Righetto | Das Fell des Bären | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Righetto Das Fell des Bären

Roman
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-21840-9
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-641-21840-9
Verlag: Blessing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Ein großes Abenteuer in den Dolomiten und eine berührende Vater-Sohn-Geschichte
Seit dem Tod seiner Mutter vor zwei Jahren hat der zwölfjährige Domenico ein hartes Leben: Sein Vater, ein Tischler, ist schweigsam und ungesellig wie ein Luchs geworden und interessiert sich nicht einmal für die glänzenden schulischen Leistungen seines Sohnes. Dieser findet Trost nur in der Natur, an den Bächen und Wasserfällen der Dolomiten.

An einem Herbstmorgen im Jahr 1963 eröffnet Pietro, der Vater, seinem Sohn, dass er heute nicht zur Schule gehen soll: Sie werden für einige Tage in die Berge gehen - mit Proviant und zwei alten Gewehren. Im Laufe des mühevollen Aufstiegs erfährt der Junge, dass Pietro eine Wette eingegangen ist: Ausgerechnet er, der Außenseiter im Dorf, hat versprochen, den Bären zu erlegen, der in dieser Gegend seit einigen Wochen Bienenstöcke zermalmt, Hirsche und Rehe reißt. Auf ein solches Abenteuer hat Domenico schon lange gewartet. Dass es ihn an seine Grenzen führt, wird rasch deutlich. Zugleich spürt er im Laufe der abenteuerlichen Jagd eine wundersame Wandlung seines Vaters: Unter dessen rauer Schale bricht ein zugänglicherer, viel emotionaler Mensch hervor, als Domenico je für möglich gehalten hätte.

Matteo Righetto wurde 1972 geboren und lebt in Padua. Er ist Dozent für Literatur. Sein Roman 'Das Fell des Bären' (Originaltitel: 'La pelle dell'orso') war ein internationaler Bestseller und wurde von Marco Segato verfilmt. Auch sein neuer Roman wurde in zahlreiche Länder verkauft.

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1

Vorsichtig strich Domenico sich mit der Handfläche über die rechte Wange. Er passte auf, dass er keinen Druck auf den Bluterguss ausübte, um den herum noch die Abdrücke kräftiger Finger zu sehen waren. Der Schmerz von gestern war heute nur noch ein lästiges Jucken. Das Schlimmste war also überstanden. Aber Gelegenheiten, sich weitere Ohrfeigen einzufangen, gab es genug. Damit musste er rechnen, ebenso wie mit der sehr viel ernsteren Gefahr, auf diesen entsetzlichen Bären zu stoßen, der jetzt in aller Munde und in ihrer Gegend schon so etwas wie ein Mythos geworden war. Doch vor dem hatte er keine Angst. Obwohl ihn alle davor warnten, sich allein zum Fluss aufzumachen, ließ Domenico sich dieses Vergnügen nicht nehmen.

Er hockte auf einem Felsblock aus hellem Gestein und ließ die Beine über das Wasser baumeln. In einer Hand hielt er einen Kanten Schwarzbrot, den er hin und wieder zum Mund führte, um davon abzubeißen, in der anderen seine Angel. Allerdings nicht so eine, wie man sie im Geschäft unten im Tal kaufen konnte, nein, es handelte sich um eine Birkenrute, an deren oberem Ende, gewissenhaft verknotet, eine Schnur befestigt war, mit einem alten, halb verrosteten Angelhaken daran. Einfach, aber äußerst wirkungsvoll. Immerhin hatte er es mit dieser behelfsmäßigen Konstruktion noch jedes Mal geschafft, einen Haufen Forellen aus dem Wasser zu ziehen.

Einige Meter unterhalb des mächtigen Felsblocks aus Dolomit, auf dem er saß, hatte sich der Fluss eine Ausbuchtung mit dunkelblauem Wasser gegraben, sehr tief und mindestens so groß wie eine Kuh auf der Weide. Ein idealer Lebensraum für die Forellen.

Eigentlich angelte Domenico nie zweimal an derselben Stelle, aber vor einiger Zeit hatte er herausgefunden, dass es hier von Fischen nur so wimmelte, sodass er sein Vergnügen bequemer haben konnte. Allerdings war es mit der Bequemlichkeit so eine Sache, wenn man mit dem Hintern auf einem scharfkantigen Felsen saß.

Auch heute versuchte der Junge sein Glück wieder an dieser Stelle. Und während er so dasaß und angelte, wiegte er sich in den immer gleichen Tagträumen: Er stellte sich vor, Großes zu schaffen, ein außergewöhnliches Leben zu führen, träumte davon, tausenderlei Abenteuer zu bestehen und Heldentaten zu vollbringen, die mit seinem täglichen Trott rein gar nichts zu tun hatten. Wie gern wäre er etwa dieser Tom Sawyer gewesen, von dem ihnen die Italienischlehrerin in der Schule schon häufiger erzählt hatte. Doch sobald er wieder auf dem Planeten Erde gelandet war, musste er sich eingestehen, dass die Aussichten auf ein richtiges Abenteuer in seinem Leben verschwindend gering waren.

Verdrossen biss er noch einmal von seinem Brotkanten ab. Eigentlich knabberte er nur, um länger davon zu haben. Dann warf er die Angelschnur mit der aufgespießten Kugel aus gelber Polenta am Haken aus und schaute sich um, als sehe er das alles, was er vor Augen hatte, zum ersten Mal.

2

Er liebte den Herbst, der die Wälder in leuchtende Gemälde verwandelte. Obwohl er einem Winter vorausging, der hoch in den Bergen kein Ende zu nehmen schien, war und blieb er seine liebste Jahreszeit.

Manche Herbsttage kamen Domenico geradezu überwältigend schön vor, und schon früher hatte er häufiger überlegt, dass dieses Himmelsblau und diese in alle möglichen Rot-, Braun- und Gelbtöne gekleideten Wälder nur Zauberei sein konnten, das Werk der mazaròl und salvanèl, jener Kobolde und Geister, die in den Bergen wohnten.

Einmal hatte er davon reden hören, dass es in den Städten im Tal ganz anders sei, dass es dort keinen Unterschied zwischen Herbst und Winter gebe, beide Jahreszeiten seien gleich grau und verregnet und versänken im Nebel, ein trauriges Bild, das er sich kaum vorstellen konnte.

Hier in den Bergen hingegen hatte jede Jahreszeit ihre besonderen Farben, jeder Monat seine eigenen Gerüche, jeder Tag einen anderen Himmel.

Domenico biss noch einmal von dem alten Brot ab, lockerte kauend ein klein wenig die Angelschnur, legte den Kanten zu Boden und strich sich die Haare zurück, die ihm in die Stirn gefallen waren. Für sein Alter war er recht klein und dünn, und sein glattes Haar erinnerte an Rabengefieder. Die Sommersprossen und Fältchen links und rechts der Augen hatte er von seiner Mutter geerbt. Sein Blick war wach und offen, und doch schien sich, der Mondscheibe bei Neumond ähnlich, dahinter in seinem Gesicht noch etwas anderes, etwas Geheimnisvolles und Melancholisches zu verbergen.

Er wünschte sich, schnell erwachsen zu werden. Und stark. Denn im Moment fühlte er sich fast noch wie ein Kind. Er war ja auch erst zwölf, wusste jedoch für sein Alter bereits sehr viel und war weit unabhängiger als irgendein Junge aus der Stadt. Er war aufgeweckt und pfiffig, zugleich schüchtern und in sich gekehrt. Er lernte eifrig, würde gern nach der Mittelstufe bis zum Abitur weiter die Schule besuchen, aber er ahnte schon, dass sein Vater ihm das niemals gestatten würde. Domenico liebte es, allein zu sein und seinen Gedanken nachzuhängen. Ja, er war ein Träumer, und oft reichte ein Windhauch, eine neue Wolkenformation am Himmel, ein Rascheln in den Blättern, um seine Fantasie in Gang zu setzen. Doch fehlte ihm auch manches, vor allem die Zuneigung von Menschen, die ihm nahestanden.

Der Junge betrachtete die Lärchen, Buchen und Eichen ringsum, die wie gemalt aussahen.

Er hob den Blick und erspähte weit, weit über sich, in Richtung der Gipfel der Averaugruppe, einen mächtigen Adler, der auf Nahrungssuche seine Kreise zog. Unwillkürlich lächelte der Junge und überlegte, dass die größten Tiere der Bergwelt eine ganz besondere Ausstrahlung besaßen, etwas Magisches, Feierliches wie die Pfingstprozession oder die gesungene Christmette am Weihnachtsabend. Adler, Wölfe, Hirsche, Bären. Diese Tiere wussten instinktiv, dass sie etwas Majestätisches hatten, das sie aus dem Kreis der anderen hervorhob. Einen Bären allerdings hatte er selbst noch nie gesehen, ganz zu schweigen von diesem Ungeheuer, von dem jetzt alle redeten.

3

An diesem Tag war er eine Stunde später als gewöhnlich aus der Schule heimgekehrt, weil der Bus, der die Strecke von Agordo bis Colle Santa Lucia hinauffuhr, einen Platten hatte.

Als er das Haus betrat, war sein Vater nicht da, und so hatte Domenico nur seine Mappe auf der hölzernen Ofenbank abgelegt und begonnen, einige seiner Pflichten zu erledigen. Denn so klar der Himmel auch war, wurde die Sonne jetzt mit jedem Tag träger, sodass ihm nicht mehr als eine Stunde für seinen Ausflug zum Fluss blieb.

Er wusch Kohl, schnippelte grüne Bohnen und weichte Graupen ein, um daraus am Abend eine Suppe zu kochen; er putzte die Schuhe, die sein Vater sonntags trug. Schließlich ging er in den kleinen Stall hinüber, um die Kuh zu striegeln und zu tränken. Sie hieß Isotta und diente vor allem dazu, den alten Holzkarren zu ziehen. Ein Auto oder auch nur ein Moped besaßen sie nicht.

Endlich konnte er seine Angelausrüstung zusammenpacken und sich eilig zum Ufer des Codalonga aufmachen.

Das Tosen des Wildwassers war laut und hatte doch etwas Sanftes und Beruhigendes.

Je näher er dem Fluss kam, der oben beim Monte Pore entsprang und einem anderen Wildwasser, dem Fiorentina, zuströmte, desto deutlicher spürte er dessen reißende Kraft.

Fast täglich suchte er diesen Ort auf, nur im Winter nicht, wenn alles hoch verschneit war, oder wenn sein Vater ihm Hausarrest verpasste oder befahl, sich im Stall oder auf dem Feld nützlich zu machen.

Nirgendwo fühlte Domenico sich so wohl wie am Wasser. Das Angeln bot ihm Gelegenheit, für sich zu sein, weit weg vom Zorn und den schwieligen, harten Händen seines Vaters Pietro. Dann warf er die Angelschnur aus, lauschte dem Rauschen des Flusses und ließ sich von den Bildern forttragen, die ihm durch den Kopf gingen und sein Herz bewegten. In diesen ersten Oktobertagen war das häufig die Erinnerung an seine Mutter, die zwei Jahre zuvor gestorben war, an ihren Duft, ihre Stimme. Oder sein schwieriges Verhältnis zum Vater. Seltener stellte er sich den Bären vor, von dem so viel gesprochen wurde. Schließlich war da noch Maria, das schönste Mädchen in Colle Santa Lucia, bei deren Anblick seine Herz jedes Mal einen Satz machte. Sie jedoch beachtete ihn nicht, vermutlich, weil er ein Jahr jünger war als sie.

Plötzlich spannte sich die Angelschnur, und Domenico schrak auf und begriff, dass eine Forelle angebissen hatte. Sogleich begann er, mit flüssigen, aber entschlossenen Bewegungen die Schnur langsam einzuholen, bis er den Haken aus dem Wasser und den Fisch an Land gezogen hatte. Es war eine schöne, große Forelle, die da an der Angel zappelte, die dritte an diesem 6. Oktober und wahrscheinlich die letzte. Die Dämmerung setzte ein, und es wurde Zeit, nach Hause zu gehen.

4

Bevor er diese letzte Forelle fing, auch bevor er den Adler erblickte und zum Flussufer lief, und sogar noch, bevor der Bus mit einen Platten zum Stehen gekommen war, hatte ihn die Italienischlehrerin Verben abgefragt.

Sie hatte alle Formen wissen wollen, die Konjunktive, das Konditional und selbst das Gerundium. Domenico beherrschte sie, bekam eine Eins und wurde mit einer Berührung seiner Lehrerin, die ihm über den Kopf strich, belohnt.

Während er auf seinen Platz zurückkehrte, hatte ein Klassenkamerad eine Hand vor den Mund gelegt und den anderen »dieser verdammte Streber« zugezischt. Domenico hatte das nicht weiter beachtet und war einfach weitergegangen, stolz und aufgewühlt, mehr noch wegen der Geste der Lehrerin als wegen der Note.

Diese Eins, das wusste er, interessierte niemanden, am...


Righetto, Matteo
Matteo Righetto wurde 1972 geboren und lebt in Padua. Er ist Dozent für Literatur. Sein Roman "Das Fell des Bären" (Originaltitel: "La pelle dell'orso") war ein internationaler Bestseller und wurde von Marco Segato verfilmt. Auch sein neuer Roman wurde in zahlreiche Länder verkauft.



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