Die neue Freiheit in der Sterbekultur
E-Book, Deutsch, 189 Seiten
ISBN: 978-3-593-41157-6
Verlag: Campus
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Unser ganzes Leben lang streben wir nach Selbstbestimmtheit und Autonomie. Doch als Trauernde lassen wir uns unsere Toten stehlen. Wir haben gelernt, zu delegieren, uns auf 'Experten' zu verlassen. Und spätestens, wenn wir persönlich mit dem Verlust eines nahe stehenden Menschen konfrontiert sind oder wenn uns eine lebensbedrohliche Krankheit überkommt, erkennen wir schmerzlich, dass die alten Rituale nicht mehr passen.
Wir sind als Individuen und auch als Gesellschaft gefordert, eine neue Sterbe- und Trauerkultur zu entwickeln. Wollen wir unser Leben (bis zum Ende) gestalten oder nur verwalten? Wie ist es um den Wert der Individualität bestellt, wenn wir sie im entscheidenden Moment verschenken? Trauer sollte wie jede Krise nicht als lästiges Hindernis, sondern als langer Weg einer Veränderung verstanden werden. Dann erst können wir die Chancen dieser Erfahrung nutzen und erkennen: Auch allem Ende wohnt ein Zauber inne.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;Inhalt;8
1.1;Vorwort;12
2;Teil I;18
2.1;1. Der fremde Tod;20
2.1.1;»Outsourcing« des Sterbens;20
2.1.2;Die enteigneten Toten;23
2.1.3;Hilflose Trauer;26
2.2;2. Die stille Revolte;29
2.2.1;Vom Unbehagen zum Ungehorsam;29
2.2.2;Individuelle Freiheit und ihre Grenzen;31
2.2.3;Krisen in Perspektiven wandeln;33
2.3;3. Gemeinsam einsam;35
2.3.1;Der Tod »in Nahaufnahme«;35
2.3.2;Kult und Kultur des Sterbens;36
2.3.3;Wir konsumieren uns zu Tode;38
2.3.4;Moderne Gesellschaft – moderne Ängste;44
2.4;4. Memento mori: ein Blick zurück;48
2.4.1;Die Bedeutung von Totenritualen in der Geschichte;48
2.4.2;Das Individuum und das kollektive Gedenken;50
2.4.3;Der Tod als Weltverbesserer;52
2.5;5. Den Tod neu denken;56
2.5.1;Ungewissheiten aushalten;56
2.5.2;Trauer-Power: Die Kraft der Trauer;57
3;Teil II;62
3.1;6. Der Trauer eine Heimat geben;64
3.1.1;Ein Ort der Begegnung;64
3.1.2;Ein Trauerritual ist wie ein Bilderrahmen;67
3.1.3;Trauer braucht Vertrautheit;70
3.1.4;Sich Zeit nehmen zum Trauern;75
3.2;7. Der Tod und die Liebe;79
3.2.1;Was Sterbehemd und Brautkleid gemein haben;79
3.2.2;Abschied als Anfang einer neuen Verbundenheit;83
3.2.3;Geteilte Erinnerungen;85
3.2.4;Trauerzeit ist Lebenszeit;88
3.3;8. Jeder Abschied ist einzigartig;91
3.3.1;Individuelle Gestaltung statt Pomp;91
3.3.2;Kreativer Ungehorsam;94
3.3.3;Trauer ist ein Reifeprozess;97
3.4;9. Verwandlungen;101
3.4.1;Lebendigkeit ist unsterblich;101
3.4.2;Zeit für die großen Fragen;103
4;Teil III;106
4.1;10. Der Tod als Lehrmeister;108
4.1.1;Die a-mortale Gesellschaft;108
4.1.2;Vom Wert der Bindung;110
4.1.3;Leben in der Gegenwart;112
4.1.4;Unendliche Erwartungen;112
4.1.5;Verluste akzeptieren;114
4.1.6;Die Angst vor dem Alter;115
4.1.7;Grenzen der Kontrolle;115
4.2;11. Krise und Aufbruch;118
4.2.1;Krisenbewältigung als Lebenskompetenz;118
4.2.2;Die Unvorhersehbarkeit von Krisen;121
4.3;12. Verdrängte Verluste;124
4.3.1;Königsdisziplin Change Management;124
4.3.2;Der Aufstand des Individuums;126
4.3.3;Der Preis der Flexibilität;127
4.3.4;Die Kehrseite der Veränderungen;129
4.3.5;Überlebenden-Depression;131
4.4;13. Der Tod und sein Preis;134
4.4.1;Die Kosten-Nutzen-Brille;134
4.4.2;Friedhofszwang versus Vielfalt;136
4.4.3;Die TrauerOase;137
4.5;14. Der letzte Wille (Sterben und sterben lassen);138
4.5.1;Hilfe für die Hinterbliebenen;138
4.5.2;Selbstbestimmung am Ende des Lebens;139
5;Teil IV;144
5.1;15. Aus dem Schatten der Trauer;146
5.1.1;Die guten Ratschläge der anderen;146
5.1.2;Credo ergo sum;147
5.1.3;Die Bedeutung von Trauergruppen;150
5.1.4;Wer macht den ersten Schritt?;152
5.1.5;Berufsvorbereitung für Trauerbegleiter;153
5.1.6;Der Tod kommt immer unerwartet. Über Selbstverständlichkeiten und Tabus;154
5.2;16. Individuelle Abschiede;156
5.2.1;Der Tod hat viele Farben;156
5.2.2;Fünf Tage Abschied;157
5.2.3;Das eigene Hemd;158
5.2.4;Ein Fest für Horst;159
5.2.5;Reisebegleiter;160
5.2.6;Ahnengalerie;162
5.2.7;Ein Stein als Skulptur;162
5.2.8;Fußball für immer;163
5.2.9;Digitale Ewigkeit;164
5.2.10;Der letzte Tag – und ein Koffer;165
5.2.11;Ein handbemalter Sarg;166
5.2.12;Darf man erleichtert sein, wenn jemand stirbt?;167
5.2.13;Wenn Kinder trauern;169
5.3;17. Traueralltag am Arbeitsplatz;172
5.3.1;Funktionieren um jeden Preis;172
5.3.2;Verantwortung der Unternehmen – auch im eigenen Interesse;173
5.4;18. Fazit – Der Tod gehört ins Leben;176
5.5;Leseempfehlungen;185
5.6;Weitere Quellen und Artikel;189
Vorwort
Eine stille Revolte ist im Gang gegen die Vorschriften und Verordnungen zur Sterbekultur. Noch regieren Technik, Konventionen und Standards dort, wo wir selbst nicht steuern und gestalten können oder wollen. Der Tod wird, wie so vieles, "hergestellt". Dabei brauchen wir viel mehr Auseinandersetzung und Nähe, damit wir die Realität des Todes erfahren können. Denn eines ist gewiss: Entgehen werden wir dem Tod und der Erfahrung, Abschied nehmen zu müssen, nicht.
Vor nicht allzu langer Zeit lag in unseren Wäscheschränken das Totenhemd obenauf. Die Botschaft war klar: Mensch, bedenke, dass Du sterblich bist - memento mori. Die allermeisten unserer Zeitgenossen wussten mit diesem Satz jahrzehntelang nichts mehr anzufangen. Ich bin sicher: Das ist - wenn nicht Ursache - dann doch zumindest Ausdruck vieler krisenhafter Zuspitzungen, die uns heute beunruhigen.
"Wer bremst, verliert": Viel zu lange galten die Mantren eines auf messbare Leistungsfähigkeit reduzierten Menschenbildes außerhalb religiöser oder esoterisch geprägter Kreise als alternativlos. Zu viel Nachdenklichkeit war etwas für Spaßbremsen und Warmduscher, der Tod fand in Hollywood statt und in den Nachrichten. Das eigene Ende war kein Thema, bevor es nicht in greifbare Nähe rückte - und selbst dann nicht immer.
So viel Ignoranz hat unterschiedlichste, weit unterschätzte Folgen. Den beiden wichtigsten möchte dieses Buch entgegenwirken: Der Not der Hinterbliebenen und dem Niedergang der gerade heute wichtigen Kultur der Bewältigung von Verlusten.
Trauer braucht eine Heimat. Trauernde brauchen in besonderem Maß die Gewissheit des Geborgen- und Akzeptiertseins, um die erforderliche Ruhe für einen konstruktiven Trauerprozess zu finden. Diese Heimat boten bis vor nicht allzu langer Zeit traditionelle Gemeinschaften: Familie, Nachbarschaft und Gemeinde. Doch sie sind auf dem Rückzug. Und unsere gesellschaftlichen Institutionen springen nicht in die Bresche, sondern vernachlässigen ihre Fürsorgepflicht.
Der Tod braucht einen Platz im Leben. Die Ausgrenzung von Sterben und Tod hindert Hinterbliebene am bewussten Umgang damit und trägt so die Hauptschuld an individuellen und gesellschaftlichen Folgeschäden. Fix it, sell it or close it, sagt die Management-Ikone Jack Welch: Jede starrsinnig auf Wachstum fixierte Gesellschaft verdrängt Verlusterfahrungen. Wer nicht (mehr) leistet, passt nicht ins System und wird an den Rand gedrängt.
Doch selbst aus kühler, rein betriebs- oder volkswirtschaftlicher Sicht ergibt eine solche Maxime keinen Sinn. Denn ein bewusst gelebter Trauerprozess verläuft erheblich schneller und konstruktiver und schafft so die schnellstmögliche Reintegration Hinterbliebener in die Wertschöpfungskette. Weil aber die Gesellschaft wegsieht, bezahlt die Volkswirtschaft. Etwa 800?000 Menschen sterben in Deutschland jährlich. Nimmt man an, dass jeder von ihnen nur fünf trauernde Ehepartner, Kinder, Freunde hinterlässt, dann sind das jährlich vier Millionen Betroffene. Darunter unzählige Arbeitnehmer, die nur bedingt leistungsfähig sind, Patienten, die Therapie oder Psychopharmaka benötigen. Die sprunghaft ansteigenden Fallzahlen Depressiver und Burn-out-Betroffener sind in aller Munde. Ich bin überzeugt, dass verdrängte Trauer einen weit unterschätzten Anteil an diesen Phänomenen hat. Nicht nur, weil wir unfähig geworden sind, Trauernden zur Seite zu stehen. Sondern auch, weil wir selbst die enorm wichtigen und lehrreichen Erfahrungen bewussten Trauerns nicht zur Entwicklung unserer Persönlichkeit nutzen.
Die fundamentale Verlusterfahrung beim Tod eines nahestehenden Menschen lehrt - wenn sie angenommen und bewusst verarbeitet wird - den richtigen Umgang mit Brüchen anderer Art: Scheidungen, Job- und andere wirtschaftliche Verluste werden weniger fatal empfunden und besser verarbeitet. Die gesellschaftliche Verdrängung der Trauer bereitet den Boden für irrational-fatalistische lähmende Grundstimmungen, wie sie - auch infolge der medialen Herausstellung negativer Nachrichten - immer wieder zu beobachten sind.
*
Der Tod erklärt das Leben. Allerorten wird ein Verfall der Werte als Ursache vieler gesellschaftlicher Probleme beklagt. Voraussetzung für einen angemessenen Umgang miteinander ist Wertschätzung; der höchste Wert ist dabei das Leben. Den Wert des Lebens spürt nur, wer den Tod kennt. Denn wir brauchen immer Relationen, um bewerten zu können. Wer einmal die Präsenz des Todes begriffen hat, weiß sofort, was Respekt bedeutet. Wem diese Erfahrung verwehrt wird, gebühren mildernde Umstände bei der Beurteilung gesellschaftlichen Fehlverhaltens.
Unsere gesellschaftlichen Institutionen aber tragen nicht nur durch Unterschätzung und Ignoranz zur Verschärfung solcher Problematiken bei. Die in vielen Bundesländern regressive Gesetzeslage zum Thema Tod und Trauer beschränkt darüber hinaus die im Grundgesetz verankerten Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und Religionsfreiheit. Sargzwang und Friedhofsordnungen bevormunden die Menschen in wichtigen Bereichen, ohne dass ein ausreichend begründetes übergeordnetes öffentliches Interesse vorläge. Und sie nehmen uns damit vielfach die für einen konstruktiven Trauerprozess so wichtige Möglichkeit zu als angemessen empfundener Abschiednahme und Gedenken.
Am Ende werden Trauernde zu Kranken, weil die Menschen nicht mehr wissen, wie ihnen zu begegnen ist. Der Trend zu anonymen Bestattungen betrügt Hinterbliebene um den wichtigen Ort der Erinnerung.
Die Verdrängung des Todes aus dem Leben erzeugt in uns die Illusion von Unsterblichkeit - und raubt uns damit das Bewusstsein für den unschätzbaren Wert jeden Tages. Mehr noch: Wenn doch die wichtigste Ressource von allen - das Leben - unendlich scheint, wer erfasst dann noch die Bedeutung eines achtsamen Umgangs mit Ressourcen insgesamt? Ich bin überzeugt: Ohne memento mori muss jede Wertediskussion ins Leere laufen.
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Es gibt auch eine gute Nachricht: Sie halten dieses Buch in Händen. Damit sind Sie Teil einer wachsenden Minderheit, die entscheidende Fragen neu stellt. Und unter dem Eindruck des offensichtlichen Ungenügens der alten Antworten zu neuen Schlussfolgerungen kommt.
Vielleicht sind Sie in Trauer oder bereiten sich auf einen bevorstehenden Verlust vor. Dann wird dieses Buch Sie ermutigen: Stellen Sie sich den Fragen, die der Tod aufwirft: Wie hätte ich mir die Sterbestunde gewünscht? Was hätte ich gern gesagt und getan? Welche Form der Bestattung hätte mir wirklich gut getan? Wie finde ich den Mut, mich über vorgebliche Gegebenheiten und Konventionen hinwegzusetzen? Das Buch wird Ihnen helfen, Trauern als konstruktive Kraft begreifen zu lernen. Wie können wir mit Trauer leben? Können wir überhaupt damit leben? Müssen wir uns wirklich bemühen, so schnell wie möglich mit dem Trauern fertig zu werden, damit wir dann endlich "wieder" leben können?
Oder ist es nicht eher umgekehrt: Dass wir aus der Fähigkeit zu trauern viele Kräfte gewinnen, die unsere Leben bereichern. Ich möchte verhindern helfen, dass Sie gegen Ihre eigentlichen Bedürfnisse doch zu den vorgegebenen, leeren Ritualen greifen. Indem Sie das, was Sie beunruhigen könnte, dieses Mal zu Ende zu denken. Damit Sie Trauer als wertvolle Phase der Veränderung erfahren. Ich möchte Ihnen zeigen, wie viel Sie vom Tod, von Trauer für die Bewältigung von Lebenskrisen gewinnen können.
Vielleicht sind Sie auf der Suche nach Gründen für ganz offensichtlich Widersinniges, das sich dennoch täglich wiederholt. Sie fragen nach der Ursache für mutlose Weichenstellungen zulasten künftiger Generationen, für milchmädchenhaftes Missmanagement in Konzernen, allzu leichtfertigen Umgang mit Ressourcen? Dann wird dieses Buch Ihnen Denkanstöße und konkrete Hinweise darauf geben, wie uns das ganz reale Begreifen des Todes als absolute Grenze und der bewusste Umgang mit Trauer dabei helfen können, bessere Prioritäten zu setzen und vernünftiger zu agieren.
Es geht mir darum, uns Tod und Trauer wieder zueigen zu machen, in den eigenen Lebens- und Handlungshorizont zu integrieren, anstatt sie an Experten zu delegieren. Für die Wiederentdeckung unserer Kultur des Sterbens und Trauerns müssen wir selbst die Verantwortung übernehmen - besser heute als morgen. Denn das letzte Hemd ist bunt. Nur Mut - wir haben viel zu gewinnen!