Chinas Aufstieg, Post-Corona-Ökonomie, Klimawandel
E-Book, Deutsch, 178 Seiten
ISBN: 978-3-17-039963-1
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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1 Zehn Jahre Wohnungsboom: Markt außer Kontrolle?
Oliver Lerbs
Zusammenfassung
Seit gut zehn Jahren kennt die Entwicklung der Immobilienpreise in Deutschland nur eine Richtung: aufwärts. Sowohl das Mieten als auch das Kaufen von Wohnungen und Häusern wird immer teurer, allen voran in den großen Ballungszentren, zunehmend aber auch in ländlicheren Regionen. Für immer mehr Menschen werden die monatlichen Kosten der »eigenen vier Wände« zu einer echten Herausforderung. Dies hat Folgen: Stadtviertel, die einst durch das vielfältige Miteinander von Haushalten unterschiedlicher Größe, Alters- und Einkommensklassen geprägt waren, entwickeln sich immer häufiger zu Einheitsgegenden, in denen eine bestimmte Gruppe das Erscheinungsbild dominiert. Die Politik versucht seit Jahren, dieser Entwicklung zu begegnen. Hinter schlagkräftigen Begriffen wie der »Mietpreisbremse«, dem »Mietendeckel« oder dem »Baukindergeld« verbergen sich wirtschaftspolitische Maßnahmen, mit denen der Preisauftrieb gebremst und mehr Menschen der Eigentumserwerb ermöglicht werden soll. Und dennoch, ein Ende der Entwicklung ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Auch während der Corona-Pandemie stiegen die Preise weiter, allen Maßnahmen zum Trotz und teils sogar stärker als zuvor, weil Menschen das eigene Zuhause noch mehr zu schätzen lernten. Wie konnte es dazu kommen? Was erklärt den scheinbar unaufhaltsamen Preisanstieg? Wie sind die bisherigen Politikmaßnahmen zu bewerten und was müsste eigentlich passieren, damit Wohnen auch in Zukunft für alle Menschen bezahlbar bleibt? Diesen und weiteren Fragen geht Oliver Lerbs im vorliegenden Beitrag auf den Grund. Es zeigt sich, dass die steigenden Preise nicht einseitig erklärt werden können, sondern auf ganz verschiedene Ursachen zurückzuführen sind, darunter auch Maßnahmen zum Klimaschutz, die gesellschaftspolitisch inzwischen eine hohe Priorität genießen. In dem sich daraus ergebenden Spannungsfeld sei es nicht zielführend, den Entwicklungen mit einseitigen Maßnahmen wie etwa der Mietpreisbremse zu begegnen. Stattdessen schlägt Lerbs andere, integrierte Ansätze vor, um den Menschen hierzulande auch in Zukunft noch bezahlbares Wohnen zu ermöglichen. Überall. 1.1 Einleitung
Der Boom am deutschen Wohnungsmarkt zählt zu den wichtigsten Entwicklungen der letzten zehn Jahre. Die Berichterstattung über steigende Wohnungspreise ist geradezu explodiert, die Politik hat die Lösung der »neuen Wohnungsfrage« ganz nach oben auf ihre Agenda gesetzt. Auch die Volkswirtschaftslehre (VWL) zeigt wieder intensives Interesse an wohnungswirtschaftlichen Fragestellungen. Selbst die Coronakrise konnte den Trend steigender Wohnungspreise bislang nicht stoppen. Auch im Bundestagswahlkampf hat die Diskussion um die »richtige« Wohnungspolitik – im Brennglas um einen bundesweiten Mietendeckel – eine zentrale Rolle gespielt. Das Gut Wohnen befriedigt gleich eine Vielzahl menschlicher Bedürfnisse. Ob freistehendes Eigenheim oder Hochhaus, jede Wohnung1 bietet zunächst einmal ein Dach über dem Kopf. Darüber hinaus ist die Wohnung privater Rückzugs- und Gestaltungsraum und Ort des Lebensalltags mit Familie und Freunden. Lage und Zustand der Wohnung beeinflussen maßgeblich individuelle Entfaltungsmöglichkeiten, Gesundheit und Wohlbefinden sowie die Sozialisierungschancen von Kindern. Die Wohnungsausgaben nehmen zugleich einen großen Teil des Haushaltsbudgets in Anspruch. Für viele Menschen ist die Wohnung zudem wichtigste Vermögensanlage. Aufgrund dieser Alleinstellungsmerkmale steht das Wohnen unter besonderem Schutz des Staates. In kaum einem anderen Bereich – mit Ausnahme vielleicht der Arbeitsmarktpolitik – dürfte die öffentliche Zustimmung zu in der VWL traditionell negativ bewerteten Maßnahmen wie Preisregulierung, Subventionen oder sogar quasi-staatlicher Zuteilung so groß sein wie in der Wohnungspolitik. Aber ist der Wohnungsmarkt tatsächlich »außer Kontrolle«? Oder volkswirtschaftlich gefragt: Gibt es belastbare Hinweise auf eine mangelnde Funktionstüchtigkeit des Marktes oder Verteilungskonflikte, die ein beherztes staatliches Eingreifen rechtfertigen? Werden langfristige Folgeschäden dabei möglicherweise übersehen? Und wie ist es überhaupt zu dem anhaltenden Wohnungsboom gekommen, wo Deutschland doch schon in weiten Teilen als fertig gebaut und der Wohnungsmarkt als gesättigt galt? Der vorliegende Beitrag hat zum Ziel, die oben aufgeworfenen Fragen aus volkswirtschaftlicher Perspektive heraus verständlich und kompakt zu beantworten. Zur Erörterung der zentralen Aspekte werden etablierte ökonomische Konzepte verwendet. Auch die Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftspolitischen Beantwortung der »neuen Wohnungsfrage« werden diskutiert. Der Beitrag gliedert sich wie folgt: Im nachfolgenden, zweiten Abschnitt werden zunächst die wesentlichen Facetten des Wohnungsbooms anhand geeigneter Statistiken nachvollzogen. Im dritten Abschnitt werden die von der Wirtschaftsforschung identifizierten Ursachen des Booms erörtert. Im vierten Abschnitt werden drei besonders brisante Aspekte skizziert, die mit den aktuellen Entwicklungen in Verbindung stehen: die zunehmende Wohnkostenbelastung, die abnehmende Erschwinglichkeit von selbstgenutztem Wohneigentum und die Veränderung der sozioökonomischen Struktur der Städte. Die Möglichkeiten und Grenzen einer wirtschaftspolitischen Gestaltung und möglichen Lösung der Wohnungsknappheit werden im fünften Abschnitt diskutiert. Neben bereits getroffenen Maßnahmen werden Maßnahmen vorgestellt, die derzeit noch erforderlich sind, um zu einer dauerhaften Entspannung des Wohnungsmarkts beizutragen. Der Beitrag schließt mit einem Fazit. 1.2 Die wichtigsten Facetten des Wohnungsbooms
1.2.1 Steigende Mieten und Kaufpreise
Im Fokus des Wohnungsbooms stehen die rasant steigenden Wohnungspreise. Im Vergleich zum Jahr 2009 sind die Kaufpreise von Wohnimmobilien deutschlandweit um 75 % gestiegen, in den wichtigsten Großstädten sogar um 130 % (vgl. Bundesbank 2021, S. 62). Der Anstieg der Wohnungskaufpreise ist damit erheblich stärker als das durchschnittliche Wachstum der Immobilienpreise in den Ländern der Eurozone im selben Zeitraum ( Abb. 1). Etwas weniger stark gestiegen sind die Wohnungsmieten, auch da Mieterhöhungen in laufenden Bestandsverträgen schon vor Beginn des Booms reguliert waren.2 Betrachtet man allein die Erst- und Wiedervermietungsmieten, so beträgt der Anstieg gegenüber 2009 deutschlandweit 40 % und in den wichtigsten Großstädten etwa 55 % (vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung 2018, S. 338). Das Niveau der Bestandsmieten (nettokalt) erhöhte sich zwischen 2009 und 2019 um lediglich 14 %. Aus Perspektive der VWL sind die rasant steigenden Wohnungspreise ein klares Zeichnen dafür, dass auf dem Wohnungsmarkt – oder genauer formuliert: auf den vielen lokalen Wohnungsmärkten – ein Ungleichgewicht zwischen Nachfrage und Angebot bestehen muss. Es gibt, gemessen an der hohen Nachfrage, schlicht zu wenige oder ungeeignete Wohnungen an gefragten Standorten. Diese Knappheit kann aus ökonomischer Sicht eine Vielzahl möglicher Ursachen haben: eine gestiegene Kaufkraft der Haushalte, veränderte Wohnpräferenzen in Richtung der (Innen-)Städte, eine steigende Zahl an Nachfragern durch Zuwanderung und weitere mehr. In einer Mieternation wie Deutschland sind steigende Wohnungspreise für die meisten Bürger ein Ärgernis. Aus ökonomischer Sicht erfüllen sie jedoch die wichtige Funktion, über Gewinnanreize zusätzlichen Wohnungsbau anzuregen und so Abb. 1: Entwicklung der Kaufpreise von Wohnimmobilien (Quelle: Eigene Darstellung und Berechnungen auf Basis von Angaben der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich) wieder für einen langfristigen Ausgleich der beiden Marktseiten zu sorgen. Dies ist zwar einleuchtend, doch schließt sich unmittelbar die Frage an, wie lange es dauern wird, bis die vorhandene Angebotslücke geschlossen ist. Der britische Ökonom John Maynard Keynes unterstrich in seinem wohl berühmtesten Satz, dass eine zu große Fokussierung auf die lange Frist bei der Lösung drängender gesellschaftlicher Probleme in die Irre führt: »in the long run, we are all dead« (Keynes 1923, S. 80). In der Tat behindern restriktive Flächennutzungspläne, ambitionierte baurechtliche Vorgaben, langwierige...