Wie uns die Energielobby hinters Licht führt
E-Book, Deutsch, Band 1, 96 Seiten
Reihe: quergedacht
ISBN: 978-3-86581-619-1
Verlag: oekom
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection
Nutzung der Atomkraft wollen nicht enden. Zeitgleich stellt die neue Bundesregierung Laufzeitverlängerungen in Aussicht, werden Lobbyisten nicht müde, die umstrittene Technologie als probates Mittel gegen die Erderwärmung zu preisen. Wer soll das verstehen? Der Band 'Mythen der Atomkraft' liefert das überfällige, atomkritische Know-how zur Debatte, zeigt Alternativen auf und entlarvt die Atomenergie als das, was sie ist: eine unverantwortliche und teure Risikotechnologie.
Zielgruppe
Interessierte an Atomenergie, Energiepolitik, aktueller Debatte
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1;MYTHEN DER ATOMKRAFT;1
2;Inhaltsverzeichnis;5
3;Vorwort: Aus Erfahrung klug werden;7
4;Einleitung: Forsmark – 22 Minuten Angst und Schrecken;11
5;1 Erster Mythos: Die Atomkraft ist sicher;16
5.1;Das Restrisiko des Vergessens;15
5.2;Das schleichende Gift der Routine;21
6;2 Zweiter Mythos: Die Gefahren durch Missbrauch und Terror lassen sich beherrschen;29
6.1;Angriffe durch Selbstmordattentäter würden 9/11 in den Schatten stellen;32
6.2;Tödliche siamesische Zwillinge: ziviler und militärischer Einsatz der Atomenergie;36
7;3 Dritter Mythos: Atommüll? Kein Problem!;41
7.1;Kein Ort für Endlager – nirgends;43
8;4 Vierter Mythos: Es gibt genug vom Brennstoff Uran;50
9;5 Fünfter Mythos: Atomkraft dient dem Klimaschutz;55
9.1;Wie die Atomenergie dem nachhaltigen Klimaschutz im Wege steht;58
9.2;Die Konkurrenz zwischen Atomkraft und Erneuerbaren verschärft sich;61
9.3;Ein atomarer Klimaschutz ist unrealistisch;65
10;6 Sechster Mythos: Wir brauchen längere Laufzeiten;68
10.1;Der Wortbruch der Atomkonzerne;71
10.2;Was bringt ein Abschöpfen der Extragewinne?;73
10.3;Den Ausstieg aus der Atomenergie "smart" gestalten;75
11;7 Siebter Mythos: Die Atomkraft erlebt eine Renaissance;76
11.1;Die Erneuerbaren sind weltweit im Kommen;78
11.2;Subventionen gegen die nukleare Depression;83
12;8 Das Ende vom Mythos Atomkraft;92
13;9 Vor der Entscheidung: Die Zukunft der Energieversorgung;96
14;Literatur;105
1
Erster Mythos: Die Atomkraft ist sicher
Was sich an jenem Mittag im Sommer 2006 an der schwedischen Ostseeküste abspielte, erinnerte fatal an zwei Ereignisse, die seit Jahrzehnten als Menetekel die zivile Nutzung der Atomenergie überschatten: die Reaktorkatastrophen von Harrisburg (im März 1979) und Tschernobyl (im April 1986). Schwer nachvollziehbare Planungsmängel, der fehlerhafte Einbau wichtiger Bauteile, unverzeihliche Schlampereien bei der Wartung und nicht zuletzt: ein naives Vertrauen in eine hochsensible Technik – all das kannte man schon. Nicht nur aus Harrisburg und Tschernobyl, auch aus der Wiederaufarbeitungsanlage im britischen Sellafield, vom japanischen Brutreaktor Monju oder aus der Wiederaufarbeitungsanlage von Tokaimura in Japan, von einem Abklingbecken des ungarischen Atomkraftwerks Paks und auch von den deutschen Reaktorstandorten Brunsbüttel oder Krümmel an der Elbe. Wo Menschen arbeiten, machen sie Fehler. Wir können von Glück reden, dass die nach jedem Unfall aufs Neue als »unerklärlich« eingestufte Verkettung von Fehlleistungen nicht immer so katastrophale Folgen zeitigt wie 1986 in der Ukraine und seinen Nachbarstaaten. In Block 1 des Atomkraftwerks Forsmark, gut 100 Kilometer nördlich der schwedischen Hauptstadt Stockholm, blieb es bei 22 Minuten Angst und Schrecken für die Reaktormannschaft vor Ort und ein paar schweren Zweifeln an der Zuverlässigkeit des Reaktorbetreibers Vattenfall. Diese bohrenden Zweifel nährt das nordische Staatsunternehmen seither auch anderswo, namentlich an seinen deutschen Standorten Brunsbüttel und Krümmel. Der Name Forsmark steht seither für den vermutlich brisantesten Unfall in einem europäischen Atomreaktor seit der Katastrophe von Tschernobyl. Die Fachleute im In- und Ausland, die die Abläufe jenes Tages zu rekonstruieren versuchten, mussten erschrocken erkennen: Es hätte viel schlimmer kommen können. Und: Es kann jederzeit schlimmer kommen. Das Restrisiko des Vergessens
Mit erkennbarem Wohlgefallen beobachten die Verfechter der Atomenergie in vielen Industrieländern eine – wie sie es nennen – »Entideologisierung« der Auseinandersetzung über diese Energie. Unter dem Eindruck des Klimawandels und einer sich verschärfenden Verknappung der fossilen Energieressourcen sei die Tonlage »sachlicher und ruhiger« geworden. Vor allem über eines frohlocken die Freunde der nuklearen Stromproduktion, wenn nicht gerade ein Wahlkampf die Entspannung stört: Der politisch-gesellschaftliche Diskurs hat sich über die Jahrzehnte von den fundamentalen Sicherheitsproblemen der Atomtechnik wegverlagert, hin zu Fragen der Ökonomie, des Klimaschutzes, der Ressourcenschonung oder der Versorgungssicherheit. Atomenergie könnte so in der öffentlichen Wahrnehmung zu einer Technik unter vielen werden, ihre Nutzung allein eine Abwägungsfrage, nicht anders als die zwischen Kohle- und Erdgaskraftwerk. Die Kernspaltung wird so zunehmend integriert in das von den Ökonomen definierte Dreieck der energiepolitischen Debatte aus Wirtschaftlichkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglichkeit. Dass Katastrophensicherheit nicht zu den Zielen der Atomenergie zählt, stört ihre Anhänger weniger. Im Gegenteil, sie sind hochzufrieden. Immer häufiger gelingt es den Freunden der Atomenergie, das einzigartige Katastrophenpotenzial dieser Technik hinter einer Mauer von Argumenten zu verbergen, die alle in erster Linie eines sicherstellen sollen: Ablenkung von den grundlegenden Sicherheitsfragen. Diese Entwicklung ist nicht zufällig. Sie ist Ergebnis einer Strategie, die von Betreibern und Herstellern in den führenden Atomenergieländern viele Jahre mit zäher Beharrlichkeit verfolgt und mit Bedacht vorangetrieben wurde. Eine erfolgreiche Ablenkung mag die öffentliche Debatte vorübergehend ruhigstellen – doch die Wahrscheinlichkeit einer großen Katastrophe macht die Notwendigkeit einer solchen Debatte nicht kleiner. Die Gefahr des Super-GAUs, also eines Unfalls, der über den in den Sicherheitssystemen eingeplanten »Größten Anzunehmenden Unfall« (GAU) hinausgeht, und die Tatsache, dass er niemals ausgeschlossen werden kann, war und ist der Urgrund des Fundamentalkonflikts um die Atomenergie. Auf dieser realen Gefahr basieren die ersten und die letzten Argumente gegen diese Form der Energieumwandlung. Mit ihr steht und fällt die Akzeptanz der Atomenergie – regional, national und global. Seit Harrisburg und erst recht seit Tschernobyl war der »katastrophenfeste« Atommeiler die Verheißung, mit der die Atomwirtschaft hoffte, irgendwann die öffentliche Zustimmung für ihre Technologie zurückzugewinnen. Schon vor drei Jahrzehnten verkündeten die Hersteller das große Versprechen unter der Chiffre des »inhärent sicheren Kernkraftwerks«. Die Amerikaner nannten diese Meiler der Zukunft »Walk away«-Reaktoren. In ihnen sollte eine Kernschmelze oder ein vergleichbar schwerer Unfall physikalisch durch sogenannte »passive Sicherheitssysteme« ausgeschlossen sein. »Selbst beim schlimmsten aller denkbaren Unfälle«, schwärmte damals der führende Manager eines US-Herstellers von Atomreaktoren, »können sie nach Hause gehen, zu Mittag essen, ein Nickerchen halten und anschließend zurückkommen, um sich darum zu kümmern – ohne die geringste Sorge, ohne Panik« (vgl. Miller 1991). Die großspurige Ansage blieb bis heute, was sie schon damals war: ein ungedeckter Scheck auf die Zukunft. Bereits 1986 mutmaßte der Technik-Historiker Joachim Radkau, das katastrophenfreie Atomkraftwerk sei »ein Wunschtraum, der in Krisenzeiten immer wieder vorgegaukelt, aber nie realisiert wird« (Radkau 1986). Dabei ist es geblieben. Inzwischen sprechen die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) und zehn Atomkraft betreibende Länder neutral von der »Generation IV«, die in der ferneren Zukunft die aktuell errichteten oder geplanten Meiler ablösen soll. Idiotensicher wie ihre bis heute Vision gebliebenen Vorgänger sollen aber auch diese mit innovativer Sicherheitstechnik ausgestatteten Reaktoren der übernächsten Baureihe nicht mehr sein. Aber wirtschaftlicher, kleiner, weniger anfällig gegen militärischen Missbrauch und in der Folge: akzeptabler für die Menschen. Um 2030 sollen die ersten dieser Meiler Strom liefern. Das ist die offizielle Version. Inoffiziell rechnen sogar manche ihrer profilierten Anhänger wie der damalige Präsident des französischen Energieversorgers Électricité, Francois Roussely mit dem kommerziellen Betrieb »erst um 2040 oder 2045 herum« (vgl. Schneider 2004). Mit dem Versprechen einer vierten Reaktorgeneration ohne absolute Sicherheit hat die Atomindustrie die Garantieerklärungen der Vergangenheit geräuschlos beerdigt. Inzwischen muss sogar im Tagesgeschäft die relative Sicherheit genügen, konkret: die kolportierte und von Nicht-Fachleuten im politisch-publizistischen Raum gern verbreitete Pauschalbehauptung: »Unsere Kernkraftwerke sind die sichersten der Welt«. Für den Wahrheitsgehalt dieser Aussage, vor allem in Deutschland sehr beliebt, gab es nie tragfähige Belege. Und es ist nicht gerade plausibel, dass Atomkraftwerke, mit deren Bau in den 1960er- und 1970er-Jahren begonnen wurde, die also in den 1950er- und 1960er-Jahren mit dem Wissen sowie mit der Technologie dieser Zeit konzipiert worden waren, heute ein ausreichendes Maß an Sicherheit bieten können sollen. Doch solange niemand die Atomenergie-Propagandisten in Frankreich, Schweden, den USA, Japan oder Südkorea daran hindert, exakt dasselbe von ihren Meilern zu behaupten, können alle gut mit ihren jeweiligen Parolen leben. Faktisch gibt es in keinem Land eine nukle are Community, die ihre eigenen Atomkraftwerke nicht auf Weltniveau wähnt – oder dies zumindest öffentlich für sich reklamiert. Selbst in Osteuropa heißt es immer häufiger, infolge der Nachrüstrunden der vergangenen 15 oder 20 Jahre erreichten auch Reaktoren sowjetischer Bauart westliche Sicherheitsstandards und seien ihnen in manchen Belangen sogar überlegen. Einer formellen Übereinkunft über diese Sprachregelungen bedarf es im Übrigen nicht. Die gemeinsame, weltweit verbreitete Botschaft soll lauten: Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Die lässt tatsächlich in vielen Ländern nach, vor allem unter ei ner Generation von Politikern, für die Tschernobyl kein prägen des Ereignis mehr ist. Eine nicht unwesentliche Frage bleibt deshalb die nach dem Preis, den die Menschheit für die endgültige Beruhigung an der Atomfront entrichten muss. Was bedeutet es für die internationale Reaktorsicherheit, wenn Beinahe-Katastrophen wie die von Forsmark in Schweden ein paar Wochen öffentlich und danach nur noch in geschlossenen Fachzirkeln debattiert werden? Das vergleichsweise hohe Sicherheitsniveau deutscher Meiler wurde in der Vergangenheit sogar von Befürwortern der Atomenergie auch der Stärke der Anti-Atomkraftbewegung in der alten Bundesrepublik zugeschrieben, einer andauernden skeptischen Beobachtung der Meiler durch eine hoch sensibilisierte Bevölkerung. Bohrende Fragen und die Etablierung einer »kritischen Fachöffentlichkeit« sorgten nach dieser Lesart erst dafür, dass Atomkraftwerke zu den am aufwendigsten gegen Stör- und Unfälle gesicherten Industrieanlagen der Wirtschaftsgeschichte wurden, die sie heute sind. Leider ist zu befürchten, dass auch der Umkehrschluss gilt: Schwindet die öffentliche Aufmerksamkeit oder wird sie unter autoritären Regimen gar nicht erst zugelassen, schrumpft auch die Sicherheit. Wer nach Tschernobyl und Harrisburg Atomenergie weiter nutzen will wie die schwarz-gelbe Bundesregierung, muss sich letztlich die Frage gefallen lassen, ob er weitermachen will, bis ein erneuter katastrophaler Unfall die Option Atomenergie endgültig erledigt. Sicher ist: Niemand in Europa oder den...