar machen. Oder Krebs im Körper auf die Spur kommen. Es ist ein wissenschaftliches Gerät. Wo ist das Problem, Officer?« »Dieses Gerät befindet sich seit September 2001 auf der Liste unerlaubter Gegenstände für den Flugverkehr über den USA. Sie dürfen es nicht in Linienflugzeugen transportieren.« »Wieso nicht?« »Es ist Gesetz«, erklärte sie und rückte mit einer Hand ihr Koppel zurecht. »Wir werden dieses Gerät entweder in Verwahrung behalten, bis Sie es abholen, oder es an eine von Ihnen genannte Adresse liefern lassen. Auf Ihre Kosten.« Er schüttelte den Kopf, als könnte er die Situation dadurch loswerden. »Ich verstehe das einfach nicht«, sagte er. »Ich hatte noch niemals ein Problem damit.« »Dann hatten Sie bisher Glück, Sir. Diese Kamera sieht auf den meisten Scannern einer gewöhnlichen Digitalkamera sehr ähnlich.« In der Beamtin schien sich ein Funken Mitleid zu regen. Sie ging neben dem Koffer in die Hocke und hielt ihm eine Hand entgegen. »Händigen Sie mir das Gerät aus, bitte.« Er reichte ihr die Flir. Sie sprach nun deutlich leiser. »Kameras mit dieser Empfindlichkeitsklasse sind unter anderem geeignet, um auf Luftbildern unterirdische Anlagen sichtbar zu machen. Verstehen Sie?« »Aber ich kann sie gar nicht benutzen, wenn sie im Koffer eingeschlossen und im Fach über meinem Sitz verstaut ist.« Caleb flüsterte, als wäre er hier am Boden zwischen den Sitzreihen zum Teil einer Verschwörung geworden. »Ich habe es Ihnen erklärt,« sagte die Polizistin nun wieder deutlich offizieller. »Bitte machen Sie keinen Ärger.« »Nein. Ich mache keinen Ärger.« Er überließ ihr seine Kamera und schloss den Koffer wieder. Die Beamtin stellte ihm eine Quittung aus. Sie steckte das Gerät in eine grellrote Tüte mit gelben Aufdrucken, die vor Gefahr warnten. Als sich Caleb zurück in seinen Sitz fallen ließ, kam er sich vor wie ein Terrorist, den man soeben von einem Anschlag abgehalten hatte. »Bis vor Kurzem musste man jedes Mal seinen Laptop einschalten«, sagte sein Sitznachbar, um die Situation zu entschärfen. »Die haben alle Verfolgungswahn seit damals.« »Ja.« Caleb nickte und zwang sich ein Lächeln ab. Er überlegte, warum er den Koffer mit den Geräten überhaupt mitgenommen hatte. Vermutlich, weil der wissenschaftliche Teil von ihm vorgehabt hatte, die Geheimnisse von Sweetwater genauer zu untersuchen. War das gerade ein Zeichen gewesen, den Stein nicht zu zerschneiden, sondern ihm sein Mysterium lassen? War dies die Sprache, die das Universum wählte, wenn es einem Hinweise geben wollte? Die Flugbegleiterin erklärte über die Bordanlage, dass der Grund für die Verzögerung nun beseitigt sei und man in Kürze starten könne. DAS PAKET
Malcom Jeremiah Green III., den alle nur ›Mal‹ nannten, bremste seinen Elektrowagen mit den sieben Anhängern vor den offenen Ladeklappen des Airbus 737 am Gate zwölf ab. Es war Mals letzte Fahrt für diesen Tag. Sieben Gitterboxen voller Amway-Pakete von Newark zu einem Verteilerpunkt in Oklahoma...