E-Book, Deutsch, 207 Seiten
ISBN: 978-3-7844-8329-0
Verlag: Langen-Müller
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Stephanie macht den Schritt vom Heute ins Gestern, vom 20. ins 18. Jahrhundert, von Deutschland nach Spanien. Ihr neues "voriges" Leben bürdet ihr eine schwere Schuld auf, mit der sie fertig werden muß, es bringt sie in schwierige Situationen, die sie alle meistert - bis auf die letzte ...
Ein faszinierender Roman von Herbert Rosendorfer meisterhaft erzählt - mit einem Realismus, der auch das Phantastische immer wieder auf den Boden des psychologisch Überzeugenden herabholt.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
I Vor einer Stunde bin ich von der Beerdigung meines Schwagers gekommen. Ich habe ihn, gebe ich zu, nie gemocht. Ich habe mehrere Schwäger, denn alle meine Schwestern sind verheiratet. Hier ist die Rede von Ferdi, dem Mann meiner jüngsten Schwester Stephanie. Ferdi, auch Ferdl genannt, eigentlich hieß er Ferdinand, war mir unangenehm schon von dem Moment an, in dem Stephanie ihn mit nach Hause gebracht hat. Ich gestehe jetzt, daß ich damals ganz vorsichtig und selbstverständlich erfolglos versucht habe, auf dem Umweg über unsere Eltern die Verbindung zwischen Stephanie und Ferdi zu hintertreiben. Er sei nichts für Stephanie, sagte ich. Welcher Meinung unsere Mutter war, konnte ich nie herausbekommen. Für unsere Mutter zählten allein Tatsachen, nicht Meinungen, auch nicht ihre eigene Meinung. Unser Vater hegte hier wie in allen Dingen die bequeme und für seine Umgebung manchmal aufreibende Ansicht, daß in jedem Menschen ein guter Kern stecke. Die Ereignisse, die ich hier niederschreibe, liegen lange zurück. Stephanie war damals etwa zehn Jahre mit Ferdi verheiratet, als sie mir das erste Mal von ihren Träumen erzählte. Mit gutem Grund erzählte sie ihrem Mann nichts davon. Er hätte sie mit seinem eher bescheidenen Verstand für verrückt gehalten. Ferdi hat überhaupt nie etwas davon erfahren, obwohl, um das vorauszuschicken, nichts in der Sache war, was eine Ehefrau ihrem Mann verbergen müßte. Ich habe nie daran gedacht, diese Dinge niederzuschreiben, auch nach Stephanies Tod nicht. Erst jetzt, vor einer Stunde, als ich am Grab Ferdis stand, ist mir der Gedanke an die Niederschrift gekommen. Es war, als ob ein Tor aufgehe und den Weg freigebe. Ich weiß jetzt auch: ich wollte nicht, daß Ferdi jemals von diesen Dingen erfahre. Dabei bin ich mir im Klaren darüber, daß ich Ferdi in gewisser Weise Unrecht getan habe. Er war ein einfacher Mensch, aber das, was man eine gute Haut nennt. Nach Stephanies Tod hat er zurückgezogen und ganz allein draußen in seinem Haus gelebt, auf das er so stolz war, hat auch nicht mehr geheiratet. Kinder hatten Stephanie und Ferdi nicht. Ich habe ihn selten gesehen, zuletzt bei der Hochzeit einer Nichte, der Tochter meiner ältesten Schwester. Das ist auch schon vier Jahre her. Er war ein alter Mann geworden. Damals habe ich zum ersten Mal gedacht: vielleicht tue ich ihm Unrecht. Auch der Charakter primitiver Menschen kann sich durch einen echten Schmerz vertiefen. Ferdi war gute zehn Jahre älter als meine Schwester. Als ich ihn damals bei der Hochzeit der Nichte gesehen habe, war er schon weit über fünfzig, er hat aber ausgesehen wie ein Greis, wie siebzig. Er hat mir fast leid getan, und ich habe mir vorgenommen, ihn einmal zu besuchen, aber wie es eben so kommt: die Jahre gehen ins Land, und man hat anderes zu tun. Ich bin nie mehr hinausgefahren nach G-d-a. Um genau zu sein: ich bin schon hinausgefahren, aber ich bin vorbeigefahren, auf dem Weg irgendwohin, nicht hingegangen, habe mir gedacht: das nächste Mal. Ich habe das Haus von weitem gesehen. Es war noch genau wie damals, nur etwas mehr zugewachsen mit Bäumen und Büschen, auch vielen Rosen. Vielleicht waren diese Rosen Ferdis Steckenpferd nach dem Tod meiner Schwester. Und jetzt lebt er nicht mehr. Wem er das Haus wohl vermacht hat? Ich glaube, er hatte Neffen und Nichten auch von seiner Seite. Ich habe mich für die Leute nie interessiert. Ich bin der Einzige, der von diesen Träumen meiner Schwester erfahren hat. Das Merkwürdige daran war nicht, daß Stephanie, meine jüngste Schwester, die tüchtige, prosaische (meine Mutter behauptete von ihr: sie sei redlich, aber nüchtern wie trockenes Brot), solche Träume hatte. Das Merkwürdige war die Art, wie sie es mir erzählte. Ich war bei ihr draußen. Ihr Mann war nicht da. Sie saß in ihrem vorfabrizierten Eigenheim, in dem alles, wenn es irgend ging, auf Plastikbasis eingerichtet war, und wo als oberstes Qualitätsprinzip die leichte Waschbarkeit galt. Sie saß in einem Stuhl und strickte oder häkelte. Wir sprachen von Dingen, die mit Träumen und dergleichen nichts zu tun hatten, da ließ sie auf einmal ihre Handarbeit sinken und sagte: »Weißt du, ich träume so komisch.« Sie sagte es so, als habe sie lange über ein zwar auffallendes, aber im Grunde abwegiges, sie kaum berührendes Phänomen nachgedacht, so etwa, als hätte sie gesagt: »Sieh einmal, haben wir einen neuen Pfarrer, oder trägt der alte jetzt eine Perücke?« »Wie komisch?« fragte ich. Sie hatte ihre Handarbeit wieder aufgenommen, ließ sie jetzt aber erneut sinken. »Vor einem Monat. Nicht ungefähr vor einem Monat, heute genau auf den Tag vor einem Monat. Ich habe geträumt, ich wache auf. Das gibt es, daß man träumt, man wacht auf. Ich wache auf. Es ist Nacht, es ist ganz finster. Ich liege im Bett, selbstverständlich. Wir haben Steppdecken…« (Vollwaschbar, dachte ich.) »… ich fahre, im Traum, über die Steppdecke, aber es war nicht die Steppdecke. Es war ein Plumeau, mit einem Überzug aus Damast. Kannst du dich an den dunklen Schrank mit den Greifen erinnern? Auf dem Treppenabsatz?« Sie meinte das Haus unserer Großeltern. Selbstverständlich konnte ich mich an die häßlichen Greifen erinnern. »Dort in dem Schrank ist die Aussteuer unserer Großmutter gewesen. Sie hat sie mir einmal gezeigt. Es waren damastene Bettbezüge, alles handgenäht mit gestickten Monogrammen – so groß wie ein kleiner Teller. Es hat Stücke darunter gegeben, die hat sie nie verwendet. Die hebe ich auf, hat sie gesagt. Wofür …? Für unsere Mutter, hat sie gemeint. Aber wie unsere Mutter geheiratet hat, waren solche schweren, damastenen Bettbezüge schon nicht mehr das, was ein junges Paar haben wollte. Wo die wohl hingekommen sind?« »Und wie ist der Traum weitergegangen?« »Überhaupt nicht. Ich habe vorsichtig über den damastenen Bettbezug gestrichen. Es war feinerer Damast, nicht so schwerer wie der von der Großmutter, das merkt man auch im Finstern. Ich habe gewußt, daß ich nicht in meinem Bett bin. Und dann muß ich wieder eingeschlafen sein, das heißt, ich muß geträumt haben, daß ich wieder eingeschlafen bin.« Stephanie nahm die Handarbeit wieder auf. Eine Zeitlang sagte sie nichts, dann: »Und es war etwas sehr Unangenehmes dabei: ich habe im Traum und auch nachher, wie ich in der Früh aufgewacht bin, das Gefühl gehabt, daß ich gar nicht geträumt habe. Ich habe das Gefühl gehabt, ich war wirklich wach. Ich war wirklich woanders.« (Sie sagte nicht: etwas sehr Geheimnisvolles oder etwas sehr Unheimliches, sie sagte: etwas sehr Unangenehmes.) Es wurde mir schwer zu fragen, weil man auf so etwas nicht gern eine Antwort bekommt. Ich bin anders als meine Schwester. Ich fragte: »Und – ist der Traum dann wieder gekommen?« »Ja«, sagte sie, »schon in der nächsten Nacht. Wieder habe ich geträumt, ich wache auf. Wieder habe ich die feindamastene Tuchent gespürt, aber diesmal war es nicht mehr ganz finster. Ein großer, schwerer Vorhang vor einem Fenster war einen kleinen Spalt offen. Es muß schon Tag gewesen sein, ich meine: früher Morgen, ganz früher Morgen. Es war kein Mondlicht mehr, es war Tageslicht, fahles frühes Tageslicht, eher noch die Dämmerung, graues Licht. Es war ganz still, nur die feine, damastene Tuchent hat geknistert, wie ich darübergefahren bin. Der Streifen von grauem Licht ist quer durch das große Zimmer gefallen, es war ein ganz großes Zimmer, viel größer als unser Schlafzimmer. Der Lichtstreifen ist vom Vorhang her quer durch das Zimmer gefallen, schräg durch das Zimmer, und seitlich vom Bett ist ganz matt etwas Goldenes aufgeblitzt, wie der Rahmen von einem großen Bild.« »Sonst hast du nichts gesehen?« »Ich… ich habe Angst gehabt. Ich schwöre es dir: ich habe wieder das Gefühl gehabt, ich träume nicht, daß ich aufgewacht bin, ich bin wirklich aufgewacht. Ich habe mich nicht zu rühren gewagt, und auch sonst hat sich gar nichts bewegt. Ich hätte es nicht gewagt, mich zu rühren. Und dann bin ich wieder eingeschlafen.« »Bist du sicher, daß es am nächsten Tag war? Daß das nicht ein und derselbe Traum war?« »Ich bin ganz sicher. Ich habe es am dritten Tag wieder geträumt. Ich habe schon beim Einschlafen Angst gehabt, aber ich konnte ja Ferdi nichts sagen. Der hält mich für verrückt. Bin ich verrückt?« »Wie war der dritte Traum?« »Genau wie die zwei anderen, der Vorhang aber war noch ein wenig weiter aufgezogen. Ein breiterer Streifen von grauem, dämmerigem Licht ist in das große Zimmer gefallen. Wieder ist das Gold aufgeblitzt. Ich habe die Augen ein wenig gewendet, soviel habe ich mich getraut: es war ein Bild mit einem schweren, geschnitzten, vergoldeten Rahmen. Das Bild selber konnte ich nicht sehen. Unter dem Bild ist eine dunkle Kommode gestanden mit Messingbeschlägen, die auch geblitzt haben. Wie ich eine Zeit wach gelegen war, hat draußen ein Vogel zu singen angefangen. Ich habe noch nie einen Vogel so singen hören. Gesehen habe ich den Vogel nicht. Bewegt hat sich nichts, auch ich habe mich nicht bewegt, außer daß ich ganz vorsichtig über den damastenen Bettbezug gestrichen und die Augen, nur die Augen, nicht den Kopf, gewendet habe. Du hättest dich auch nicht bewegt, in der Situation. – Ein paar Tage ist dann nichts gekommen. Ich habe schon gedacht, der Unsinn ist vorüber, aber eine Woche nach dem dritten Traum war es wieder da. Der Vorhang war vom halben Fenster weggezogen. Ein leichter Musselinstore hat sich im Wind gekräuselt. Zum ersten Mal habe ich das Bett gesehen. Ich bin in meinem Leben noch nie in so...