E-Book, Deutsch, 91 Seiten
Reihe: Fachbücher für jede:n
Erkennen, verstehen, vorbeugen. Das Elternbuch
E-Book, Deutsch, 91 Seiten
Reihe: Fachbücher für jede:n
ISBN: 978-3-8497-8245-0
Verlag: Carl Auer Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
In diesem Buch erfahren Eltern, wie sie zu ihrem Kind in der solchen Krise Kontakt aufnehmen und hilfreiche Gespräche mit ihm führen können. Der erfahrene Kinder- und Jugendpsychiater Wilhelm Rotthaus gibt Hinweise, um das Ausmaß der Suizidgefahr einzuschätzen, und informiert über die notwendigen Maßnahmen, die in dieser Situation zu treffen sind.
Ein hilfreiches Konzept, das Leben retten kann!
Autoren/Hrsg.
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SUIZIDABSICHTEN UND SUIZIDHANDLUNGEN VERSTEHEN
Das Erschrecken über den Wunsch der Jugendlichen, sich das Leben zu nehmen
Der Versuch eines Menschen oder auch nur der von ihm geäußerte Wunsch, sich selbst das Leben zu nehmen, ist schwer zu verstehen. Alle, die davon hören, reagieren zunächst mit großem Erschrecken. Sie werden konfrontiert mit dem, was keiner wirklich zu begreifen vermag: mit dem Tod. Auch berührt ein solcher Wunsch eine kaum diskutierte Sicherheit, die niemand infrage stellen möchte: Selbstverständlich will ich leben! Geht dieser Wunsch von Kindern und Jugendlichen aus, ist das Erschrecken besonders groß: Sie haben doch das ganze Leben noch vor sich! Sie rütteln mit ihrem Verhalten an einem Tabu, das die Gesellschaft aufgebaut hat: Das Leben ist lebenswert auch dann, wenn Not und Last zuweilen erdrückend erscheinen. Als Ausnahme wird am ehesten noch anerkannt, wenn am Ende des Lebens Einschränkungen und Schmerzen so groß sind, dass ein Leben in Würde nicht mehr möglich ist. Dieses Erschrecken muss erst bewältigt werden, bevor Menschen in der Lage sind, sich für ein Verstehen der Motive zu öffnen, die körperlich gesunde junge Menschen veranlassen können, sich selbst das Leben zu nehmen. Für Sie als Eltern ist dieser Versuch besonders schwer, da Sie durch den Todeswunsch Ihres Kindes unmittelbar selbst betroffen sind. Sie quälen sich mit der Frage: Wie kann das sein, dass mein Kind nicht mehr leben möchte? Und ganz unwillkürlich folgt die weitere, noch viel quälendere Frage: Was habe ich getan oder nicht getan, dass so etwas möglich ist? Könnte es sein, dass ich schuld daran bin? Diese letzten Fragen wird auch die Wissenschaft Ihnen nicht beantworten können. Aber es lässt sich sagen, dass Sie der wichtigste Teil der Lösung sind, damit Ihr Kind sein Leben wieder bejaht. So hat die Wissenschaft gezeigt, dass auch für Jugendliche in wichtigen Lebenssituationen die Eltern und die Familie der wichtigste Bezugspunkt sind, selbst wenn aktuell Spannungen vorherrschen sollten. Wenn Sie als Eltern die Bereitschaft entwickeln, einem Verstehen der Motive und Handlungen Ihres Kindes näherzukommen, gehen Sie die ersten Schritte zu einer Lösung. Die folgenden Abschnitte dieses Kapitels sollen Sie dazu befähigen. Die Jugendliche will sterben, zugleich aber auch leben
In Kapitel 1 (siehe S. 9) wurde bereits auf das grundlegende Merkmal verwiesen, das Suizidgedanken und Suizidhandlungen jeweils auszeichnet. Die Person will beides: einerseits leben und andererseits angesichts der unverrückbar erscheinenden Lebensumstände sterben. In jedem Einzelfall sind beide Tendenzen zu beachten, auch wenn sie jeweils unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Wer nur eine Seite in den Blick nimmt, verfehlt ein Verstehen der Gedankenwelt des Jugendlichen. Denken Sie sich eine Linie zwischen zwei Polen: auf der einen Seite »sterben wollen« und auf der anderen Seite »unter veränderten Lebensumständen leben wollen«. An welchem Punkt zwischen diesen beiden Polen das Denken und Erleben eines Jugendlichen zu verorten ist, ist in jedem Einzelfall und dann auch zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich. Zuweilen ist die Hoffnungslosigkeit so groß, dass das Sterbenwollen ganz im Vordergrund steht; in anderen Zeiten überwiegt der Wunsch nach Veränderung der Umweltbedingungen. Der Jugendliche, der sich das Leben nehmen will, erlebt sich ohnmächtig und hilflos gegenüber einer als übermächtig angesehenen Umwelt. Er sieht keine Chance, sich unter den gegebenen Umweltbedingungen autonom und selbstwirksam zu verhalten. In sehr viel selteneren Fällen sieht er sich erdrückt von einem ihm auferlegten Übermaß familiärer Verantwortung, aus der er sich allein nicht zu befreien vermag. In jedem Fall erkennt er keinen Möglichkeitsraum, in dem er Entwicklungsschritte im Sinne seiner Entwicklungsaufgaben vollziehen kann. Die Zukunft erscheint versperrt, mit den selbst erlebten Ressourcen nicht erreichbar. Daraus folgen Resignation, Rückzug, Einsamkeit. Aus diesem Erleben heraus vermeidet der Jugendliche mögliche Schritte aus der verzweiflungsvollen Situation. Alle anderen Handlungsalternativen als die Selbsttötung würden ihm nur wieder – so fürchtet er – die Ineffektivität des eigenen Verhaltens vor Augen führen. Im Zustand höchster Suizidalität erlebt der Jugendliche seinen Verhaltensspielraum als maximal eingeengt. Als einzig übrig bleibende autonome und als wirkkräftig imaginierte Handlungsmöglichkeit verbleibt die Gewissheit bzw. die Hoffnung, dass er den Zeitpunkt seines Todes selbst, in eigener Regie und selbstkontrolliert bestimmen kann. Das Symptom Suizidverhalten bekommt damit eine hohe Bedeutung im Sinne des Ziels, einen Rest an Selbstwerterleben aufrechtzuerhalten. Insofern ist auch diese Handlung auf das Leben hin konzipiert. Der Gedanke an den Suizid stellt dann selber die Zukunft dar als einziger annehmbarer zukunftsbezogener Zustand des Lebens. Die Bezogenheit der Suizidhandlung auf die Familie
Die Gedanken, die Pläne und die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, erscheinen als etwas höchst Persönliches angesichts der Endgültigkeit, die mit einer solchen Handlung verbunden ist. Andererseits aber beschäftigt sich der Jugendliche in der suizidalen Krise in hohem Maße mit Gedanken und Fantasien darüber, was seine Handlung bei den wichtigsten Personen seiner Umwelt auslösen wird. Und das sind auch im Jugendalter – wie Abschiedsbriefe und Gespräche mit Jugendlichen nach einem Suizidversuch zeigen – die Eltern und sonstige nahe Familienangehörige. Das schließt nicht aus, dass die Kränkung durch das Verlassenwerden seitens des Freundes in Einzelfällen der Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt. Es ist deshalb ein Missverständnis, einen Menschen in einer suizidalen Krise isoliert zu betrachten und seine Motivation zu suizidalem Handeln nur in ihm selber zu suchen. Die hohe Bezogenheit seiner Gedanken in einer suizidalen Krise auf seine wichtigsten Bezugspersonen verweist eindeutig darauf, dass er selbst sein Denken, Fühlen und Handeln im Kontext seines relevanten Beziehungssystems verortet. Selbstverständlich ist er als Mitglied dieses Systems an dessen Gestaltung in mehr oder weniger großem Umfang beteiligt gewesen. Der suizidale Mensch ist deshalb nicht einseitig Opfer seiner Bezugspersonen, auch wenn diese – wie das ganz grundsätzlich der Fall ist – seinen Handlungsspielraum weitgehend definieren. Die besondere familiäre Situation von Kindern und Jugendlichen, die Suizidhandlungen begehen, und ihre Ohnmacht, als lebensnotwendig erlebte familiäre Veränderungen zu bewirken, wurden in der Literatur mit der »These vom unlösbaren Problem« beschrieben. Hinter einem unlösbaren Problem steht meist eine erstarrte, rigide Familienkonstellation, die es mit sich bringt, dass alle Veränderungsimpulse abgewehrt werden. Da der Veränderungsdruck auf Kinder und Jugendliche angesichts der altersgemäßen Entwicklungsaufgaben aber oft sehr hoch ist, kann es geschehen, dass sie in der suizidalen Krise angesichts einer übermächtig erlebten Umwelt daran scheitern, die für ihr Leben notwendigen Veränderungsschritte zu vollziehen. Das Erleben von Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit lässt dann Gedanken an einen Suizid als einzig mögliche Problemlösung aufkommen. Zuweilen ist es schwer, den Hintergrund dafür zu erkennen, dass eine Familie in ihrer Entwicklung erstarrt ist. Orbach6 veranschaulicht dies an folgendem Fallbeispiel: EIN ZEHNJÄHRIGER JUNGE hatte bei zahlreichen Gelegenheiten versucht, sich umzubringen. Es sei jedoch unmöglich gewesen, eine Bedingung für sein Verhalten zu erkennen. Das Familienleben sei anscheinend normal gewesen, die Beziehungen des Jungen zu seiner Schwester waren zufriedenstellend. Die Familie habe weder den Verlust eines nahen Angehörigen erlitten noch irgendwelche schweren Krankheiten oder Störungen erlebt. Bemerkenswert sei gewesen, dass das Kind von seinen Freunden zurückgezogen gelebt habe und sehr stark an sein Zuhause gebunden gewesen sei. Die Familienanamnese habe dann zutage gebracht, dass die ältere Schwester ein Jahr zuvor suizidales Verhalten gezeigt habe. Erst als ihre Selbstmorddrohungen aufgehört hätten, seien sie bei dem jüngeren Bruder aufgetreten. Das habe den Eindruck erweckt, als brauche diese Familie Selbstmorddrohungen. Die weitere Therapie habe eine versteckte Krise in der Familie ans Licht gebracht. Der Vater habe über lange Zeit mit der Scheidung gedroht. Die Mutter habe mit Panik reagiert, habe diese aber hinter Zurückhaltung und Selbstkontrolle verborgen. Der Vater habe seine Scheidungsabsicht zuerst nach den Selbstmorddrohungen der Schwester und danach aufgrund der Suizidversuche seines Sohnes zurückgestellt. Als die Eltern angefangen hätten, während der Therapie über die Scheidung zu sprechen, hätten die Selbstmorddrohungen der Kinder sofort aufgehört. Ihr...