E-Book, Deutsch, Band 116, 100 Seiten
Reihe: Recherchen
Röggla / Birgfeld Die falsche Frage
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-95749-034-6
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Theater, Politik und die Kunst, das Fürchten nicht zu verlernen
E-Book, Deutsch, Band 116, 100 Seiten
Reihe: Recherchen
ISBN: 978-3-95749-034-6
Verlag: Theater der Zeit
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Von Katastrophenfilmen, Global Players und postdemokratischem Widerstand: Kritik ist keine einfache Sache. Und Theater als permanentes Gespräch mit dem Realen hat viel mit Fiktionen zu tun, die längst ihre Unschuld verloren haben. Zu ergründen, welche Herrschaftsstrukturen unsere Gegenwart ausmachen, wie man sich dagegen wehrt und welche Sprache dabei zu sprechen ist, ohne das Fürchten zu verlernen, ist Kathrin Rögglas Vorhaben in "Die falsche Frage". Sie gibt darin Auskunft über die verschlungenen Verbindungen von Ästhetik und Politik in ihrem Theater, das aus der Entfernung anderer Medien entworfen, mit Komik und Anarchie gewonnen wird, und sich mit Hilfe von Lücken, Fehlanzeigen und indirekten Bezügen vorwärts bewegt.
"Die falsche Frage" basiert auf drei im Rahmen der 3. Poetikdozentur für Dramatik an der Universität des Saarlandes im Sommer 2014 gehaltenen Vorträgen. Kathrin Röggla konturiert und kontextualisiert darin ihr zentrales Projekt, ein sprachkritisches wie dokumentarisches und experimentelles Theater auf der Höhe der Komplexität der Gegenwart zu schreiben.
Autoren/Hrsg.
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KARTEN UND IHR GEGENTEIL
Kollektive und Revolten
1. Dystopie Wir befinden uns an einem scheinbar sicheren Ort: das Krankenhaus am Rande der Arktis. Oder war es die Antarktis? Die Überlebenden der Expedition treffen ein, fühlen sich schon gerettet, zu früh, wie wir bereits ahnen. Sie stolpern als unsere Stellvertreter die Gänge entlang und wollen endlich mal stehen bleiben können; sie wähnen sich schon befreit von dem, was da hinter ihnen liegt, und setzen sich auf die Wartebänke, um nichts als durchzuatmen. Sie glauben, das alles wiederzuerkennen: Rezeptionstheke, technische Geräte, Bürokratie, medizinisches Personal, das allerdings schon arg zerstreut wirkt. Sie glauben, ihre Welt wiederzufinden, die sie einen grauenvollen Moment lang verloren hatten, aber im Grunde erkennen sie nichts wirklich wieder, sie blicken nicht wirklich durch, bis irgendein kleines unscheinbares Detail sie aufmerksam macht: Das Unheimliche war auch hier schon und hat alles an sich gerissen. Die spukhaften Erscheinungen, die sie quer übers Eis gejagt haben, das Ding aus dem All, die Geister der Evolution, sie sind auch durch dieses Krankenhaus gegangen, um sich am Menschen zu rächen, und haben es besetzt, haben aus ihm einen Nicht-Ort gemacht. Sie sind jetzt überall. Es ist kein Entkommen möglich. Oder: Man hat den Stadtrand erreicht. Die Wildnis hat einen tatsächlich wieder ausgespuckt. Die Geisterstadt hat man verlassen und ist ins Lebendige zurück. Oder doch nicht? Bröckeln da nicht die Wände, ist es nicht derselbe Grauton, der sich DORT über alles gezogen hat? Dieser seltsame Schneefall, wie ein Fallout, setzt er nicht auch hier ein? Die Straße hat sie jedenfalls erreicht, die junge Frau, so viel steht fest. Endlich, nach stundenlangen Irrläufen durch die Wildnis, gehetzt von DEM TIER oder was sie dafür hält. Ein Bus ist gekommen, der auch angehalten hat und sie mitnehmen wird. Es ist ein Schulbus, was sonst? Was will er hier mitten in der Nacht? Wir wissen bereits, wo sie wirklich gelandet ist. Wir wissen bereits: Es ist zu spät, um wieder auszusteigen. Oder: endlich wieder Tageslicht. Endlich hat man den Ausweg aus dem Höhlensystem gefunden, an unterirdischen Bächen entlang. Bachläufen, die mitunter einen Höllenlärm veranstalteten, mitunter nur zu flüstern scheinen, als wären die Stimmen der Toten in ihnen unterwegs. Die Stimmen und die Sprachen, die keiner mehr versteht, die Hinweis geben könnten, Unheimliches offenbaren, haben einen begleitet, ermüdet, irritiert. Und jetzt sieht man das Tageslicht, endlich, ein frischer Luftzug, man hört einen Vogelschrei, als wäre da ein Leben irgendwo. Vielleicht ein Tier, das sich weiter oben im Gestein verirrt hat, da hängen geblieben ist und gleich wieder die Öffnung finden wird hinaus – ja, das muss es noch geben, das Draußen, die frische Luft, das Licht und die Überlebenschance. Doch schon ist er weg, der Vogel, im Gegensatz zu uns, die vor dem Schlund stehen und erneut dem Flüstern der Toten ausgesetzt sind. Aus der Höhle gibt es kein Entrinnen, und es ist kein einfacher Platon, auf den wir hier im Augenblick gleichnishaft hinauswollen. Das Wissen, dass sich die rettenden Orte aufgelöst haben, umspült uns täglich, es ist das Wissen, das derzeit hauptsächlich produziert wird, die Ahnung, dass es jeden Augenblick unseren Alltag, den ganz normalen Gang der Dinge nicht mehr geben wird, dass sich jede Sekunde alles auflöst, wie ein Nebel verzieht, die dicke Decke der Warenströme plötzlich zum Gespinst werden kann, es setzt sich langsam durch. Der Berg ist ins Rutschen gekommen, der Finanzkrisenberg, der Klimawandelberg, der Sozialkriegsberg, und hört nicht mehr auf, sich fortzubewegen, über uns hinweg. Es gibt sie nicht mehr, die harmlosen Vorgärten, die gespensterlosen Einkaufszentren, die zombiefreie Zone der Innenstadt. Es gibt es nicht mehr, das Familienleben jenseits von Freddy und Freitagszorn. Poltergeister ziehen in Schwärmen durch Altstadthäuser, Reihenhäuser und Wohnanlagen, sie nehmen sich alles vor, sie nehmen alles mit, die stillen Rückzugswinkel harmonischer Gemeinschaft. Sie haben es erraten, ich spreche vom Mittelstand. Und vom Abstieg, Verlust und Verfall desselben. Die Gewalt, auf der unsere Eigentümer-Gesellschaft fußt, schlägt durch. Die Befriedungsversuche sind ausgelaufen, heißt es, wir steuern wieder auf jeder gegen jeden zu. Ich spreche vom Mittelstand, von einer vagen Zusammensetzung von Leuten, die seit einiger Zeit mit Verlusten rechnen müssen. Menschen mit der Fiktion der Leistungsgesellschaft in der Birne. Ehemalige Aufsteiger. Die Leute, die laut der taz-Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann „Hurra, wir dürfen zahlen!“ rufen, und: „Leistung zahlt sich immer noch aus!“47 Ich muss nicht erst betonen, dass ich mich selbst dazuzähle, warum, weiß ich nicht so genau. Wir sind es jedenfalls, deren Lebensgefühl in den Horrorfilmen seinen Ausdruck findet. Wir sind die Zielgruppe. In vielerlei Hinsicht. Langsam dämmert uns, dass man mit Leistung allein nicht weiterkommt, dass es nicht ausreicht, die eigenen Kinder in Privatschulen zu stecken, aus denen sie dann nie wieder herausfinden. Dass es nicht ausreicht, Lebensversicherungen abzuschließen und Aktienpakete zu kaufen wie die Großen, diejenigen, die das dauernd machen. Die Verluste überwiegen, auch wenn wir uns permanent selbst optimieren, immer leistungsfähiger werden, immer effizienter. Von uns heißt es, wir seien das traditionelle Theaterpublikum, aber auch da dezimieren wir uns, da mögen die Stadttheater uns noch so sehr hinterherrennen, während sie andauernd ihre Effizienz steigern, ihren Output mit noch weniger Mitarbeitern stemmen, Inszenierungen zu noch brandaktuelleren Themen an noch brandaktuelleren Locations anbieten. „Das Theater kommt in die Stadt“, heißt es dann bezeichnenderweise, als wäre es nicht sowieso dort. Die Stadt kommt trotzdem immer weniger ins Theater. Insofern kennen wir uns auch eher von Silent Hill (2006), wir kennen uns von The Day After Tomorrow (2004), wir sind uns schon bei A Nightmare on Elm Street (1984) und Jeepers Creepers (2001) über den Weg gelaufen, oder hat uns nicht The Ring Two (2005) zusammengebracht? Wir haben uns jedenfalls aneinander gewöhnt, wie wir so beieinandersitzen und dem Monströsen zusehen, das sich vor uns ereignet. Das Biest und wie es sich bewegt, das interessiert uns sehr. Und was haben wir für Tiere gesehen! Was haben wir in ihnen nicht alles vermutet! Auch im Theater haben wir ihnen zugesehen, den Pferden, Tauben, Hühnern, Hunden, die irgendwann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts da aufgetaucht sind – Halbtagsbestien sozusagen, von denen es irrtümlicherweise heißt, sie könnten nicht sprechen. Sie repräsentieren in jedem Fall das Anti-Schauspiel inmitten der Inszenierung, das Wunder des Authentischen, und haben deswegen gleich neben den echten Leuten von der Straße heute Hochkonjunktur. Tiere schwindeln nicht, heißt es dann. Dies ist eine beliebte deutsche Vermutung. Der amerikanische Autor John Jeremiah Sullivan weiß es besser. Er schreibt in seinem Reportageband Pulphead eine wunderbare Story über Tierangriffe, die sich in unseren Tagen mehren würden.48 Das heißt, beunruhigende Verhaltensänderungen der Tiere lassen auf beunruhigende Veränderungen der Natur insgesamt schließen. Ein Rausschmiss der Menschheit stehe uns bevor, das haben wir bereits geahnt, aber so, über holprige genetische Entwicklungssprünge? Denn Sullivan weiß: Tiere sind mittlerweile wie Menschen. Das heißt, sie verhalten sich mehr und mehr so.49 Er schreibt den Tieren zumindest mehr Psychologie zu, als wir uns vorzustellen bereit sind, er geht in seinem Bestienbefund nicht den üblichen Genregang eines Frank Schätzing.50 Die Stinkwut seiner Tiere ähnelt der Stinkwut ihrer Forscher, die er gleichzeitig porträtiert, sie sind deren Komplizen, könnte man meinen, nicht deren Widersacher, so schauerlich ihr Werk auch ist. Aber so sehr Sullivan die Tiere zu etwas nerdigen Zeitgenossen macht, eine Zuschreibung kann er am Ende nicht verhindern: Sie tauchen in den Endzeitszenarien immer in der Mehrzahl auf. Ihre Bedrohlichkeit liegt darin, dass sie den Plural repräsentieren. Sie sind die Meute, die Art, der Schwarm, und auf der Metaebene stehen sie natürlich immer für ihre Gattung. In dem schon in meiner letzten Vorlesung erwähnten Interview-Film L’Abécédaire von Claire Parnet mit dem Philosophen Gilles Deleuze ist „Animal“ der erste besprochene Begriff. Deleuze sagt, der Schriftsteller schreibe „für die Tiere“, er ergreife das Wort für sie, mehr noch, er sei verantwortlich „vor den Tieren, die sterben“. Und: Man müsse sich als Schriftsteller auf der Grenze entlangbewegen, die einen von der Animalität trenne, genau wie man sich in der Philosophie auf der Grenze befinde, die das Denken vom Nicht-Denken trenne. Die Tiere, die im Theater der letzten Jahre auftauchen, machen jedenfalls hauptsächlich die Grenze zwischen Spiel, das heißt Inszenierung, und...