Die Erneuerung Europas aus dem Geist des Christentums
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-374-07153-1
Verlag: Evangelische Verlagsanstalt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte Europas wurde durch die christliche Tradition geprägt. Doch diese verblasst. Was bedeutet das für den europäischen Gedanken?
Wolfgang Sander zeigt mit seinem Essay, dass wir kein neues Narrativ brauchen, sondern eine Rückbesinnung. Er plädiert für eine Renaissance der christlichen Werte. Denn wenn es uns gelingt, sie für heute weiterzudenken, liegen hier die entscheidenden Ressourcen für eine verbindende, zukunftsfähige europäische Identität!
- Europa ist mehr als die EU: auf der Suche nach unserem kulturellen Gedächtnis
- Unsere Herkunft: die christlichen Wurzeln Europas
- Was zeichnet die Einheit des Konstrukts Europa aus?
- Die Zukunft der europäischen Einigung und die Erneuerung der christlichen Kirchen
In Vielfalt vereint? Was macht den inneren Zusammenhang Europas aus?
Wolfgang Sander schärft mit seinen Fragen und Antworten unseren Blick auf Europa und die EU. Wie verhält sich der christliche Glaube zu den Wissenschaften, wie zu den so genannten europäischen Werten, wie zu Diversität und religiöser Vielfalt in modernen Gesellschaften? Wie lässt sich Freiheit anders denken, wie Narzissmus und Egoismus überwinden? Wie sieht die Zukunft der Kirchen aus? Denn eine Entchristlichung Europas wäre nicht Ausdruck einer Modernisierung der europäischen Kultur und Identität, sondern ein Zeichen ihrer Auflösung. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, dem entgegenzuwirken!
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
ZUR EINFÜHRUNG
»Das Neue stürzt und altes Leben blüht aus den Ruinen.« (Inschrift auf dem Haus Glauburger Hof in der 2018 fertiggestellten neuen Altstadt in Frankfurt am Main) Gut siebzig Jahre nach dem Schuman-Plan, der 1950 den Anstoß für die Gründung der ersten Europäischen Gemeinschaften gab, steht die daraus erwachsene Europäische Union an einem Scheideweg. Ist der Austritt Großbritanniens der Anfang vom Ende der EU oder wird er im Gegenteil den Zusammenhalt der verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten stärken? Werden sich die Differenzen zwischen ost- und westeuropäischen Mitgliedsstaaten, die durch das aktive Agieren der Visegrád-Gruppe immer sichtbarer geworden sind, verschärfen, oder wird sich daraus gerade eine Erneuerung und Vertiefung des gemeinsamen Selbstverständnisses Europas entwickeln? Waren die Lockdowns, nationalen Alleingänge und Grenzschließungen in der Corona-Krise ein Zeichen für die Schwäche der europäischen Integration, oder werden sich die 750 Milliarden Euro an Corona-Finanzhilfen, die durch gemeinsame Anleihen aufgebracht und bis 2058 zurückgezahlt werden sollen, als Katalysator für eine sehr viel tiefere Integration der EU erweisen? Wird die EU an den strukturellen Mängeln ihrer Institutionen, an der Intransparenz ihrer immer komplexer werdenden Regeln und Verfahren, zugrunde gehen, oder wird ihr bei einem passenden Fenster der Gelegenheit in einem großen Wurf eine grundlegende und überzeugende Reform ihrer eigenen politischen Ordnung gelingen? Nicht zum ersten Mal in ihrer Geschichte steht die Europäische Union vor schwierigen Alternativen, aber nicht immer waren sie gleichermaßen drängend. Noch Anfang dieses Jahrhunderts gab es viel Anlass zu einer optimistischen Sichtweise auf die Zukunft der europäischen Einigung:1 Die Osterweiterung der EU (und damit, wie es schien, die politische und kulturelle ›Verwestlichung‹ des östlichen Europa) stand bevor, der Euro war eingeführt, eine gemeinsame Verfassung für das geeinte Europa zeichnete sich ab, mit der die älteren Verträge aus den ersten 50 Jahren der europäischen Integration ersetzt werden sollten. Äußere Bedrohungen schienen nicht mehr zu bestehen; die islamistischen Anschläge von 2001 waren zwar schockierend, aber größere Anschläge in Europa gab es noch nicht und die politische und militärische Auseinandersetzung mit dem Islamismus schien sich außerhalb der EU abzuspielen, vor allem im weit entfernten Afghanistan. Wie wir wissen, ist die Geschichte anders verlaufen. Der Verfassungsvertrag scheiterte bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden. An seine Stelle trat 2009 der Vertrag von Lissabon, mit dem zwar eine Reihe von Reformen realisiert werden konnten, um die größer gewordene EU handlungsfähig zu machen, aber auch mit 358 Artikeln, 37 Protokollen und 65 weiteren Erklärungen ein für Laien kaum lesbares textliches Monstrum geschaffen wurde. Die islamistische Bedrohung schlug sich in Europa in einer Reihe von massiven Anschlägen nieder, brachte im europäischen Umfeld und mit Verbindungen in Europa selbst die Terrororganisation »Islamischer Staat« hervor und erwies sich auch in politischer, kultureller, pädagogischer und religiöser Hinsicht als andauernde Herausforderung. Mit der Flüchtlingskrise 2015 spitzten sich Konflikte innerhalb der EU zu, nicht zuletzt zwischen west- und osteuropäischen Mitgliedsstaaten, und innerhalb vieler Mitgliedsstaaten gewannen populistische und tendenziell EU-feindliche Parteien an Unterstützung. Heute steht die Europäische Union wohl drängender denn je vor der Frage nach ihrem Selbstverständnis. Welche Sichtweise von der Einheit Europas repräsentiert sie, auf welche Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben und politischer Ordnung kann sie sich dabei stützen und in welchen Traditionen der europäischen Geistesgeschichte wurzeln diese Vorstellungen? Damit stellt sich die Frage nach der europäischen Identität. Gewiss ist die Europäische Union nicht einfach mit Europa gleichzusetzen, und niemand kann heute sagen, welche politischen Ordnungsformen Europa in späterer Zukunft prägen werden. Aber ein realistischer Blick auf die Situation Europas im frühen 21. Jahrhundert führt doch recht zwingend zu dieser Einsicht: »Europa ist mehr als die EU, aber ohne die EU ist es heute nichts.«2 Herfried Münkler hat mit Blick auf die Geschichte der Nationalstaaten konstatiert, die Idee der Nation müsse der Realisierung des Staates vorausgehen.3 Dieser an den europäischen Nationalstaaten gut nachvollziehbare Gedanke lässt sich cum grano salis auch auf die politische Ordnung des künftigen Europas beziehen. Woher aber kann eine solche Idee Europas kommen? Illusionär ist wohl die modische Vorstellung, man könne ein ›europäisches Narrativ‹ gewissermaßen nach Bedarf neu erfinden, um Legitimationsprobleme der EU damit zu beheben.4 Hilfreicher ist die Frage, welche der großen geistesgeschichtlichen, in Europa wirkmächtigen Traditionen auch für eine künftige europäische Identität auf neue Weise fruchtbar gemacht werden können. Es geht also eher darum, aus der Erinnerung an verschüttete, im kulturellen Gedächtnis Europas aber gleichwohl vorhandene Ressourcen Perspektiven für die Zukunft zu gewinnen. Tatsächlich hat es solche Formen eines produktiven Rückbezugs auf auch weit zurückliegende Traditionen in der europäischen Geschichte immer wieder gegeben. Herausragendes Beispiel ist der mehrfache Rückgriff auf die Antike, vor allem in der Epoche der Renaissance vom 14. bis zum 16. Jahrhundert in Kunst und Philosophie, die nicht nur die Städte Europas bis heute prägt, sondern in der nachträglichen Deutung als Beginn der ›Neuzeit‹ gesehen wird. Aber auch die Scholastik in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie war stark von der Wiederentdeckung der Antike, insbesondere der Schriften des Aristoteles, geprägt. Später, im frühen 19. Jahrhundert, trug der Rückbezug auf die griechische Antike zur neuhumanistischen Bildungstheorie bei, die entscheidende Anstöße zur Entwicklung der höheren Schulen und der Universitäten gab. Ein anderes Beispiel ist die Reformation. Luthers Kritik der kirchlichen Tradition stützte sich auf Paulus und Augustinus, und seine Alternative zur kirchlichen Dogmatik seiner Zeit bestand im Kern im Rückgriff auf die Bibel als einziger normativer Quelle des christlichen Glaubens (›sola scriptura‹). Jürgen Habermas hat erst kürzlich in seiner Geschichte der Philosophie wieder gezeigt, wie wichtig das nur scheinbar rückwärtsgewandte Denken Luthers für die Entwicklung des modernen europäischen Verständnisses des Menschen als Subjekt war.5 Als letztes Beispiel sei auf Karl den Großen verwiesen, dessen Siegel – mehr als 300 Jahre nach dem Untergang des weströmischen Reiches – die Umschrift »Renovatio Imperii Romani« trug (Erneuerung des Römischen Reiches). Zur politischen Bedeutung dieses Rückbezugs um das Jahr 800 für die europäische Geschichte schreibt Hagen Schulze: »Europa wäre in eine unzusammenhängende Vielfalt primitiv verfaßter Stämme auseinandergefallen, wäre da nicht die einigende Kraft der Kirche gewesen, und die fortdauernde Erinnerung an Rom.«6 Im Reich Karls des Großen tauchte auch der Begriff Europa als Selbstbezeichnung auf, nicht zuletzt in Abgrenzung zu den islamischen Eroberern im Süden. Wie auch immer man die wechselhafte Geschichte der nachfolgenden römischen Kaiser im bis 1806 existierenden »Heiligen Römischen Reich« in Europa beurteilen mag – es ist bemerkenswert, dass das Gebiet der in den 1950er-Jahren gegründeten Europäischen Gemeinschaften mit den sechs Mitgliedsstaaten Frankreich, Italien, Bundesrepublik Deutschland, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden weitgehend identisch war mit dem Reich Karls des Großen. Bekanntlich ist Europa nicht einfach ein Begriff für eine klar abgrenzbare geographische Einheit. Als Kontinent hat Europa keine präzise bestimmbaren natürlichen Grenzen. »Europa wurde nur deswegen zu einem geographischen Begriff, weil es vorher zu einem historischen Begriff geworden war.«7 Europa ist ein geistiges Konstrukt, ein Begriff für einen kulturellen Zusammenhang, der sich durch diese Bezeichnung von anderen kulturellen Zusammenhängen unterscheidet. Zugleich werden damit rund 2500 Jahre wechselvoller, vielfältiger und konflikthafter Ereignisse und Entwicklungen als gemeinsame, eben als europäische Geschichte gedeutet. Die Frage nach der europäischen Identität ist dann im Kern die Frage danach, was den inneren Zusammenhang des Konstrukts Europa ausmacht. Die Antwort ergibt sich weder allein aus dem Verweis auf den eben nur vage bestimmbaren geographischen Raum, in dem diese Geschichte spielte, noch allein aus der offenkundigen Vielfalt und Wechselhaftigkeit dieser Geschichte. Daher beantwortet auch das Motto »In Vielfalt...