Roman
E-Book, Deutsch, 760 Seiten
ISBN: 978-3-85420-909-6
Verlag: Literaturverlag Droschl
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Saal II
Aus dem Zyklus »Geheimnisse«.
Inhalt einer Damenhandtasche, gefunden am Unfallort
Interview mit Wladislawa Matusewytsch,
geführt von Daryna Hoschtschynska Die erste Einstellung sieht so aus (sehr sympathisch!): Zwei Frauen, eine Blonde und eine Brünette, sitzen am Bistrotischchen eines Sommercafés in der Chreschtschatyk-Passage, beide stilvoll, elegant, mit bloßen, gebräunten Schultern, es ist Ende August, Ende der Urlaubszeit, im Hintergrund läuft ein Ober in weißer Jacke geschäftig mit einem unbestimmten, geheimnisvollen Halblächeln verschwiegener Allwissenheit umher, das allen Kiewer Obern eigen ist und sie indischen Göttern ähneln lässt (in Wirklichkeit verdeckt es ausschließlich ihre Unbeholfenheit und die Furcht, auf einen ungewöhnlichen Gast zu treffen – in diesem Fall die Fernsehkamera auf der Terrasse). Einen wunderbaren Lichteffekt ergibt das von der Sonne vergoldete und schimmernde Haar der Blonden, das heißt, dank dieses Effekts erscheint sie blond, tatsächlich ist sie eher rothaarig, nun gefärbt im Farbton reifen Weizens, doch es passt, denn ihr blasses Gesicht mit dem maskulinen Grübchen am Kinn würde sich bei ihren feinen, vogelartigen Gesichtszügen trotz der auffällig weit auseinander liegenden Augen ohne diese prächtige Mähne in der Menschenmasse verlieren, so ist die Tönung goldrichtig, kein Wunder, schließlich ist sie Künstlerin. Im Vordergrund, auf dem Bistrotisch, glänzt ein ebenso hübscher Farbtupfer: ein von rubinrotem Wein erleuchteter Kelch, ein schlankes Bierglas mit einem fröhlichen Schaumkäppchen, als weiteres Ornament eine Packung »Eve Slim«, der Buddha in der weißen Jacke bringt noch einen sauberen Aschenbecher, der eher einer flachen Schale ähnelt, nur leider schwarz, er wird an den Rand gerückt, nein doch besser auf den Nebentisch verbannt, weil er zu sehr Blickfang wäre, einverstanden? … Okay, dann los! »Wladislawa, wir kennen uns schon so lange« (beide lächeln jenes verschwörerische Lächeln von Frauen, die mit ihrem Alter kein Problem haben, die dieses gewisse Etwas haben, das Männer nicht verstehen und nervös werden lässt), »dass ich dich auch im Fernsehen duzen kann – worauf ich übrigens sehr stolz bin. Lass dir zuerst zu dem ganz außergewöhnlichen Erfolg, speziell für einen ukrainischen Künstler, gratulieren: Du hast für deine Werkausstellung den Preis der Fondation Nestlé pour l'Art erhalten – verbessere mich bitte, wenn ich mich irre – in Zürich?« (»In Zürich, Bern, Genf und Lausanne« präzisiert die Blonde im geschäftsmäßigen Tonfall eines Menschen, der sich schon lange an spektakuläre Erfolge gewöhnt hat.) »Entschuldige, da siehst du die Möglichkeiten ukrainischer Journalisten: so gut wie alle Informationen über die Kulturszene des Auslands haben wir aus zweiter Hand« (»Wenn nicht aus dritter«, wirft die Blonde ein, – »Vollkommen richtig, wenn nicht aus dritter Hand!« ereifert sich die Interviewerin schon etwas zu sehr, und beide lachen wieder, doch dieses Mal giftig, mit kollegialer Empörung, hinter der ein langjähriger Gleichklang von Ansichten und Vorbehalten gegenüber dem eigenen Land durchklingt). »Das lässt sich leider gerade nicht ändern, erzähl bitte selbst von dir, damit wir im Bilde sind …« »Erinnerst du dich noch an die alte sowjetische Anekdote«, fragt die Blonde, rückt an das Tischchen und schiebt den ganzen Körper mit einer leicht schwingenden Bewegung nach vorne, als federe sie von unten nach oben, wie ein Wiesel oder eine Katze, die gerade zum Sprung ansetzt, gleich darauf zoomt der Kameramann die energischen, markanten Züge ihres Vogelgesichtchens mit dem Grübchen am Kinn heran, Großaufnahme, »warum gibt’s in den Geschäften kein Fleisch?« Die Journalistin hebt fragend die Brauen, schon im voraus grinsend, mit kaum verhohlener Bereitschaft, gleich loszukichern. »Weil wir dem Kommunismus mit Sieben-Meilen-Stiefeln entgegeneilen und das Viehzeug uns nicht hinterherkommt. Und genauso ist es auch mit unseren Künstlern, die international erfolgreich sind, die Heimat kommt uns nicht mehr hinterher …« »So ist es nicht nur mit den Künstlern«, grinst zustimmend die Journalistin. »Genauso verhält es sich mit den Wissenschaftlern, für die sich unsere Akademie der Wissenschaften nicht interessiert, und die dann vom Westen eingekauft werden, oder die Intellektuellen, die sich mit ausländischen Stipendien in alle Winde zerstreuen. Aus unserem Land verschwinden alle hellen Köpfe, wir haben einen brain drain, und wenn es so weiter geht, befürchte ich fast, dass wir in ein paar Jahren wieder auf allen vieren herumkrabbeln … Aber wir bleiben optimistisch, nicht wahr, Wlada?« (Die Blonde, in Erwartung der nächsten Replik, die vollends darüber Aufschluss geben soll, ob man optimistisch sein könne oder nicht, kneift die Augen zusammen, als ziele sie, und dabei treten an ihren Augenwinkeln kleine Pfeile hervor und ihr Gesicht nimmt in diesem Moment eine durchdringende, plastische Vollkommenheit an, die sich erst nach vielen Jahren als sinnliche Offenbarung eines voll entfalteten Charakters herausbildet, mit dem manche Frauen im reiferen Alter nachhaltiger beeindrucken als eine junge Schönheit, noch zwei bis drei Jahre und die Blonde, falls sie denn blond bleibt, wird ganz und gar Abbild ihres Inneren sein, wird vollendet sein, ein Kunstwerk.) »Und selbst wenn dein gegenwärtiger Erfolg im Westen«, fährt die Brünette amüsiert fort, »in der Ukraine außer finsteren Neid der Kollegen keinerlei Reaktionen hervorruft, ob-jek-tiv ge-se-hen« (diese Silben hebt sie mit an sexuelle Obszönität grenzenden gerundeten, mohnroten Lippen hervor, als schmatzte sie jeden Buchstaben in Fettdruck und Kursiv aufs Papier, denn im Gegensatz zu ihrer Gesprächspartnerin wendet sie sich nicht nur an ihre Freundin, sondern auch an ein imaginäres Publikum, dem all dies schmecken soll), »arbeitest du für dieses Land, das, wie du sagst, dir nicht hinterher kommt, doch nicht nur für dieses Land, sondern auch für das Selbstbild dieses Landes, was ich für äußerst wichtig halte …« (Die Blonde murmelt zustimmend, aber offensichtlich nervt sie dieser schulmeisterliche Exkurs.) »Bekannterweise leiden Ukrainer an einem chronischen Minderwertigkeitskomplex, so dass alle Auszeichnungen an die Unseren seitens der Anderen doch Trostpflaster auf die alten nationalen Wunden darstellen, oder nicht? Aber zur Sache, das heißt zu deiner Ausstellung. Erkläre bitte zuerst den Titel – ›Geheimnisse‹?« »Nun ja, die Idee stammt eigentlich von einem unserer Kindheitsspiele – erinnerst du dich, noch im Vorschulalter, in den 1960er und 70er Jahren, spielten alle Mädchen ›Geheimnisse‹.« »Wie könnte ich mich nicht erinnern«, antwortet die Brünette freudig. »Eigentlich spielten es nur Mädchen!« »Jaja, die Jungs durften nicht mitmachen, selbst die, die sonst bei den Mädchen mitspielen durften, daran erinnere ich mich genau« (sie schiebt bedächtig einige Haarsträhnen aus ihrem Gesicht, als ob sie mit dieser Bewegung einen dreißigjährigen Vorhang vor ihren Augen beiseite zöge), »ich hatte selbst einen Freund, mit dem ich auch Puppen spielte, ich als Mama, er als Papa, doch bei den ›Geheimnissen‹ hatte er nichts verloren …« »Entschuldige, dass ich unterbreche, aber hast du als Kind eher mit Jungs oder mit Mädchen gespielt? Weil, es gibt doch so eine Theorie, dass gesellschaftlich erfolgreiche Frauen stets das Produkt männlicher Erziehung seien, also Frauen, die wie Jungs erzogen worden sind …« »Naja, ich weiß nicht … ich glaube nicht… Nein, ich spielte mit Mädchen, ganz in der guten alten Tradition … Puppen, Puppen-kleider, ich nähte für den ganzen Hof Puppenkleider, mir hat das Spaß gemacht … Ich denke, hier spielt etwas anderes eine wichtigere Rolle« (sie reckt das Kinn entschieden in die Höhe, ihre Augen funkeln wie die einer Katze und ändern sogar die Farbe: Noch vor einem Moment, mit einem suchend verlorenen Blick, schienen sie wie bei einem Baby wässrig-blau, doch nun bei der konzentrierten Entwicklung eines Gedankens werden sie stahlgrau, der Kameramann musste ganz aus dem Häuschen sein, man trifft nicht oft auf ein so ausdrucksstarkes Gesicht, auf dem sich wie auf einer ruhigen Wasseroberfläche alle Bewegungen unter dem Wasser als Farbänderungen spiegeln), »weißt du was wirklich entscheidend Einfluss hatte? Dass ich ein Papa-Kind war! In der Kindheit war mein Vater die Schlüsselfigur, er hat mich malen gelehrt, fuhr mich jeden Morgen in die Kunstakademie, er war ziemlich lang die unangefochtene Autorität. Und ehrlich gesagt, halte ich ihn für einen noch zu entdeckenden Künstler, von ihm gibt es faszinierende Sachen, besonders im Abstrakten, aber du kennst ja die Einstellung der Sowjetspießer gegenüber nicht gegenständlicher Kunst … Eigentlich spannend, wenn man bedenkt – und vielleicht hast du ja recht, was den Erfolg von Frauen angeht –, dass alle Mädels, die ich kenne und die sich untereinander helfen, Papa-Kinder sind, und wie sieht’s bei dir aus, Daryna? (Die Brünette nickt schweigend). Dieses Phänomen taucht sogar in der Folklore auf: In allen Märchen steht die Tochter mütterlicherseits letztlich auf der Verliererseite, während die Tochter väterlicherseits einen Sack voller Reichtümer nach Hause bringt, weil sie einfach fleißig ist, während die Mama-Tochter eine Faulenzerin ist, oder sie ist einfach dumm, unerzogen und ungebildet – wir würden heute wahrscheinlich von sozial bedingten Verhaltensweisen sprechen. Diese Mutter-Töchter haben keine Ahnung, wie sie mit anderen Menschen umgehen sollen, wie man sich auf bescheidene Art beliebt macht und damit...