E-Book, Deutsch, 608 Seiten
Ein Lehrbuch für die Praxis
E-Book, Deutsch, 608 Seiten
ISBN: 978-3-17-041148-7
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1 Störungen der Intelligenzentwicklung – Überlegungen zur Begrifflichkeit
Tanja Sappok, Dan Georgescu und Germain Weber
Die subjektive Perspektive
»Ich fühle mich nicht eingeschränkt. Ich bin zufrieden, meist glücklich.« Fabian Neitzel im Juni 2017 1.1 Die Ausgangslage
Im Schreibprozess ist unter den beteiligten Autorinnen und Autoren eine Diskussion zur Frage der verwendeten Begrifflichkeit angestoßen worden, die in diesem Kapitel aufgegriffen und vertieft werden soll. In der Medizin und der Psychologie wählt man zunächst den Begriff des im Schreibprozess noch gültigen diagnostischen Manuals ICD-10 (World Health Organization (WHO) 1992): Die Intelligenzminderung, wobei sowohl im klinischen als auch im pädagogischen Handlungsfeld der Begriff der geistigen Behinderung vor allem in Deutschland und der Schweiz noch weit verbreitet ist. Aus einer geisteswissenschaftlichen Perspektive bleibt die Definition des Begriffes Geist eine komplexe Herausforderung! Von Befürwortern des Begriffs geistige Behinderung wird angeführt, dass damit nicht nur intellektuelle, sondern auch sozioemotionale Aspekte einbezogen werden. In diesem Begriffsdiskurs offenbaren sich jedoch weit tiefergehende Probleme. Einerseits birgt das mit einer bestimmten Bezeichnung verbundene Label die Gefahr der Stigmatisierung und damit auch der Ausgrenzung bzw. das Label ist stark mit dem Denken einer bestimmten Epoche gegenüber dieser Personengruppe verhaftet. Andererseits bietet eine kategoriale Begrifflichkeit eine verbindliche Beschreibung und liefert Erklärungen für auffällige intellektuell-kognitive Entwicklungen und damit assoziierte Entwicklungsverläufe und Verhaltensweisen, über die sich dann wieder bestimmte soziale oder medizinische Unterstützungsbedarfe definieren lassen. 1.2 Historische Begriffsentwicklung
Frühere Fachbegrifflichkeiten wie Schwachsinn oder – für die unterschiedlichen Schweregrade – Debilität, Imbezillität und Idiotie werden nicht mehr verwendet, auch wenn sie zum Teil noch z. B. in älteren Gesetzestexten auftauchen. Erst 2021 wurde der Begriff »Schwachsinn« im §20 StGB zur Schuldunfähigkeit durch »Intelligenzminderung« ersetzt. Auch die mentale Retardierung gilt in der deutschen medizinischen Terminologie als überholt. Ab den 1960er Jahren wurden medizinische Konzepte durch eine pädagogisch geprägte, soziale Sichtweise von Behinderung ergänzt. Das Denken gegenüber dieser Personengruppe führte zu anderen Formen der Unterstützung und Lebensbegleitung für sie, in der Regel in gesonderten Settings. Der Begriff geistige Behinderung ist mit diesen letztlich gesellschaftlichen Veränderungen im Behindertenbereich stark konnotiert. Ab den 1990er Jahren wurde in der englischsprachigen Literatur die Verwendung des Begriffs mental retardation in Frage gestellt, da er als diskriminierend empfunden wurde und nicht die wesentlichen Merkmale beschreibe. Auch im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses, der in der »Behindertenszene« in der Zeit stetig an Bedeutung gewann, wurde das Label mental retardation heftig kritisiert. Als Folge wurden weltweit neue Begrifflichkeiten eingeführt: In den USA intellectual disability, in Großbritannien learning disability und im deutschsprachigen Raum intellektuelle Behinderung (vorgeschlagen und begründet von Weber 1997) bzw. die in der Pädagogik weitverbreitete intellektuelle oder kognitive Beeinträchtigung. Diese Begriffe fanden die Unterstützung von People First Selbstbestimmt-Leben Initiativen. Es folgten zum Teil sehr kontroverse, nachlesebare Begriffs-Diskurse in international hoch angesehenen Fachgesellschaften und Fachzeitschriften (Luckasson und Reeve, 2001; Schalock, Luckasson und Shogren, 2007), bevor diese sich zu einer entsprechenden Umbenennung entschlossen. Aus einer rezenten Begriffsverwendungsanalyse auf dem Medium twitter geht hervor, dass der Begriff mental retardation vor allem in einem pejorativen, stark diskriminierenden Kontext (Schimpfwort) Verwendung findet, der Begriff intellectual disability dagegen vor allem in Kurznachrichten des wissenschaftlichen und akademischen Austausches zu finden ist (Kocman und Weber, 2017). Der Begriff intellectual disability wird auf Deutsch häufig mit intellektueller Beeinträchtigung (American Psychological Association (APA) 2013) übersetzt und soll eine Wende zu einem neuen gesellschaftlichen Denken im Sinne der sozialen Teilhabe gegenüber dieser Personengruppe markieren. Die Tabelle gibt einen Überblick über die historische Begriffsentwicklung in den diagnostischen Manualen ICD und DSM ( Tab. 1.1). Hierin sind die Originalbegrifflichkeiten aufgeführt. Tab. 1.1: Historische Begriffsentwicklung in den diagnostischen Manualen ICD und DSM 1.3 Die Perspektive der Familien
Familien tun sich zum Teil anfänglich mit der Behinderung schwer und für viele war es ein jahrelanger Prozess, bis die Behinderung als solche anerkannt und angenommen werden konnte ( Teil II. Der Mensch liefert den Kontext). Bis dahin werden Begriffe wie Entwicklungsverzögerung oder Handicap bevorzugt, die weniger den absoluten, sondern eher den relativen Aspekt betonen. Eine Mutter definierte Behinderung als »Andersartigkeit eines Menschen in körperlichen, geistigen oder seelischen Bereichen, die den Zugang zur Gemeinschaft sehr erschweren kann.« Auch die Bezeichnung Besonderheit ist wiederholt gewählt worden: »Behinderung bedeutet für mich, dass man nur beschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann, sei es durch physische oder psychische Besonderheiten.« Die »starke Einschränkung der Möglichkeiten, über die Gestaltung des eigenen Lebens und die Zukunft selber entscheiden zu können«, wurde immer wieder in verschiedenen Varianten thematisiert, z. B. »Behinderung ist eine psychische oder körperliche Einschränkung, die dazu führt, dass man auf fremde Hilfe angewiesen ist.« Es wurde der Wunsch nach einem anderen Begriff geäußert, der »die spezielle Begabung in den Vordergrund stelle«, da Behinderung von fragwürdigen gesellschaftlichen Normen definiert und aus diesem Raum heraus beschrieben werde. In diesem Sinne entstanden Vorschläge wie »faszinierende« oder »übergesunde« Menschen; Begriffe, die man als Aufschrei der Eltern gegenüber den gesellschaftlichen Diskriminierungen verstehen kann, die auf ihre »besonderen« Kinder nun zukamen. Eine Mutter griff das Bild eines italienischen Neurologen auf, der Behinderung mit einem Haus verglichen hat: Der gesunde Mensch habe ein wunderschönes Schloss mit 30 Zimmern und Balkonen und Schnörkeln und Verzierungen. Je größer die Behinderung sei, desto weniger Zimmer habe das Haus, es habe weniger Balkone und vielleicht auch weniger Fenster. Aber es habe immer noch die Form eines Hauses: Es sei windschief, es sei vielleicht winzig klein, aber es sei immer noch ein Haus und in seinem Wesen absolut vollkommen. Die betroffenen Menschen hätten nur dieses winzig kleine System zur Verfügung und es liege nun an uns, dieses System zu verstehen, um es zu ergänzen, und so dieses System mit unserem System besser zusammenzubringen ( Kap. 7). 1.4 Die Perspektive der Menschen selbst
Dieser Cartoon von Phil Hubbe veranschaulicht die Sichtweise von Menschen mit Behinderungen sehr treffend. Gespräche mit sprechenden Patientinnen und Patienten zum Begriff Behinderung waren schwierig. Der Begriff wurde weitestgehend abgelehnt, und zwar nicht nur wegen der damit verbundenen Stigmatisierung, sondern auch, weil sie sich nicht behindert fühlten (vgl. Zitat oben). Ganz nach dem Motto einer jungen Frau mit Down Syndrom: »Ob ich behindert bin oder nicht, ist mir ganz egal!« Sie betrachten sich selbst als normal – im Bewusstsein, dass sie für einige Dinge Hilfe benötigen und einige Aufgaben wie z. B. der Führerschein, das Abitur oder der Arztberuf für sie zu schwierig sind. Abb. 1.1: Rainer und...