E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Röhr Wie Heilung gelingt
1. Auflage 2023
ISBN: 978-3-451-82959-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Seele von Schuld und Scham befreien
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-451-82959-8
Verlag: Verlag Herder
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein heilsames und gesundes Leben zu führen – das wünschen wir uns. Und wir ahnen: nur „nicht krank“ zu sein, ist noch lange nicht das Gleiche wie wirklich gesund zu sein. Einen Zustand wahrer Heilung empfinden wir erst dann, wenn es uns zudem körperlich, geistig und sozial wohl ergeht. Der Weg zu diesem Zustand ist eng verbunden mit unseren Erfahrungen und Einstellungen. Alles, was wir benötigen, um ihn erfolgreich zu beschreiten, zeigt dieses Buch.
Ob bei schwerer Krankheit oder schwerer seelischer Belastung, neben der schulmedizinischen Behandlung tragen auch Glaube und Liebe, Lebenssinn und innerer Frieden zur Heilung bei. Heinz-Peter Röhr verbindet leicht zugängliche Wissensvermittlung, Impulse zur Reflektion und Übungen zu einem berührenden und praktischen Leitfaden der ganzheitlichen Heilung und Selbstheilung. Spiritualität und Psychologie werden dabei als sich ergänzende Kraftquellen gezeigt.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Allgemeines
- Geisteswissenschaften Religionswissenschaft Religionswissenschaft Allgemein Religionssoziologie und -psychologie, Spiritualität, Mystik
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychologie / Allgemeines & Theorie Psychologie: Sachbuch, Ratgeber
Weitere Infos & Material
Hans mein Igel – Heilung im Märchen
Wir wollen uns tiefer an das Wunder der Heilung herantasten. Das Märchen Hans mein Igel habe ich mit vielen Patienten besprochen, weil hier sehr eindrucksvoll der Weg eines Heilungsprozesses beschrieben wird. Ich bin immer wieder darüber erstaunt, was man aus Märchen lernen kann. Märchen sind einfach wunderbar, und wer sich mit ihnen beschäftigt, wird erkennen, woher sie kommen: tief aus der Seele eines Volkes. Genauer muss man sagen, sie kommen aus derselben Seelenschicht wie unsere Träume. Märchen sind wie gelungene Träume. Wenn wir träumen, werden mittels Bildersprache innere Konflikte und Themen inszeniert, die wie in einem Film als eine Geschichte erzählt werden, um mithilfe der Weisheit des Unbewussten eine Lösung zu entdecken. Findet sich im Traum die Lösung, kann der Träumer ruhig weiterschlafen. Wird im Traum keine Lösung gefunden, entsteht leicht ein Albtraum, und der Schläfer wird wach. Märchen gehen immer gut aus. Das Besondere ist, dass auch die Bilder in Märchen typische menschliche Probleme inszenieren. Diese Bildersprache greift zur Lösung eines Problems unweigerlich auf die Weisheit des Unbewussten zurück, und es wird klar, welche Lösung das Unbewusste anbietet. Das macht Märchen für den psychotherapeutischen Prozess so wertvoll. Menschen lernen auf sanfte, liebevolle Weise, ihr Problem tiefer zu verstehen, und gleichzeitig wird ihnen ein Weg gezeigt, dieses zu bewältigen. Wie Heilung auch bei einer schweren Persönlichkeitsstörung gelingt, lässt sich mithilfe des Grimm’schen Märchens Hans mein Igel zeigen. Die Geschichte ist kurz erzählt: Es wird ein Junge geboren, der ist oben ein Igel und unten ein Junge. Der Vater wünscht sich den Tod des Kindes, da er sich wegen dessen Aussehens in seiner Ehre gekränkt fühlt. Hans mein Igel kann wegen seiner Stacheln auch nicht gestillt werden. Er wird hinter den Ofen gelegt, dahin, wo auch ein Hund seinen Platz hätte … Hans mein Igel steht für das ungewollte, ungeliebte, gehasste und vernachlässigte Kind. Das Märchen findet mit traumwandlerischer Sicherheit das Symbol, das diese Menschen ausmacht: unten der kleine Junge, oben das Tierische, Wilde, Unzähmbare. Es sind die Unberührbaren, die niemanden wirklich an sich heranlassen können. So als trügen sie einen Stachelpelz, der alle verletzt, die ihnen zu nahekommen. Unschwer ist in der Gestalt von Hans mein Igel das Symbol für eine Borderlinestörung zu erkennen, eine Diagnose in der klinischen Psychologie, die auf eine frühe Persönlichkeitsstörung hinweist. Hier ist zu sagen, dass es sich bei der Borderlinestörung um die schwerste Persönlichkeitsstörung handelt. Jedoch findet sich im Märchen auch dafür ein Lösungsweg. Die Reise, auf die sich Hans mein Igel begibt, zeichnet eindrücklich die typischen Probleme und Schwierigkeiten dieser Menschen nach. Als der Vater einmal in die Stadt zum Einkaufen geht, wünscht sich Hans mein Igel einen Dudelsack von ihm. Nachdem er ihn bekommen hat, soll der Vater ihm seinen Gockelhahn vor der Schmiede beschlagen lassen. Hans mein Igel setzt sich mit dem Dudelsack auf den Gockelhahn, nimmt auch Esel und Schweine mit und zieht fort. Im Wald muss der Hahn mit ihm auf einen hohen Baum fliegen. Da sitzt Hans mein Igel, macht schöne Musik und hütet Esel und Schweine. Der runde pelzige Dudelsack ist wie ein Ersatz für die Mutterbrust. Die schöne Musik, die Hans mein Igel macht, schöpft ihre kreative Energie aus der tiefen Verletzung und Verzweiflung, die wir auch von vielen begnadeten Künstlern kennen. Der Hahn ist das Symbol für den Stolz. Das Leben dieser Menschen ist so unendlich traurig und schmerzhaft, dass es einem Wunder gleicht, dass sie sich nicht umbringen. Der Stolz ist hier ein Überlebensmechanismus. Tatsächlich habe ich nicht selten mit einem Gefühl der Hochachtung auf die Entwicklung meiner Patienten geschaut, weil sie ihr Leben trotz ihrer extremen Probleme gemeistert haben. Allein die Tatsache, dass sie überlebt haben, verdient Respekt. Diesen eigenen, überlebenswichtigen Stolz konnte ich oft erkennen. Die Bedeutung des Stolzes als Überlebensmechanismus konnte ich sehr eindrücklich in einer Reportage über brasilianische Straßenkinder beobachten. Als die Kinder am Ende gefragt wurden, ob sie nicht lieber in einer Familie mit Vater, Mutter und Geschwistern leben wollten, antworteten sie mit dem Lied der freien Vagabunden auf der Landstraße, die ihre Freiheit für nichts aufgeben würden. Das Leben dieser Kinder ist so unendlich traurig und hoffnungslos, dass nur der Stolz sie retten kann. Viele Menschen fühlen sich schuldig, obwohl sie keinerlei Schuld tragen. Kinder, die nicht willkommen sind, fühlen sich immer unterschwellig dafür schuldig, dass es sie gibt. Sie werden alles Mögliche tun, um das Gefühl, willkommen zu sein, zu erlangen. Letztlich müssen jedoch alle Bemühungen scheitern, denn die frühen Programmierungen sind stärker. Der Versuch, die eigene Existenzberechtigung zu erarbeiten, muss fehlschlagen. Dies zeigt sich auch im Märchen Hans mein Igel. Er hat Esel und Schweine mit in den Wald genommen, die er hier hütet. Als die Tiere sich vermehrt haben, kehrt er in das Dorf seines Vaters zurück und lässt ausrichten, dass jeder so viel schlachten könne, wie er wolle. Eigentlich ist dies eine gigantische Leistung, und man möchte annehmen, der Vater sei stolz und freue sich. Aber das Gegenteil ist der Fall. Hans mein Igel muss erkennen, dass die Ablehnung durch den Vater bleibt. Anerkennung oder Liebe erarbeiten zu wollen, ist unmöglich. Der Vater schämt sich, weil Hans mein Igel seinen Besitz herschenkt. Mit Leistung lässt sich eine tiefe Programmierung nicht löschen. Dies wird sich im weiteren Verlauf noch deutlicher zeigen und vertieft erklärt und bearbeitet. So flüchtet Hans mein Igel wieder auf dem Hahn, wie immer bleibt ihm nur der Stolz. Es gleicht einer Sisyphusarbeit: Sobald man glaubt, das Ziel erreicht zu haben, melden sich die frühen Programmierungen zurück. Da es zu Beginn ihres Lebens keine Sicherheit und kein Urvertrauen gegeben hat, bleiben diese Menschen misstrauisch. Die frühen Beziehungen, die positive Bindung an die Mutter, sind für die lebenslängliche emotionale Stabilität grundlegend und verantwortlich. Diese kann es bei Hans mein Igel nicht geben, im Gegenteil. Er lebt auf einer Achterbahn der Gefühle, und ständig ist mit extremen Eruptionen zu rechnen. So ist das Leben dieser Menschen unendlich traurig. Da sie nie zu vertrauen gelernt haben, können sie auch geschenkte Liebe nicht integrieren. Sie können nicht glauben, dass diese Liebe ihnen gilt. Als hätten sie kein inneres Gefäß, in dem Zuneigung sicher gelagert werden könnte. Borderliner haben Probleme mit anderen Menschen, da sie ihnen nicht vertrauen können. Ein emotional stabiler Mensch fühlt sich von Freunden und Familienmitgliedern getragen. Er spürt ihre Zuneigung und Liebe. Menschen mit einer schwereren Borderlinestörung haben oft eine tiefere Verbindung zu Tieren. Ich habe Patienten erlebt, die hungerten, um ihrem Hund Futter kaufen zu können. Die wichtigste und einzig tiefe Beziehung hatten sie zu ihrem Tier. Jeder Mensch, der ihnen zu nahekommt, wird mit ihrer archaischen Wut konfrontiert. Gerade in engen Beziehungen macht sich dies zerstörerisch bemerkbar. Im weiteren Verlauf des Märchens bittet ein König, der sich im Wald verirrt hat, Hans mein Igel, ihm den Weg zu zeigen. Hans mein Igel erwartet als Gegenleistung das, was dem König zuerst begegnet, sobald er sein Schloss erreicht. Erwartungsgemäß ist es dessen einzige Tochter. Der König beabsichtigt jedoch in keiner Weise, Hans mein Igel seine Tochter zu geben. Als er sich weigert, sein Versprechen einzulösen, droht Hans mein Igel, sowohl ihn als auch seine Tochter umzubringen. Schließlich willigt die Königstochter ein, mit ihm fortzugehen, und sie setzt sich neben Hans mein Igel in eine Kutsche, die sie fortbringen soll. Kurz darauf jedoch zersticht Hans mein Igel sie mit seinen Stacheln und jagt sie nach Hause. Im Märchen heißt es: Sie war »beschimpft ihr Lebtag«. Wie sich die Persönlichkeitsstörung in Liebesbeziehungen auswirkt, wird im Märchen dramatisch inszeniert. Die Sehnsucht nach Liebe ist in Menschen, die während der Kindheit einen Mangel an Zuwendung und Wertschätzung erleben mussten, extrem. Der Kampf um Zuneigung und Liebe geht in eine weitere Runde, wenn es um partnerschaftliche Liebe geht. Nach dem Motto: Was die Eltern nicht geben konnten, soll jetzt der Partner heilen. Unweigerlich werden die Verletzungen der Kindheit in die Beziehung getragen, in der sie sich in zerstörerischer Weise bemerkbar machen. Jeder, der mit einem Menschen mit einer Borderlinestörung eng zusammengelebt hat, trägt tiefe Verletzungen und Kränkungen in sich. Man nennt diese Beziehungen »stabil-instabil«, das einzig Stabile ist das Instabile. Menschen wie Hans mein Igel halten Enge und Zuneigung auf Dauer nicht aus. Sie müssen für Distanz sorgen, weil sie die Nähe eines anderen Menschen nicht ertragen können. Dies geschieht häufig, indem sie Streit anzetteln und eine archaische Wut aus ihnen herausbricht. Wenn die Distanz hergestellt ist, geraten sie jedoch schnell in eine Verlassenheitsdepression und bemühen sich mit allen Mitteln, wieder in die Beziehung zurückzugelangen, auf dass der Teufelskreis sich erneut zu drehen beginnt. Wenn es im Märchen heißt, sie sei »beschimpft für ihren Lebtag«, ist das ein Hinweis auf die manchmal traumatischen Erfahrungen, die im Zusammenleben mit einem Borderliner gemacht werden. Jeder, der mit einem Borderliner zusammengelebt hat, trägt diese Wunden in sich. Immer wenn er Liebesgefühle investierte, wurden diese mit brachialer Gewalt zerstört. Für Menschen wie Hans mein Igel kann es keine Liebe...