E-Book, Deutsch, 138 Seiten
Alterssymptome verstehen und ihnen begegnen
E-Book, Deutsch, 138 Seiten
ISBN: 978-3-17-043219-2
Verlag: Kohlhammer
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Einleitung
Was ist »Altersmedizin«?
Wenn ein Säugling Bauchweh hat, ein 5-jähriges Mädchen stark erkältet ist oder ein 14-jähriger Junge plötzlich Fieber bekommt, dann wird den Eltern ganz selbstverständlich geraten, mit ihren Kindern zum Kinderarzt zu gehen. Kinderärzte kennen sich mit den besonderen Abläufen und Organfunktionen im Körper eines Kindes genau aus. Diese unterscheiden sich nämlich sehr oft von den Abläufen und Funktionen im Körper eines erwachsenen Menschen. Das hat man schon vor über 150 Jahren erkannt und um 1850 in Würzburg die erste Universitäts-Kinderklinik eröffnet. Dass auch der Organismus von Senioren seine sehr eigenen Abläufe hat und sich Organfunktionen im Alter oft sogar sehr wesentlich von den Organfunktionen jüngerer Erwachsener unterscheiden, wurde erst viel später zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt. Dem Arzt Ignatz Nascher (1863?–?1944) fiel 1908 bei einem Besuch des Wiener Versorgungsheimes Lainz auf, dass die hier versorgten älteren Patienten eine im Vergleich zu anderen Altersgenossen deutlich niedrigere Sterberate hatten. Das beeindruckte ihn sehr, denn die mittlere Lebenserwartung lag in Österreich um die Jahrhundertwende bei 40?–?43 Jahre. Was machte man anders im Versorgungsheim Lainz? Im Gespräch mit einem der behandelnden Ärzte erfuhr er: »Wir verfahren mit den Patienten hier so, wie ein Kinderarzt (Pädiater) mit den Kindern.« Diese Erkenntnis veranlasste Dr. Nascher, in Anlehnung an den Begriff »Pädiatrie« den Begriff »Geriatrie« zu prägen, als Bezeichnung für die Altersmedizin. Er legte damit den Grundstein für diese medizinische Fachrichtung. In London machte die Ärztin Marjorie Warren ähnliche Beobachtungen bei den stationär versorgten Patienten und stellte fest, dass das Überleben deutlich besser wurde, wenn jeder der betagten Patienten seinen individuellen gesundheitlichen Bedürfnissen entsprechend behandelt wurde und nicht alle nach dem gleichen, einheitlichen Schema. Während ihrer leitenden Tätigkeit im Middlesex County Hospital ab 1935 erarbeitete sie erstmals konkrete klinische Konzepte zur Behandlung stationär versorgter chronisch Kranker, woraus sich in den folgenden Jahren die geriatrietypischen, individuell angepassten Therapiekonzepte entwickelten (Warren 1951). Heute wissen wir, dass jeder ältere Mensch auch in gesundheitlicher Hinsicht ein Individuum ist und eine individuelle Diagnostik und Therapie benötigt. Das liegt daran, dass sich die Funktionen unserer Organe und unseres Körpers im Laufe des Lebens ganz unterschiedlich verändern. Dabei spielt zum einen sicher die Art und Weise eine Rolle, wie sehr wir auf unseren Körper im Laufe des Lebens achten: ob wir ihn regelmäßig überanstrengen durch Stress und schwere körperliche Arbeit; ob wir auf ihn hören, wenn er Ruhe braucht oder aber diese »Rufe« ignorieren; ob wir ihm zumuten, mit Schadstoffen fertigzuwerden wie Nikotin, Alkohol oder Drogen; ob wir ihn regelmäßig bewegen und damit unseren Muskeln die Möglichkeit geben, stark zu bleiben und den Körper zu halten. Natürlich spielen auch Erkrankungen, Unfälle oder vererbte oder angeborene Funktionsstörungen eine Rolle. Und zu guter Letzt ist natürlich auch unsere persönliche Einstellung zum Altwerden von großer Bedeutung. Was macht ein Geriater (Altersmediziner)?
Ein Geriater ist ein Arzt, der eine zusätzliche, spezielle Ausbildung in Altersmedizin erworben hat und daher spezialisiert darauf ist, ältere Menschen, sogenannte geriatrische Patienten, gezielt zu behandeln. Ein Geriater kennt sich mit den Veränderungen der Organfunktionen im Alter aus und kann daher besser einschätzen, z.?B. welche Medikamente sich für einen älteren Menschen eignen und welche dagegen überwiegend schaden würden. Auch ist ein Geriater in der Lage, durch spezielle, gezielte Untersuchungen und Testverfahren (Assessments) festzustellen, wo ein geriatrischer Patient seine Schwierigkeiten und Probleme hat und wo er hingegen vollkommen fit ist. Wenn ein Patient z.?B. immer wieder stürzt, ist es sicher wenig hilfreich, mit ihm das Sprechen zu üben, denn das kann er ja. Hier ist es viel sinnvoller, gemeinsam mit dem Patienten herauszufinden, warum er immer wieder stürzt, ob er an Schwindel oder unter Schmerzen leidet, ob er vielleicht eine Schwäche in den Beinen verspürt oder ob er möglicherweise schlechter sieht als sonst. Wenn man auf so differenzierte Weise mit Hilfe der Assessments erfährt, wo die Ursache für das Stürzen liegt, kann man sie auch ganz gezielt behandeln und dem Patienten wieder helfen, sich sicherer zu bewegen. Was sind Geriatrische Assessments? Geriatrische Assessments sind bestimmte Untersuchungsmethoden, die zwei wichtige Aufgaben in der Geriatrie haben: 1. Diagnosestellung
Mit Hilfe von geriatrischen Assessments kann ein Geriater feststellen, wo ein Patient Probleme hat und wo nicht. Das hilft zu vermeiden, dass ein Patient für etwas behandelt wird, wo ihm gar nichts fehlt. Auf der anderen Seite kann durch die Assessments viel genauer herausgefunden werden, wann und wo der Patient Probleme hat und wo sie herkommen. Dadurch kann man sie auch sehr gezielt behandeln. 2. Therapiekontrolle
Assessments haben noch eine weitere wichtige Aufgabe: Man kann mit ihrer Hilfe prüfen, ob sich ein bestimmtes körperliches Problem unter der eingesetzten Therapie schon gebessert hat, z.?B., ob ein Patient mit Unsicherheit beim Laufen schon wieder sicherer geworden ist und vielleicht sogar ohne einen Stock eine Strecke gehen kann. Dafür vergleicht man das Ergebnis des Assessments vor der Therapie mit dem Ergebnis des Assessments nach der Therapie und kann daraufhin auch ziemlich genau sagen, wo der Patient noch Übung braucht oder auch welches Hilfsmittel er weiterhin braucht. Geriatrische Assessments kommen routinemäßig im Rahmen von geriatrischen Behandlungen im Krankenhaus zum Einsatz, inzwischen aber auch zunehmend in Arztpraxen. Was sind »geriatrische Syndrome«?
Unter einem geriatrischen Syndrom versteht man einen Befund, der im Unterschied zu jüngeren Patienten bei geriatrischen Patienten typischerweise durch mehrere, meist kombinierte Ursachen begründet wird und zu einer ganzen Kette von Folgestörungen führen kann. Betrachtet man zum Beispiel das geriatrische Syndrom »Sturz«, so ist zunächst einmal klar, dass man in jedem Alter stürzen kann, z.?B. Kinder stürzen auf dem Spielplatz, Erwachsene beim Skilaufen oder von der Gartenleiter. Meistens sind solche Stürze durch Stolpern oder Gleichgewichtsverlust bedingt und die Betroffenen können sich an den Sturz genau erinnern. Da ihre jüngeren Körper noch sehr viel belastbarer sind, heilen die Sturzfolgen wie Knochenbrüche, Verstauchungen oder Blutergüsse bei Erwachsenen gewöhnlich nach einer Behandlung auch schnell und folgenlos ab. Bei geriatrischen Patienten sind Stürze dagegen oft durch mehrere gleichzeitig wirkende Faktoren bedingt wie bspw. Sehstörungen, Muskelschwäche, Taubheitsgefühle an den Füßen oder Beinen (Polyneuropathie) und Schwindelgefühle. Häufig kann auch eine Störung des Pulsschlages oder des Blutdruckes zu einem Sturz führen. Dann kann es auch vorkommen, dass sich die Personen gar nicht mehr an den Sturz erinnern, also eine Erinnerungslücke haben (Synkope). Das ist eine sehr wichtige Information für die behandelnden Ärzte und Therapeuten. Man unterscheidet daher bei geriatrischen Patienten auch zwischen einem intrinsisch (= durch eine Fehlfunktion von Herz, Kreislauf oder anderen Organen) und einem extrinsisch (= durch äußere Einwirkung bedingt, wie Aufprall, Stoß oder Stolpern) bedingten Sturz. Diese Informationen sind für die Ursachensuche sehr wichtig, um daraus Erkenntnisse zu ziehen, wie man zukünftig weitere Stürze vermeiden kann. Oft klappt es auch nicht mehr rechtzeitig, den Sturz abzufangen. Wenn dann auch noch eine erhöhte Knochenbrüchigkeit (Osteoporose) hinzukommt, kann es schnell passieren, dass ein oder mehrere Knochen brechen. Sehr häufig sind das dann Teile des Oberschenkelknochens oder der Hüfte. Wenn der Betroffene versucht hat, sich beim Sturz noch abzufangen, kann es auch oft zu einem Bruch von Handgelenk oder Oberarm kommen. Auch wenn die Knochenbrüche dann durch Operation oder Ruhigstellung versorgt wurden, bleiben in vielen Fällen Folgestörungen bestehen. Nach Brüchen von Oberschenkel oder Hüfte bleibt meist eine eingeschränkte Gehfähigkeit bestehen, weswegen die Patienten dann eine Gehhilfe (Rollator oder Stock) benutzen. Dadurch, dass man mit zunehmendem Alter gerade bei fehlender Bewegung sehr schnell Muskelmasse verliert (Sarkopenie), kann es durch die abnehmende Bewegung nach einem Sturz auch innerhalb von Tagen bis Wochen zu einem Schwund der Muskelmasse und der Muskelkraft kommen, was das Risiko für einen neuen Sturz erhöht. Spüren diese Patienten zusätzlich Angst vor neuen Stürzen und...