Rittelmeyer | Warum und wozu ästhetische Bildung? | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 15, 124 Seiten

Reihe: Pädagogik: Perspektiven und Theorien

Rittelmeyer Warum und wozu ästhetische Bildung?

Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick

E-Book, Deutsch, Band 15, 124 Seiten

Reihe: Pädagogik: Perspektiven und Theorien

ISBN: 978-3-89896-716-7
Verlag: ATHENA-Verlag
Format: PDF
Kopierschutz: 1 - PDF Watermark



In der didaktischen Fachliteratur wie in Rahmenrichtlinien oder Kerncurricula werden für künstlerische Schulfächer Lernziele genannt, die über ästhetische Erfahrungen weit hinausgehen: Musik, bildende Kunst, Theater und Tanz sollen die Erlebnisfähigkeit schulen und Wertvorstellungen sowie das Einfühlungsvermögen in andere Menschen fördern, sie sollen die Wahrnehmungs- und Ausdrucksfähigkeiten entwickeln sowie Kreativität und Gemeinschaftsgeist anregen. Zu fragen ist jedoch, ob derartige Ziele tatsächlich erreicht werden. Zu dieser Frage gibt es inzwischen eine umfangreiche internationale Forschung, über die hier erstmals zusammenfassend berichtet wird. In einer Zeit, in der künstlerische Schulfächer zunehmend zugunsten mathematisch-naturwissenschaftlicher und sprachbezogener Kompetenzen an den Rand gedrängt werden, ist diese Forschung von erheblicher Bedeutung für eine Rehabilitierung ästhetischer Bildung. Dass allerdings die bildende Wirkung ästhetischer Tätigkeiten nicht auf solche Transferwirkungen beschränkt ist, wird an Beispielen ebenfalls verdeutlicht.
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1;Inhalt;6
2;Vorwort;8
3;Einleitung;10
4;Die Erforschung der Bildungseffekte und Transferwirkungen künstlerischer Aktivitäten: Einführung in die Fragestellung;22
5;Transferwirkungen der Musik;28
6;Transferwirkungen des Kunstunterrichts, des Theaterspiels und des Tanzens;70
7;Ausblick;106


Einleitung
Im März 2006 veranstaltete die Unesco in Lissabon eine große Tagung mit über 1000 Teilnehmern aus 100 Ländern, die mit der Rolle künstlerischer und kultureller Bildung befasst war. Der Titel »Bildung kreativer Fähigkeiten für das 21. Jahrhundert« deutete an, dass ästhetische Bildung hier als unverzichtbare Aktivität angesehen wurde, um zukünftigen gesellschaftlichen Anforderungen gerecht werden zu können.[1] Der Generaldirektor der Unesco, Koichiro Matsuura, betonte in seinem Einleitungsreferat: »In einer Welt, die mit zahlreichen neuen globalen Problemen konfrontiert ist, sind Kreativität, Imaginationsfähigkeit und geistige Flexibilität grundlegende Kompetenzen. Gerade solche Eigenschaften können durch Kunsterziehung (Arts Education) entwickelt werden. Die künstlerische oder kulturelle Bildung ist daher ebenso wichtig wie die Entwicklung technologischer und wissenschaftlicher Fähigkeiten.« Der Kognitionswissenschaftler und Hirnforscher Antonio Damasio betonte in einem weiteren Hauptreferat, dass gerade aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive wissenschaftliche und mathematische Bildung nicht hinreichen, kreative und innovative Bürger auszubilden – künstlerische und humanwissenschaftliche Bildung (arts and humanities) seien vielmehr ebenso wichtig. Erst sie etablieren nach Einsicht der neurologischen und psychologischen Forschung eine Lernkultur der emotionalen Beteiligung, die wiederum Grundlage einer wirklichen wissenschaftlichen Ausbildung ist. Kunstunterricht, Schultheater, literarische Bildung und Musik (arts and humanities) seien daher kein Luxus, sondern grundlegend für die Ausbildung auch der emotionalen und moralisch-sozialen Fähigkeiten. Ken Robinson, leitender Berater des Paul Getty Trusts in Los Angeles, erinnerte an die weltweit überraschend übereinstimmenden Krisensignale des Erziehungssystems. Immer noch würde dieses System der folgenden Hierarchie folgen: Ganz oben die mutter- und fremdsprachlichen Fähigkeiten, die Naturwissenschaften und die Mathematik, dann die geisteswissenschaftlichen Fächer (humanities), ganz unten mit niedrigster Priorität die Künste, die ihrerseits nochmals unterteilt werden in die vermeintlich höherwertigen Fächer bildende Kunst sowie Musik und in die geringerwertigen Angebote von Tanz und Theater. Dieser Hierarchisierung müsse, so der Referent, energisch widersprochen werden, da ästhetische Bildung für die Entwicklung eines Menschen von gleicher Bedeutung sei wie z. B. naturwissenschaftliche Kenntnisse und die profane Lesekompetenz. Die Hauptreferate wie auch die Tagung als solche machten zweierlei deutlich: Künstlerische bzw. ästhetische Bildung werden der gegenwärtig im Bildungsdiskurs favorisierten mathematischen und naturwissenschaftlichen Bildung sowie der Lesekompetenz als gleichwertige und für unsere Zukunft grundlegende Bildungsformen zur Seite gestellt. Und zugleich ist die Tagung als Aufforderung zu verstehen, sich einer begründeten Bildungsdiskussion im Hinblick auf die künstlerischen Aktivitäten (wie Musik, Theater, bildende Kunst, Belletristik, Tanz) zu stellen. Anne Bamford, eine australische Wissenschaftlerin, hatte rechtzeitig zur Tagung einen Überblick über die weltweiten Bemühungen um die Etablierung oder Rehabilitierung der Kunsterziehung vorgelegt, der unter dem Titel »The Wow-Factor« (übersetzt etwa: Faktor Staunen) erschien.[2] Der Bericht aus über 40 Ländern zeigt zwar, dass »Kunstunterricht« in verschiedenen (z. B. afrikanischen, europäischen oder asiatischen) Ländern unterschiedlich definiert wird, relativ übereinstimmend bilden jedoch fast immer das Malen, Zeichnen, die Musik und das Kunsthandwerk einen Kernbereich; immerhin zählen in rund 75% der Länder darüber hinaus aber auch Plastizieren/Bildhauen, Tanz und Theaterspiel dazu. Fragt man nach den Gründen und Zielen des Kunstunterrichts (bzw. nach dem »Warum« und »Wozu« ästhetischer Erziehung), dann fallen international sehr verschiedenartige Zielsetzungen und Ideen auf, die Anne Bamford in 8 Rubriken unterteilt; ich füge ihrer Aufzählung einige eigene ergänzende Hinweise hinzu: Technokratische Zielsetzungen (technocratic art) betonen verschiedene Fähigkeiten, die insbesondere für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines Landes wichtig sind: Fähigkeiten des konzeptuellen Denkens, des technischen Einfallsreichtums, des räumlichen Vorstellungsvermögens usw. Entwicklungspsychologische Zielsetzungen (child art) betonen, dass beispielsweise das Singen, die rhythmische bzw. tänzerische Bewegung oder das Malen Äußerungsformen von Kindern sind, die wesentlich für deren physische und psychische Entwicklung sind. Zielsetzungen der Ausdrucksgestaltung (arts as expression) betonen, dass im künstlerischen Tun Kreativität, Imaginationsfähigkeit und Authentizität eingeübt werden, über die sich das Individuum selbst finden und anderen gegenüber ausdrücken kann. Das wird häufig als persönliche Bereicherung oder sogar als therapeutische Inszenierung beschrieben. Aber auch eine Balance emotionaler und intellektueller Fähigkeiten findet ihren Ausdruck und ihre Förderung in der künstlerischen Betätigung. Kognitive Zielsetzungen (arts as cognition) sind dadurch gekennzeichnet, dass man sich von der künstlerischen Tätigkeit Auswirkungen auf die intellektuellen Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen erhofft: Gefördert werden dieser Annahme zufolge kreatives und praktisches Denken, räumliches Vorstellungsvermögen, planendes Verhalten, soziale Intelligenz und andere kognitive Eigenschaften. Ästhetische Zielsetzungen (arts as aesthetic response): Diese sollten eigentlich allen künstlerischen Tätigkeiten zugrunde liegen, werden aber keineswegs immer damit verbunden. Hier steht die Auseinandersetzung mit der Machart von Kunstwerken, z. B. mit der Komposition eines Bildes oder eines Chorliedes im Vordergrund, also eine Art ästhetische Alphabetisierung. Kommunikative Zielsetzungen (arts as symbolic communication): Die Künste werden hier als eine bestimmte Form der Kommunikation, als eine symbolreiche Sprache angesehen, die eine besondere und nicht durch andere Mittel ersetzbare Art der Verständigung zwischen Menschen ermöglicht. Kulturelle Zielsetzungen (arts as a cultural agent): Die Künste in einer Gesellschaft dienen immer auch der kulturellen Selbstdefinition ihrer Mitglieder oder auch der internen sozialen Differenzierung – z. B. über bestimmte »Klassiker« oder Traditionen, über Geschmacksdefinitionen, über das künstlerische Expertentum oder über Vorlieben und Abneigungen gegen moderne Kunst. Dass in einigen karibischen Staaten auch das Anfertigen kunstvoller Frisuren zur ästhetischen Bildung gehört, ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Postmoderne Zielsetzungen (postmodernism): Dieser vielleicht nicht ganz treffsichere Begriff Anne Bamfords soll unter anderem das Infragestellen traditioneller Begriffe von Kunst oder das Erfinden neuer Kunstrichtungen (wie die Arbeit mit neuen technischen Kommunikationsmedien) bezeichnen. Zwar muss man feststellen, dass Anne Bamfords Überblick den differenzierten Institutionen und Formen des Kunstunterrichts wie auch seiner didaktischen Diskussion in den einzelnen Ländern nicht gerecht wird.[3] Auch fehlen Hinweise auf die Versuche, z. B. europäische Schönheits- bzw. Ästhetikbegriffe mit denen anderer Kulturkreise (wie dem japanischen) in einen Dialog zu bringen: Das jeweilige Verständnis ästhetischer Erziehung wird von diesen unterschiedlichen kulturellen Verankerungen und Diskursen des Ästhetischen erheblich mitbestimmt.[4] Dass aber künstlerische Tätigkeiten weltweit zum Kanon der schulischen und außerschulischen Bildung gehören, wird deutlich belegt.[5] So ist dieser im Auftrag der Unesco angefertigte Bericht wie auch die Tagung als Mahnung zu verstehen, ästhetische Bildung im Zeitalter der PISA-Tests und der testbaren »Bildungsstandards« nicht zu vernachlässigen – wie das faktisch vielfach geschieht.[6] Wenngleich heute häufig versucht wird, auch für den ästhetischen Bereich diagnostische Verfahren zu entwickeln, fallen diese doch eher fragwürdig aus. Wie will man die Leistungen eines Jugendlichen im Theaterspiel oder die kunstvolle Interpretation eines Gedichtes durch eine Schülerin zufriedenstellend »messen«?[7] Es ist vermutlich diese mangelnde Möglichkeit einer Standardisierung und Diagnostizierung, die dafür mitverantwortlich gemacht werden kann, dass künstlerische Aktivitäten immer wieder in die Region der »Nebenfächer« abgedrängt werden. Diese Tendenz ist weltweit zu beobachten – in den USA nicht unerheblich durch die No-Child-Left-Behind-Initiative der Bush-Administration befördert, aber sogar in Ländern wie dem PISA-Spitzenland Finnland neuerdings beobachtbar.[8] In Deutschland wie in den USA wurden die Unterrichtsbudgets für künstlerische Fächer zugunsten der Mathematik und Naturwissenschaften gekürzt oder mindestens in ihrer Wertigkeit marginalisiert. Gegen diesen Trend gibt es allerdings auch zahlreiche kritische Stimmen und Gegenaktivitäten wie die eben genannte Tagung in Lissabon, an der auch Nichtregierungs-Organisationen (NGOs) wie die International Society for Education through Art (InSEA), die International Society for Music Education (ISME) oder die International Drama and Theatre Education Association (IDEA) beteiligt waren. In den USA wurde 1994 die Arts Education Partnership...


Christian Rittelmeyer, Jg. 1940, Diplom-Psychologe, bis 2003 Professor für Erziehungswissenschaft am Pädagogischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen mit den Arbeitsschwerpunkten Pädagogische Psychologie, Pädagogische Anthropologie, Erziehungsgeschichte und Forschungsmethoden der Erziehungswissenschaft.


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