Politik im Zeitalter des Misstrauens
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-86854-926-3
Verlag: Hamburger Edition HIS
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Pierre Rosanvallon ist Professor für Neuere und Neueste politische Geschichte am Collège de France. Er ist einer der international renommiertesten Forscher zur Geschichte der Demokratie und Souveränität sowie zu aktuellen Fragen der sozialen Gerechtigkeit. 2016 erhielt der den Bielefelder Wissenschaftspreis im Gedenken an Niklas Luhmann.
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Überwachen, denunzieren, benoten
Die Wachsamkeit
Wachsam, auf der Hut oder in Alarmbereitschaft sein, das sind grundlegende Bürgertugenden. Originäre Eigenschaften obendrein, schon der Bürger der Antike hätte sich nicht vorstellen können, auf den Status des gelegentlichen Wählers reduziert zu werden. Eine solche Wachsamkeit bedeutet zugleich Kontrollieren und Agieren. Kontrollieren insofern, als die Maßnahmen der Regierenden ständig mit einem argwöhnischen Blick betrachtet werden. »Ein freies Volk«, schrieb Anacharsis Cloots, der »Redner des Menschengeschlechts«, während der Französischen Revolution, »ist ein Argus, es sieht alles, es hört alles, es ist überall, es schläft nie.«1 Wachsamkeit korrigiert das Diskontinuierliche der Urnengänge, indem sie das Volk zu ständiger Einsatzbereitschaft erzieht, indem sie das »schlummernde Volk«, von dem Locke und Rousseau sprechen, in einen sprungbereiten Riesen verwandelt. Insofern beschreibt Wachsamkeit eine Disposition: Präsenz, Aufmerksamkeit. In der politischen Sprache der 1960er und 1970er Jahre benutzte man den Begriff »Mobilisierung«, um den Zustand zu bezeichnen, in dem eine militante Gruppe sich befinden sollte, um ihren Anforderungen gerecht zu werden. Mobil zu sein, war weniger eine Voraussetzung des Handelns als eine Form von Präsenz der Welt und den Dingen gegenüber. Das Spezifische einer solchen Disposition ist, dass sie nicht nur denjenigen kennzeichnet, der sie aufweist, sondern dass sie zur Entstehung einer globalen Eigenschaft des öffentlichen Raumes beiträgt. Daneben muss man Wachsamkeit auch als Handlungsweise verstehen. Sie »produziert« zwar nichts aus sich heraus, kann deshalb aber noch nicht als bloß passive Haltung gewertet werden. Sie definiert eine spezielle Form politischer Intervention, die weder der Sphäre der Entscheidungsfindung noch der Willensbetätigung angehört. Sie erzeugt zunächst Möglichkeiten und Begrenzungen, indem sie ein allgemeines Handlungsfeld absteckt. In einem anregenden Essay, Über die Wirksamkeit, hat der Philosoph und Sinologe François Jullien in diesen Begriffen analysiert, was ihm den wesentlichen Unterschied zwischen westlichem und chinesischem Handlungsverständnis auszumachen schien.2 Auf westlicher Seite setzte sich, von Machiavelli bis Schopenhauer, die Vorstellung durch, ein Reich des Subjekts zu errichten, eines situationsbeherrschenden Menschen, der den Dingen den Stempel seines Willens aufdrückt und die Welt in ein Feld zur Erprobung seiner Fähigkeit verwandelt, sich in radikaler Schöpfung oder der Überwindung von Widerständen selbst zu verwirklichen. Handeln wird in diesem Fall als Zusammenprall zweier Welten verstanden, als Sache der Eroberung und Domestizierung. Nichts dergleichen in der chinesischen Sichtweise: Das Wesentliche liegt hier in einer Achtsamkeit auf die Welt, die es ermöglicht, permanent von ihren Spannungen zu profitieren und ihre Eigenschaften optimal zu nutzen. Macht auszuüben besteht also nicht darin, Kräfte zu entfalten, sondern sich von einer sorgfältigen Beobachtung des Terrains leiten zu lassen und das den Situationen innewohnende Potenzial konsequent auszuschöpfen. Einer Psychologie des Willens haben, wie Jullien schreibt, die Chinesen eine »Phänomenologie der Wirkung« vorgezogen. Es ist leicht zu erkennen, welche Unterschiede sich daraus in strategischer Hinsicht ergeben können. Im Westen das Clausewitz’sche Auge in Auge mit dem Feind bis zur großen finalen Konfrontation, im Osten die von Sun Tzu gelehrte Kunst der Schlachtvermeidung unter dauernder und diskreter Nutzung der in den Situationen angelegten Möglichkeiten. Daraus resultieren verschiedene Auffassungen von Wirksamkeit und Erfolg, sowie, letzten Endes, natürlich auch zwei Sichtweisen des Politischen. Der westlichen Kunst des Regierens von oben, der gewaltsamen Erzwingung, steht die Vorstellung einer nahezu unsichtbaren Regierung von unten gegenüber, die darin besteht, die anderen unmerklich zur Annahme der eigenen Position zu bewegen, indem man die Rahmenbedingungen ihres Handelns entsprechend modifiziert. Es soll den Historikern überlassen bleiben, die Stichhaltigkeit eines solchen Vergleichs zwischen den beiden Welten zu beurteilen. Man kann diese begriffliche Unterscheidung aber auch als idealtypisch betrachten, in dem Sinne, dass sie zwei mögliche Modalitäten jedes politischen Handelns definiert. Übrigens lassen sich selbst im Westen Spuren der zweiten, der fernöstlichen Vorstellung von Macht nachweisen. Es wäre nämlich ein Leichtes zu zeigen, dass die Überlegungen des europäischen Liberalismus im frühen 19. Jahrhundert zur Frage der Regierungsführung dem entsprechen, was Jullien als Besonderheit des chinesischen Denkens ansieht.3 Um meinen früheren Gedankengang wieder aufzugreifen: Man kann die beiden Kategorien der traditionellen politischen Entscheidungsfindung und der Wachsamkeit im Rahmen einer solchen Unterscheidung denken. Wachsamkeit ist, wenn man so will, »Nichthandeln« oder »Schlachtvermeidung«, aber sie zeitigt politische Wirkungen und lenkt auf ihre Art die Welt. Wollte man das Ganze in einem zeitgemäßeren Vokabular ausdrücken, könnte man sagen, dass sich zwei Arten von Kontrolle gegenüberstehen: die der Polizeistreife und die des Feueralarms.4 Die Polizeistreife entspricht der Standardvorstellung von staatlichem Handeln als etwas, das an bevollmächtigte Agenten übertragen wird. Sie übt eine direkte, konzentrierte, zielstrebige Kontrolle aus. Der Feueralarm hingegen ist ein dezentrales System, das eine Vielzahl von Maßnahmen beinhaltet. Außerdem zeichnet er sich wesentlich dadurch aus, dass er nicht nur Fachleute auf den Plan ruft. Denn die Feuerwehr kann nur eingreifen, wenn Privatpersonen zuvor Alarm geschlagen haben. Ihre Wirksamkeit hängt von einer breit gestreuten sozialen Aufmerksamkeit ab. Zu diesem Modell des Feueralarms muss man die Effizienz der Wachsamkeit in Beziehung setzen. Diese Effizienz tritt vornehmlich als ein Resultat in Erscheinung, in dem sich der Zustand der Gesellschaft spiegelt. Sie ist deshalb aber nicht weniger real und vielleicht sogar besser als das, was durch staatliches Handeln erreicht wird.5 Die Geschichte des Wortes »Überwachung« [surveillance] ist übrigens eine interessante. Es tauchte zuerst in den späten 1760er Jahren in den ökonomischen Abhandlungen der Physiokraten auf. Baudeau und Dupont de Nemours benutzten es erstmals 1768, um eine Handlungsweise bzw. einen Regelmechanismus zu bezeichnen, der sich gleichermaßen vom Vorgehen der Polizei wie vom Gleichgewicht des Marktes unterschied. »Es gibt sicherlich etwas«, schrieben sie, »worauf die Behörden achten müssen, denen die Einhaltung der öffentlichen Ruhe und Ordnung obliegt: Streitigkeiten und Tumulte, Diebstähle und Handgreiflichkeiten auf den Märkten zu verhindern. Dazu bedarf es einer Überwachung [surveillance].«6 Der von ihnen angestrebte Wächterstaat war ein aktiver, kein Laissez-faire-Staat. Gleichwohl definierte er einen neuen Typ von Macht, der auf der Kategorie der Aufmerksamkeit, nicht mehr der der Intervention beruhte. Im Sinne eines wachsamen Staates (und insofern sehr verschieden vom überkommenen liberalen Bild eines passiven Nachtwächterstaates) sollte diese Überwachung eine »dauerhafte und umfassende«7 sein. Es ging um ein indirektes Regieren, das einen dritten Weg der Steuerung einschlägt, nämlich den einer lenkenden Hand, angesiedelt zwischen der unsichtbaren Hand des Marktes und der eisernen Faust traditioneller staatlicher Souveränität. Die wesentlichen Funktionen der neuen souveränen Macht, die die Physiokraten begründen wollten, bestanden darin, »zu wachen, zu wahren und zu schützen«.8 Sie sollte auf diese Weise unauffällig die Ordnung der Welt sicherstellen. Das physiokratische Ideal wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Liberalen wie Guizot9 mit neuen theoretischen Ansätzen zur Regierungsführung in die Praxis umgesetzt. Allerdings kam es bereits vorher zu einer zivilgesellschaftlichen Aneignung, wie die Tatsache belegt, dass der Begriff der Überwachung 1789 sofort von Kreisen der Volksgesellschaften und der Zeitungsjournalisten aufgegriffen wurde. Das demokratische Potenzial der Wachsamkeit war insofern offenkundig, als sie eine aktive Präsenz darstellte, die allen zugänglich war und auf dem Handeln aller beruhte. Daher der hohe Stellenwert, der dieser Überwachungsmacht während der Revolution zukam. Der Club des Cordeliers, das geistig-politische Zentrum der dynamischen Bewegung, die eine lebendige Form von Volkssouveränität zu begründen versuchte, bezeichnete sich dementsprechend als »Misstrauens- und Überwachungsgesellschaft«. Der Cercle Social, ein Club, in dessen Umkreis sich 1790–1791 Männer wie Brissot, Condorcet oder Lanthenas bewegten, setzte sich seinerseits zum Ziel,...