E-Book, Deutsch, Band 5, 156 Seiten
Reihe: Krimi-Klassiker
Rodrian Krimi-Klassiker - Band 5: Küsschen für den Totengräber
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-95520-447-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 5, 156 Seiten
Reihe: Krimi-Klassiker
ISBN: 978-3-95520-447-1
Verlag: dotbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Irene Rodrian, 1937 in Berlin geboren, wurde u. a. mit dem Edgar-Wallace-Preis für ihren Krimi »Tod in St. Pauli« und dem Glauser Ehrenpreis für ihr Gesamtwerk ausgezeichnet. Seither hat sie sich mit zahlreichen Bestsellern in einer Gesamtauflage von über zwei Millionen und als Drehbuchautorin (»Tatort«, »Ein Fall für Zwei«) einen Namen gemacht. Irene Rodrian lebt heute in München. Bei dotbooks erschienen bereits Irene Rodrians Barcelona-Krimis über das Ermittlerinnen-Team Llimona 5 »Schöner sterben in Barcelona«, »Das dunkle Netz von Barcelona«, »Eisiges Schweigen« und »Ein letztes Lächeln« sowie die Reihe »Krimi-Klassiker«, die folgende Bände umfasst: »Tod in St. Pauli«, »Bis morgen, Mörder«, »Wer barfuß über Scherben geht«, »Finderlohn«, »Küsschen für den Totengräber«, »Die netten Mörder von Schwabing«, »Ein bisschen Föhn und du bist tot«, »Du lebst auf Zeit am Zuckerhut«, »Der Tod hat hitzefrei«, »... trägt Anstaltskleidung und ist bewaffnet«, »Das Mädchen mit dem Engelsgesicht«, »Vielliebchen«, »Handgreiflich«, »Schlagschatten«, »Über die Klippen«, »Bei geschlossenen Vorhängen«, »Strandgrab« und »Friss, Vogel, oder stirb«. Die Webseiten der Autorin: www.irenerodrian.de und www.llimona5.com Die Autorin im Internet: www.facebook.com/irene.rodrian
Autoren/Hrsg.
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2
Der Schrank war so niedrig, daß er nicht aufrecht drin stehen konnte. Seine Nackenmuskeln schmerzten. Ein Kleid hing über seinem Gesicht. Kratziges Leinen. Er schielte nach oben zu dem Kleiderbügel, drehte sich vorsichtig, um ihn weiterzuschieben. Die Hände zitterten unkontrolliert. Hustenreiz erstickte ihn. Er preßte eine Hand vor den Mund, schluckte, hielt die Luft an ...
Wird die denn nie fertig da drin?
Er versuchte, seine Stellung zu verändern. Lautlos. Stieß gegen das Kleid. Der Bügel quietschte, als er auf der Stange weiterrutschte. Er erstarrte, atmete flach; Schweiß tropfte ihm von der Stirn in die Augen, brannte.
Schritte kamen näher, hielten beim Schrank an. Die innere Zimmertür klappte. Dann die äußere Tür. Die Stimme der Krankenschwester: «...Das Letzte! Nicht mal sehen will sie den armen Wurm!»
Er holte tief Luft und wartete noch einen Moment, bevor er die Schranktür aufschob.
Sie schlief.
Sie lag auf dem Rücken, den Kopf halb zur Seite gedreht, die Decke bis ans Kinn gezogen, sorgsam glattgestrichen. Wie aufgebahrt ... Er machte einen Schritt auf das Bett zu. Es war gut einen Meter hoch. Man konnte herunterfallen. Im Schlaf zum Beispiel, nach einer Narkose; konnte sich das Genick brechen ... Noch einen Schritt. Er wischte seine Hände am Anzugstoff trocken. Er sah sich um. Der Nachttisch mit der Blumenvase. Seine Blumen. Fünfundzwanzig rote Rosen ... Ihr Gesicht war weiß. Fast so weiß wie das Laken.
Die Nische mit Toilette und Waschbecken. Der Einbauschrank. Man müßte mit dem Kopf zuerst ...
Sie schlief völlig reglos. Schien nicht einmal zu atmen.
Auf der anderen Seite ein verstellbarer Krankentisch. Und darauf die beiden dicken Kopfkissen. Weiß. Schwer. Er ging um das Bett herum, packte ein Kissen, zögerte ...
Nein.
Doch.
Ich kann nicht.
So leicht geht es nie wieder.
Ich kann nicht ...
Er beugte sich vor und drückte das Kissen auf ihren Kopf. Es ging leicht, als er ihr Gesicht nicht mehr sehen mußte. Sie bewegte sich noch immer nicht. Er drückte fester zu.
Plötzlich bäumte sich ihr Körper auf. Die Füße schlugen. Die Hände zappelten wie gefangene Katzen unter der festgesteckten Decke. Er schloß die Augen und legte sich mit seinem ganzen Gewicht über das Kissen. Der Körper unter ihm warf sich hin und her, hob sich, bog sich. Das Bett rollte ein Stück von ihm weg. Er ließ das Kissen nicht los. Stunden. Monate. Jahre ... Ihr Körper fiel schlaff zurück. Nur die Füße traten noch ein paar leere Schritte.
Aus.
Er zwang sich, den Druck auf das Kissen noch nicht zu verringern. Er hörte das Hämmern unter seinen Rippen, fühlte das Klopfen in seinem Hals. Er starrte auf die Tür. Dann ließ er das Kissen plötzlich los, erreichte mit zwei Sätzen den Schrank und zog die Tür hinter sich zu, als die Außentür des Zimmers geöffnet wurde. Die Innentür. Die Stimme der Krankenschwester:
«Meine Güte, was haben Sie denn jetzt schon wieder angestellt!» Schritte.
Er schob die Schranktür einen Spalt weit auf. Die Zimmertüren waren noch offen, direkt vor ihm. Er huschte hinaus.
Als er hinter sich den Schrei der Schwester hörte, hatte er schon den Flur überquert, die Besucherecke erreicht. Polstersessel, Gummibäume bis an die Decke ... Er blieb stehen, schaute zwischen den fleischigen Blättern hindurch.
Die Schwester kam aus dem Zimmer gerannt. «Leni! Den Doktor. 207, schnell!» Sie riß die Tür zum Schwesternraum auf, kehrte ihm den Rücken zu.
Er brauchte drei Schritte, um auf die andere Seite des Flurs zu kommen, und zehn bis zur Treppe. Er schaffte es, ruhig zu gehen, sich nicht umzuschauen. Eine Frau in einem wattierten Morgenmantel zog sich keuchend am Treppengeländer hoch. Sie beachtete ihn nicht.
Erster Stock. Er lehnte sich für einen Augenblick erschöpft an die Wand und merkte, daß er nicht allein war. Ein junger Mann, einen Blumenstrauß in der Hand, grinste zu ihm herüber, sah auf die Uhr und hatte ihn schon wieder vergessen.
Er versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden, aber seine Hände bekamen die Packung nicht auf. Er steckte sie in die Tasche und sah auf. Am Ende des Ganges tauchte ein Arzt auf, jung, dünn, blond; Brille.
Er kam auf ihn zu, hatte ihn erkannt. «Tag, Herr Lorenz. Herzlichen Glückwunsch!»
Er versuchte, etwas zu sagen, zu lächeln, sich zu bewegen. Die Muskeln machten nicht mit.
Der Arzt schien Zeit zu haben. «Ein Sohn ...»
«Ja, ich weiß ... Schon telefoniert ...»
Die Augen hinter den Brillengläsern beobachteten ihn. Grinsen. «Wir haben hier ja jede Menge nervöse Väter, aber bei unehelichen ...» Das Grinsen verschwand: «Pardon!» Einlenkend: «Möchten Sie die Mutter sehen?»
«Nein ...» Er räusperte sich. «Nein, nein, danke.» Quälte sich ein Lächeln ab. «Sie schläft doch sicher. Ich komm lieber nachher nochmal. Wollte nur ein paar Blumen ... Und fragen, ob alles ...»
«Verstehe. War ein bißchen schwierig am Anfang. Na ja, das erste. Aber jetzt ...» Lächeln: «Mutter und Kind wohlauf.»
«Doktor! Herr Doktor!» Eine Lernschwester am Treppenabsatz. «Schnell – zwohundertsieben ...»
«Ich komme!» Ohne Lächeln: «Entschuldigen Sie mich bitte.»
Er beobachtete, wie die beiden weißen Kittel die Treppe hinaufflatterten. 207. Fräulein Margot Grimm. Geglückte Geburt mit lethalem Ausgang. Bedauern. Eine verschleierte Erklärung für die Angehörigen. Unmöglich, zuzugeben, daß die Oberschwester die Patientin, die sich nach einer schweren Geburt in einem Zustand offensichtlicher Geistesverwirrung befand, allein ließ ... Vater und Sohn wohlauf.
Vater.
Er setzte sich in Bewegung. Der Vater ist noch im Haus ... Er begann zu laufen. Kaum vorzustellen, daß sie sich selbst das Kissen so fest ... Er rannte. Steinerne Treppenstufen. Erdgeschoß. Linoleumblinkende Gänge und Flure ohne Ende. BLOCK IV, Augenklinik. Pfeil rechts, BLOCK III, Urologie. Geradeaus. BLOCK II. Männer in Bademänteln. Krücken. Rollstühle. Weiße Verbände. Kiosk, Blumenladen, Post ... Er ging langsamer.
Die Halle. Besucher, Wartende, Neuankömmlinge. Und der Pförtner zwischen Glasfenster und Telefonanlage. Es läutete, als er nur noch fünf Schritte bis zu den Glastüren hatte. Der Pförtner hob ab, meldete sich und stöpselte um. Wandte sich einem Besucher zu.
Auf dem Platz vor dem Krankenhaus schien die Sonne. In den Rabatten blühte es gelb und weiß. Ein Taxi hielt, ein Mann half einer hochschwangeren Frau heraus. Das Taxi fuhr zum Standplatz weiter.
Kein Fenster ging auf, kein Schrei hielt ihn zurück, keine Hand packte ihn. Eine Straßenbahn fuhr vorbei, und der Polizeiwagen, der aus der Nebenstraße kam, ordnete sich ein, überholte und verschwand.
Nicht mal ein Strafzettel klemmte hinter dem Scheibenwischer seines BMW, obwohl er mitten in der Halteverbotszone stand. Er setzte sich hinter das Steuer und holte den Zündschlüssel aus der Tasche. Gas geben; losrasen: Bank. Paß. Flugplatz. Ausland ... Mörder fliehen für gewöhnlich.
Nein.
Nein, es war kein Mord. Er steckte den Zündschlüssel ins Schloß, ohne ihn umzudrehen. Es war eigentlich ... Es war ein Unfall. Den Ehering hatte er in der Brusttasche, er ließ sich nur schwer über den schweißfeuchten Finger schieben. Ja, ein Unfall. Er zog eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Die Flamme zitterte kaum. Ein Unfall.
Absichtlich fuhr er nicht geradeaus, sondern wendete, um noch einmal am Krankenhaus vorbeizukommen. Langsam. Noch langsamer ... Nichts.
Hinter ihm hupte ein Taxi, und er beschleunigte wieder. In der Ludwigstraße staute sich die Autoschlange bis zum Siegestor. Benzingestank. Er schloß das Fenster. Der Rauch seiner Zigarette kroch an der Frontscheibe hoch und blieb unter dem Verdeck hängen. Kupplung. Gas. Zwanzig Zentimeter. In dem VW vor ihm saßen zwei schwarzhaarige Mädchen. Ein Moped quetschte sich vorbei, hoppelte auf den Gehweg und fuhr vor. Fünfzig Zentimeter. Seine Hände lagen trocken und kühl auf dem Lenkrad. Krankenhäuser sind ideal. Alle halten zusammen. Nur kein Skandal. Ein Porsche versuchte, auf der Gegenfahrbahn zu überholen. Ein Martinshorn jaulte auf. Sein Fuß erstarrte auf dem Gaspedal. Der Porsche preschte erschrocken vor, quetschte sich vor dem VW in die Schlange und ...
Der Aufprall riß ihn hoch. Die Mädchen kletterten aus dem VW und kamen mit wütenden Gesichtern auf ihn zu. Er begriff nicht. Ein Mädchen rief etwas. Er stieg aus. Seine Knie schlotterten. Das Martinshorn ... Die Stoßstangen hatten den Aufprall abgefangen. Bei dem BMW war etwas Chrom abgeplatzt, beim VW höchstens der Rost.
«Tut mir leid ...» murmelte er hilflos.
«...allein der Schock!» sagte das eine Mädchen gerade. «Wie wollen Sie den wiedergutmachen?»
Er lächelte mechanisch, registrierte mechanisch, daß sie Jeans trug und einen Pulli und augenscheinlich keinen BH.
Die Autokolonne kam in Bewegung.
«Komm schon», sagte das andere Mädchen und starrte herausfordernd auf seinen Ehering. «Laß ihn heim zu Mami.»
Hinter ihnen begannen sie zu hupen. Die Mädchen stiegen in ihr Auto. Er fuhr hinterher und spielte die Szene in Gedanken weiter. Die Autonummer des VW, die Namen der Mädchen, ein Cafe, eine Bar, ein Apartment oder irgendein Hotelzimmer ... Erst als er zum mittleren Ring abbog, merkte er, daß der VW längst nicht mehr vor ihm herfuhr, und daß er sich weder an die Nummer erinnern konnte noch an die Farbe. Beige oder grau oder lindgrün oder sowas ... Margot...




