Roman
E-Book, Deutsch, 432 Seiten
ISBN: 978-3-8271-8400-9
Verlag: CW Niemeyer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lieben. Und sich nach Gegenliebe sehnen.
Als Spross einer erfolgreichen britischen Scharfrichter-Dynastie hat der begabte und früh berufene Henker Rupert Beaufort jahrzehntelang sein Gewissen unter Kontrolle, seine Emotionen im Griff und die öffentliche Meinung auf seiner Seite. Hunderte von tadellos ausgeführten Exekutionen gehen auf sein Konto.
Doch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges muss er sich neuen, unerwarteten Herausforderungen stellen und immer größere Hürden überwinden, um seines makabren Amtes zu walten.
Auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn sieht er sich gezwungen, den italienischen Pianisten Sandro Magazzano, ein ehemaliges Wunderkind, hinzurichten: einen ebenfalls hochtalentierten Mann, der wie er bis zum Äußersten zu gehen bereit ist.
Jens Rosteck zeigt in seinem fesselnden Romandebüt, wie herrschende Moral und individuelle Gefühle zwei ungleiche Einzelkämpfer und Vorbilder in kaum lösbare Konflikte stürzen. Und wie problematisch Verkündung wie Vollstreckung der Todesstrafe zu allen Zeiten gewesen sind, wenn, wie hier, im England der Fünfzigerjahre, geltendes Recht mit Menschenwürde und dem ewigen Anspruch auf Zuneigung und Gerechtigkeit kollidiert.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1
Letztes Stündlein
Träume hatte Rupert sich schon seit Langem verboten. Erlebtes im Unterbewusstsein weiterzuspinnen, richtungslos abzuschweifen und die Ereignisse der letzten Jahre auch noch im Schlaf vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen, war strengstens untersagt. So hatte er es seinem Gewissen eingebläut. Und war, im Laufe der Zeit, gegen Anfechtungen jeglicher Art erfolgreich immun geworden. Dösend im Bett liegen zu bleiben und den Tag zu vertrödeln: Das kam nicht infrage. Abzuwägen, was besser sei oder richtiger gewesen wäre: sinnlos. Mit sich zu hadern, sich mit Fragen zu quälen, sich rastlos auf seinem Laken hin und her zu werfen oder fortgesetzt unter Selbstvorwürfen zu leiden – unnötig und pure Zeitverschwendung. Wankelmütig zu werden oder gar zu zweifeln war, so hatte er ein für alle Mal beschlossen, ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls was ihn betraf. Das gehörte sich nicht für ihn, einen entschlossenen, vorbildlichen Mann. Für ihn, Beaufort. Einen, nach allgemeinem Urteil, charakterstarken Scharfrichter. Den Gentleman unter den Henkern, wie die Presse ihn nannte. Den Routinier unter den Hangmen, so die Meinung seiner Kollegen. Den mutigen und unbestechlichen Nationalhelden, befanden einige Patrioten. Den Star unter den staatlich bestellten Todesengeln, so feierten ihn Freunde und trinkfreudige Kunden in seinem Lokal. Den Ersten im Lande, so das einstimmige Urteil der zuständigen Behörden. Den Besten seiner Zunft, davon war er selbst überzeugt. Träume waren etwas für Sentimentale und Nostalgiker. Träume waren ein Luxus, den man sich besser nicht leistete. Träume machten träge. Träume konnten einen schwer belasten. Träume führten dazu, dass man Gefahr lief, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Nein, nichts wäre törichter, als in der Vergangenheit zu verharren, sich mit Vorfällen zu befassen, an deren Verlauf oder Ausgang nichts mehr zu ändern war. Lieber richtete Rupert den Blick nach vorn. Befahl sich Zurückhaltung, verordnete sich Klarheit, ließ kein dunkles Wölkchen über seinen Gedanken schweben. Innere Einwände verscheuchte er. Und des Nachts wollte er wirklich nur eins: gründlich zur Ruhe kommen. Wegtauchen. So hatte er es schon immer gehandhabt. Einfach abschalten. Für ein paar Stunden wenigstens. Sich allmählich auf seine nächste Aufgabe vorbereiten. Präsent sein und konzentriert. Kräfte sammeln. Um seine Pflicht zu tun. Voller Entschlussfreudigkeit. So wie an diesem Junimorgen im Jahre 1956. Er stellte fest, dass er tief und gut geschlafen hatte, ausreichend allemal. Auch wenn er erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, nachdem er im Pub noch klar Schiff gemacht hatte. Träume, zumindest angebrochene, fochten ihn nicht an. Träume, die keinen Anfang und kein Ende kannten, vergaß man auf der Stelle. Träume waren ein Irrtum. Träume führten zu nichts. Sein vierundzwanzigstes Jubiläum im Dienst der britischen Krone rückte näher. Fast ein Vierteljahrhundert hatte Beaufort perfekt funktioniert. Zur allgemeinen Zufriedenheit. Hinrichtung für Hinrichtung, ob nun in London, Manchester oder Dublin. Ob daheim im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Irland, in Österreich oder im Nildelta. Hatte Aufträge ausgeführt, vor denen sich die meisten, die er kannte, gefürchtet hätten. Vor denen sie zurückgeschreckt wären. Vorbildlich hatte er agiert. Konsequent und kompromisslos. War kreuz und quer durch Europa gereist, um seiner Nation zu Diensten zu sein, ohne sich zu beschweren oder auch nur zu murren. War bei Wind und Wetter in die entlegensten Ecken des Landes geeilt und hatte dabei keine Strapazen gescheut. Hatte in heiklen Situationen seinen Mann gestanden, nie gekniffen. Und kein einziges Mal hatte er versagt, gezaudert oder seine Vorgesetzten enttäuscht. Nie war er verhindert oder ernsthaft krank gewesen. Nie hatte er Details ausgeplaudert. Verschwiegen wie ein Grab war Beaufort. Fehler waren ihm keine unterlaufen, seine Weste war weiß. Was er tat, hatte – wie er es sah – mit Gewalt nichts zu tun, schon gar nicht mit Grausamkeit, und an seinen Händen haftete auch nicht der kleinste Tropfen Blut. Nicht einmal ein Spritzer. Mit allem was er tat, hinterließ er weder Flecken noch Spuren: Seine Hände machte er sich nicht schmutzig. Sein Herz blieb heiter. Stattdessen beendete Rupert Lebensläufe. Machte Schluss mit den Schicksalen Dritter. Unerfreuliche, unglückliche, verpfuschte, schlimme und unbeschreiblich schreckliche. Was einzig zählte, war, dass man sich auf ihn verlassen konnte, und das traf seit 1932 zu. Als er als Assistent begonnen hatte. Seit 1941, nach seiner Beförderung, hatte er als Chef das Sagen, bestimmten seine Anweisungen die Regeln beim Hängen. Seitdem war er ein Meister seines Fachs. War unumstritten und unersetzlich. Und auch so etwas wie ein Künstler. Ein Todeskünstler. Der heutige Tag durfte also anbrechen, wenn es nach ihm ging, und der Tag brach auch tatsächlich an. So zuverlässig wie er selbst. Fast mechanisch. In wenigen Sekunden würde er aufstehen und sich ankleiden, sich ein paar Stunden später auf den Weg nach London machen und sich während der Zugfahrt gedanklich vorbereiten auf die Tötung eines ihm völlig unbekannten Menschen. Wie so oft würde sie am Samstagmorgen, pünktlich um neun Uhr, anberaumt werden, reibungslos vonstattengehen und, dafür würde er während der Durchführung Sorge tragen, niemandem Anlass zur Klage bieten. Keine zwanzig Sekunden würde es dauern, die Strafe zu vollstrecken. Keine Minute würde vergehen zwischen dem gemeinsamen Verlassen der Zelle und dem jähen Hinabfahren des Delinquenten ins Bodenlose, zwischen letztem Geleit und Genickbruch, zwischen Fürsorge und Eindeutigkeit. Präzision lautete Ruperts oberstes Gebot, Sorgfalt und Umsicht waren entscheidend. Zwischen achthundert und achthundertfünfzig Verurteilte und Verbrecher hatte er, als Arm des Gesetzes, im Laufe seines Lebens schon ins Jenseits befördert. Im Namen des Volkes, als Saubermann. Wie viele genau, wusste nur er allein und würde es, soweit möglich, niemandem verraten. Das ging nur ihn etwas an. Er war niemandem Rechenschaft schuldig. Wie viele davon Männer und wie viele Frauen gewesen waren, spielte keine Rolle und tat, selbst wenn man ihn danach gefragt hätte, nichts zur Sache. Wie viele davon womöglich unschuldig gewesen waren oder eine mildere Strafe verdient gehabt hätten, kümmerte ihn nicht. Und änderte auch nichts an seiner Einstellung. Das gehörte zu den Dingen, die nicht er zu beurteilen hatte. Sondern eine höhere Instanz. Ihm genügte die Gewissheit, das absolut Richtige zu tun. Das Notwendige und Unvermeidbare. Etwas, für das nur jemand wie er infrage kam. Etwas, für das er ausersehen war. Etwas, das er aus dem Effeff beherrschte. Und fertigbrachte, ohne sich oder die ihm Anvertrauten unnötig zu besudeln. Etwas, worauf er stolz war und das er mit einem wohligen, nur ihm bekannten Ehrgefühl verband. Somit erwachte Rupert an diesem Freitagmorgen, ohne geträumt zu haben. Ganz so wie geplant. Augenblicklich spürte er, wie die gewohnte Energie in seine Glieder fuhr, spürte die vertraute Anspannung, den Tatendrang. In Gedanken spielte er das kommende Wochenende durch, beruhigende, befriedigende Gedanken, fühlte sich gewappnet und stark. Er war bereit. Rupert Beaufort schlug die Augen auf. Und wusste sofort, was ihm heute bevorstand. Zum zigsten Male. Er war mit sich im Reinen. Die Lage war eindeutig: Bei ihm gab es auch nicht die geringste Persönlichkeitsspaltung, weder eine gute noch eine schlechte Seite. Unterscheidungen waren zwecklos. Denn immer war er Kneipenwirt und Vollstrecker zugleich. Ausschenker und Handlanger. Beide Metiers verlangten Genauigkeit und Ausdauer, Belastbarkeit und auch Menschenfreundlichkeit. Wirt sein und Henker sein: Das war gleichwertig. Beide Berufe bereiteten ihm Freude. Das merkte man ihm an – so umsichtig und beflissen wie er nun einmal war. Fleißig und eifrig: Dieses Zeugnis hätte ihm jeder Prüfer ausgestellt. Makellosigkeit und Professionalität zur Schau stellend, ohne jedoch irgendein Aufheben davon zu machen. Ganz gleich, was er tat, immer bemühte er sich um grundanständiges Handeln. Er erledigte, was man von ihm erwartete, blieb freundlich und unauffällig. Einer eigenen Meinung enthielt er sich. Er war in der Lage, seinen Mund zu halten, wenn es darauf ankam, und mit Tatkraft zu Werke zu gehen, wenn es so weit war. Dabei war es völlig egal, ob es sich darum handelte, ein frisches Bier zu zapfen, einen Brandy zu servieren, einen Aschenbecher zu leeren, einen Kartenspieltisch mit einem feuchten Lappen abzuwischen oder einem Gefangenen die Hände auf dem Rücken zu verbinden, bevor er ihn aus der Todeszelle zur Exekution führte. Bevor er ihm das Gefühl gab, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Bevor er ihn behutsam zu seinem eigentlichen Bestimmungsort geleitete. Bevor er ihn von seiner Seelenpein erlöste. Rupert blinzelte und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment betrachtete er sein blasses und gleichförmiges, genau einundfünfzig Jahre altes Gesicht im länglichen Spiegel neben dem Kleiderschrank und war zufrieden, dass es keine besonderen Merkmale aufwies. Und nur erst wenige Falten. Rupert genoss seine offenkundige Durchschnittlichkeit, ja Unscheinbarkeit. Was er getan hatte und was er heute und morgen wieder tun würde, konnte man ihm nicht ansehen. Was er auf dem Kerbholz hatte, blieb unbemerkt. Er selbst sah sich als Ausbund an Unbescholtenheit und Tugend. Seine rekordverdächtige Hinrichtungsbilanz und sein Doppelleben hätte ihm, wie er da so lag, wohl niemand zugetraut, ausgeschlafen und in einen...