E-Book, Deutsch, 200 Seiten
ISBN: 978-3-944869-73-5
Verlag: RUTHebooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Kapitel 1
Wer den Bürgermeister von Marstadt kannte, der mußte sich wundern, daß dieser gesetzte Herr in seinen späteren Jahren einer alten Gewohnheit untreu wurde. So lange man ihn kannte, war er mittags den nächsten Weg vom Rathaus nach seinem eigenen Haus gegangen. Aber seit geraumer Zeit schlug er den Weg durch die Wagnerstraße ein, und das war ein Umweg, ein ganz unnötiger, denn er hatte dort nichts zu tun. Es erging ihm aber wie einem Gartenbesitzer, der ein junges Bäumchen gepflanzt hat, das vor andern herrlich gedeiht. Immer wieder fühlt er sich hingezogen, um es zu beschauen und sich zu freuen, daß es jedes Jahr mehr Blüten treibt und reichlicher Früchte trägt. So mußte der Bürgermeister, einem inneren Drang folgend, durch die Wagnerstraße gehen, seitdem dort auf sein Betreiben die neue Musikschule erbaut war. Wie Blüten eines Lieblingsbaumes erschienen ihm die mit jedem Jahr zahlreicher werdenden Musikschüler, die durch das stattliche Sandsteintor aus und ein gingen, ihm mit ihren Musikmappen und Violinen unterm Arm begegneten, und wie Früchte des Baumes erfreuten ihn die Konzerte, die der Stadt bei allen Freunden edler Musik zum Ruhme gereichten. Ja, dies Werk war ihm geglückt, über Erwarten, und er wußte, daß er dieses Gedeihen dem Direktor verdankte, den er für die junge Anstalt gefunden hatte. Bei dem Gedanken an diesen ging ein heiteres Lächeln über das Angesicht des Bürgermeisters, während er auch heute wieder durch die Wagnerstraße wanderte. Ja, dieser Direktor, dieser Pfäffling, war die Seele des Ganzen. Was hatte dieser rührige Mann geschafft, um die neugegründete Anstalt in die Höhe zu bringen! Nicht aus Ehrgeiz hatte er es getan, sondern weil er gar nicht anders konnte. Sein lebhaftes Wesen, seine fabelhafte Rührigkeit trieben ihn zu unermüdlicher Tätigkeit, seine fröhliche Zuversicht hatte jeglichen Zweifel besiegt, der anfangs der neuen Musikschule entgegengetreten war, hatte alle Lehrkräfte mit fortgerissen und die Sache in Fluß gebracht. In diesen Gedanken war der Bürgermeister schon an der Musikschule und an dem Garten, der das Gebäude freundlich umgab, vorbeigeschritten, als er von ferne einen hochgewachsenen, schlanken jungen Mann auf sich zukommen sah, der ihm wiederum ein Lächeln entlockte. "Ganz das Konterfei seines Vaters ist dieser Wilhelm Pfäffling," sagte sich der Bürgermeister, "ebenso lang und hager, und auch bei ihm geht's immer prestissimo, obwohl kein Mensch weiß, warum er's so eilig hat, dieser junge Student und immer vergnügt," fügte er bei sich selbst hinzu, als Wilhelm Pfäffling an ihm vorbeigekommen war und ihm fröhlichen Gruß geboten hatte. Der alte Herr ging gemächlich weiter auf der schattigen Seite der Straße, denn es war ein heißer Julitag. Von ferne tauchte wieder einer der Nachkommen des Herrn Pfäffling auf, er kannte sie alle gut, die vier Söhne des Direktors. "Das ist ein anderer Schlag," sagte sich der Bürgermeister, und er lächelte nicht, während er den etwa Sechzehnjährigen auf sich zukommen sah. Langsam kam der Junge daher, schien in Gedanken verloren, hielt den Kopf mit dem noch kindlichen Gesicht und den runden Wangen ein wenig gesenkt, sah auf den Boden und wäre dicht an dem Bürgermeister vorbeigegangen, ohne ihn zu bemerken, wenn dieser ihn nicht mit einem energischen: "Holla, Frieder!" wachgerufen hätte. Fast erschreckt blickte der Knabe auf, zog die Mütze und wollte vorübergehen. Doch der alte Herr trat vor ihn, musterte ihn und sagte: "Du siehst ja ganz sonntäglich gekleidet aus, wo kommst du denn her?" Aber er gab sich zugleich selbst die Antwort: "Schlußfeier im Gymnasium, nicht wahr. Das hatte ich ganz vergessen." Frieder nickte zustimmend, hatte nur ein "ja" darauf zu bemerken und die beiden gingen auseinander. "Im Äußeren hat er gar nichts von seinem Vater," sagte der alte Herr mißbilligend vor sich hin. "Klein und verträumt, aber das musikalische Talent soll der ja geerbt haben, nun, wenn er's nur auch zu etwas bringt." Inzwischen war der Bürgermeister aus der Wagnerstraße und somit aus dem Bann der Musikschule und der Familie Pfäffling gekommen und wieder anderen Gedanken zugänglich. Wir hingegen betreten nun das große Gebäude, gehen vorüber an den Lehrzimmern des ersten Stocks, an dem Konzertsaal des zweiten und hinauf in den dritten, in dem sich die Amtswohnung des Direktors befindet. Um Mittagszeit füllen sich täglich diese Räume, und als Frieder, der jüngste der vier Pfäfflingssöhne, in das Wohnzimmer trat, war um den großen, gedeckten Eßtisch schon die Familie versammelt. Von den verschiedensten Seiten waren sie gekommen: Vater Pfäffling, der Direktor, aus den unteren Räumen der Musikschule, Wilhelm, der lange Student, aus dem naturwissenschaftlichen Kolleg, Otto von einer Felddienstübung, die er als Einjähriger mitgemacht hatte, Marie, die erwachsene Tochter, aus einem Nähkurs, und Else, die jüngste, aus der Töchterschule. So verschieden nun nach Alter und Aussehen alle diese Familienglieder waren, in einem Punkte glichen sie sich doch, alle kamen hungrig heim, und wenn wir nun die kleine, zarte Gestalt der Hausfrau ins Auge fassen, könnte uns bange werden, ob sie diesem Ansturm auch gewachsen ist. Denn nicht nur mit Verlangen nach Speise kommen sie heim, sie begehren alle auch Teilnahme für die mannigfaltigsten Erlebnisse, von Else an, die der Mutter immer Wichtiges aus der Töchterschule zu berichten hat, bis hinauf zum Vater, der seine Gattin mit dem lauten Ruf "Cäcilie" sucht, wenn er sie nicht sofort entdecken kann. Aber die kleine Frau kann dem Sturm wohl trotzen. Wie sich in den etwa 25Jahren ihrer Ehe die Anforderungen an sie vermehrt haben, so ist auch ihre Kraft gewachsen. Ja, Frau Pfäffling würde uns sagen, daß sie die schwierigste Zeit schon hinter sich habe, die Jahre, in denen ihres Mannes Einnahme nicht ausreichen wollte für die große Familie und die Haushaltung ein schweres Rechenkunststück war. Nun stand er seit Jahren der Musikschule als Direktor vor, und hatte als solcher eine große Amtswohnung und einen guten Gehalt. Auch war in dieser Zeit das letzte Glied der älteren Generation, Frau Pfäfflings Mutter, dahingegangen, und was sie treulich für ihre Kinder bewahrt und erspart hatte, kam diesen nun zugut. So war die drückende Sorge um das tägliche Brot von ihr genommen, die sieben letzten Jahre waren sieben fette gewesen im Vergleich zu den mageren vorhergegangenen. Das war der Hausfrau auch anzusehen, sie erschien nicht mehr so schmächtig wie früher, ihre anmutige Gestalt hatte sich ein wenig gerundet, zuversichtlich blickten die gütigen Augen aus dem feinen schmalen Gesicht und in dem schlichten schwarzen Haar war kein grauer Schimmer zu entdecken. In dem Augenblick, als Frieder in das Wohnzimmer trat, war von ihm die Rede gewesen und alle Blicke wandten sich dem Jungen zu. "Da kommt er ja mit seinem Zeugnis!" rief ihm der Vater fröhlich entgegen und streckte die Hand nach dem Papier aus, das Frieders Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen-Dienst enthielt. "Nun hast du schon etwas Wertvolles erreicht," sagte Frau Pfäffling liebevoll, und ihre Worte riefen einen glücklichen Ausdruck auf ihres Sohnes Gesicht hervor. Auch die Brüder freuten sich über diesen Erfolg und blickten, neben dem Vater stehend, in das Papier, das ein gutes Zeugnis enthielt. Es war ihnen verwunderlich, daß Frieder, den sie immer noch als Kind betrachteten, es auch schon so weit gebracht hatte. Während dessen nahm Marie, die neunzehnjährige, rasch aus dem Blumenstrauß, der den Tisch zierte, einen grünen Zweig und legte ihn um Frieders Teller, indem sie leise zur jüngeren Schwester sagte: "Das gilt als Lorbeerzweig". Als sie sich nun aber alle an den Tisch drängten und jeder seinen gewohnten Platz aufsuchte, streifte Frieder, der Gefeierte, achtlos mit dem Ärmel den Zweig, daß er zu Boden fiel. "Frieder!" rief Marie ein wenig gekränkt, und Else, die jüngste, hob lachend den Zweig auf und rief: "Du, das ist ja ein Lorbeer!" "Ei, ei, wer wird seinen Lorbeer mit Füßen treten! Wirst du das später auch tun, wenn ..." der Direktor unterbrach sich. "Wenn du einmal Geigenkönig bist," vollendete Wilhelm. Frieder sagte entschuldigend: "Ich habe gar nicht gedacht, daß der Zweig mich angeht, und daß man überhaupt etwas daraus macht, alle in meiner Klasse haben das Zeugnis bekommen." Es schien ihm gerade recht zu sein, als die Aufmerksamkeit nun von ihm abgelenkt wurde durch das Mädchen, das eben das Essen auftrug. Das kleine Dienstmädchen war ihnen noch eine neue Erscheinung. Bisher hatte Walburg, die alte getreue, aber fast taube Dienerin, alles allein besorgt, und es wäre vielleicht noch lange so geblieben,wenn nicht in der Direktorswohnung ein Fernsprecher eingerichtet worden wäre. Als dies vor einigen Wochen geschah, stand Walburg mit mißtrauischem Blick dabei. Für Neuerungen war sie nicht eingenommen, denn sie witterte in einer jeden Gefahr. So lange alles im alten Geleise ging, konnte sie ihrer Arbeit genügen, aber bei jeder Änderung trat ihr Gebrechen störend zutage und Walburg bangte seit Jahren, daß sie als dienstunfähig erklärt würde. Bald erkannte sie den Fernsprecher als die schlimmste aller Neuerungen. Sie sah, wie ein Familienglied um das andere die Hörrohre an das Ohr hielt und offenbar etwas hörte. Am späten Abend hielt auch sie heimlich die Leitung an das Ohr, als aber nicht der geringste Laut wahrnehmbar wurde, ließ sie den Griff mutlos fallen und warf dem geheimnisvollen Kasten einen Blick zu wie dem schlimmsten persönlichen Feind. Dabei bemerkte sie ein wenig Staub, entfernte ihn pflichtgetreu mit dem Wischtuch und dachte als gute Christin an das Gebot:...