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E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Rieks Serverland

Roman

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-446-25943-0
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das Internet ist seit Jahrzehnten abgeschaltet, die Statussymbole von früher sind nur noch Elektroschrott. Reiner, Mitte zwanzig, sammelt Laptops aus dieser lange vergangenen Zeit und wird zum Begründer einer Jugendbewegung, die verklärt, was es früher wohl einmal gab – die Freiheit einer Gesellschaft, die alles miteinander teilt. Mit Hilfe einer Autobatterie gelingt es, eine Verbindung zu lange stillgelegten Servern herzustellen. Die Jugendlichen sehen, was seit Jahrzehnten keiner mehr gesehen hat: das Internet. Mit einem sezierenden Blick auf unsere Gegenwart hat Josefine Rieks einen rasanten wie klugen Roman geschrieben. Ein Debüt, das man mit weit aufgerissenen Augen liest.
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Zwei
Es war genau eine Woche her, dass ich am Wochenende mit Regionalbahnen bis nach München und zurück gefahren war. Ich hatte dort einen Typen getroffen, der Wohnungsauflösungen durchführte. »PC-Spiele für Sammler« hatte es in der Zeitungsannonce geheißen. Er hatte Hunderte. Den Rest würde er entsorgen, hatte er zu mir gesagt. Er bräuchte den Platz. Seine Exfrau würde darauf bestehen, dass er für ihre Tochter endlich ein Zimmer freiräume. Während ich in seiner Wohnung, die er als Lager nutzte, die in Kartons verstauten Spiele durchsucht hatte, hatte er im Türrahmen gelehnt und mir zugesehen. Früher hätte er sie noch heimlich selbst gespielt, hatte er mir anvertraut, vor allem nach der Trennung. »I hob des alles no aufghobm. Oba haid braucht des ja koana mehr«, hatte er gesagt. »CDs genga wuida ganz guad. De as de Nullern und as de Zehnern san zum Teil echt wos wert. – Oba de Schbuim … Nehmen S’ ruhig olle mid.« Ich war froh gewesen, dass er mich nicht gefragt hatte, warum ich sie haben wollte. Insgesamt konnte ich nur so viele mitnehmen, wie in meinen Rucksack passten. Deshalb brauchte ich den ganzen Nachmittag, um eine Auswahl zu treffen. Auf das Command & Conquer: Alarmstufe Rot 2 hatte ich mich am meisten gefreut, und dann stürzte es immer wieder an derselben Stelle ab. Am nächsten Morgen versuchte ich es trotzdem noch einmal. Ich stand früh auf und kochte Kaffee, von draußen fiel morgendliches Licht durch die Jalousien. Dann setzte ich mich mit dem Becher von gestern, den ich einfach noch einmal benutzte, an den Küchentisch und startete das Spiel. Es fing mit einer Sequenz an, die durch Filmszenen in die Story einführte. Special Agent Tanya trat auf. Sie war im Außeneinsatz und lieferte sich ein selbstbewusstes Wortgefecht mit ihrem Vorgesetzten über Videotelefonie. Ihre Hundemarke hing in ihrem vom Kampf und der Verantwortung dezent verschwitzten Ausschnitt. Special Agent Tanya war die vielseitigste Infanterieeinheit der Alliierten. Sie war etwa genauso schnell wie die GIs, konnte aber Flüsse und Ozeane überqueren und durch C4-Angriffe feindliche Gebäude und Schiffe sowie Brücken und Bauhütten von Brücken völlig zerstören. Nur in Command & Conquer: Alarmstufe Rot 2 wurde sie von Kari Wuhrer gespielt. Abhängig vom Produktionsjahr waren es in den anderen Episoden Lynne Litteer oder Jenny McCarthy. Was im Endeffekt auch egal war, denn beide spielten die Elitekämpferin als Schlampe mit aufgepumpten Brüsten und dicken Lara-Croft-Knarren. Nur Kari Wuhrer spielte Tanya demütig. Sie schleuderte ihrem männlichen Vorgesetzten, der sich bloß mit bürokratischer Strategie befasste, anstatt wie sie an der Front zu kämpfen, noch einen taffen Spruch entgegen, dann startete das Spiel und ich hielt die Luft an, als würde das irgendetwas ändern können. Tanya informierte mich über sowjetische Dreadnoughts, die die Freiheitsstatue beschossen. Ich schoss zurück. Die Übermacht des Feindes war erdrückend … Und dann schmierte das Spiel ab, nach weniger als fünf Minuten Einsatzzeit. Ich fand die Visitenkarte und wählte die Nummer des Münchener Händlers. »Guten Morgen«, sagte ich in den Telefonhörer. »Ich war letztes Wochenende …« »Ja?«, wurde ich von der anderen Seite knapp unterbrochen. »Vielleicht erinnern Sie sich an mich. Ich habe ein paar PC-Spiele mitgenommen, unter anderem das C&C: Alarmstufe Rot 2, das jetzt leider nicht richtig läuft … «, sagte ich. Schweigen am anderen Ende der Leitung. »Deshalb«, sagte ich. »Lassen S’ mir mei Ruah. Des is mir so was von Wurscht.« »Also«, versuchte ich es noch mal. »Machen S’ es guad. Servus.« Auf der anderen Seite wurde aufgelegt. Ich hatte gedacht, es könnte ihn interessieren. Ich betrachtete meine langen Fingernägel. Dann ließ ich mir an der Spüle Wasser in den Becher laufen und holte das MacBook Air. Den Rest des Sonntags verbrachte ich damit, meine Pornosammlung auf die Festplatte des MacBook Air zu transferieren. Es ergaben sich gewisse Probleme mit der Formatierung der 1-Terabyte-Festplatte, die für das Betriebssystem des Macs nicht lesbar war, sodass ich erst eine andere Festplatte leer räumen und als FAT32 neu formatieren musste und so weiter und der Prozess letztendlich den ganzen Tag in Anspruch nahm. Zwischendurch ging ich rüber zu Aral, kaufte mir Grießpudding im Tetra Pak und Haribo. Zusätzliche Zeit brauchte ich, weil mich manchmal schon die Titel erregten. Aber ich sah mir nur einen einzigen Porno an; einen osteuropäischen mit einer kleinen Blonden. Dazu wichste ich und kam schnell auf meine Hosenbeine, die ich dann mit dem Geschirrtuch abwischte. Chris lag mit seinen Anspielungen daneben. Ich sammelte die Pornos nur, weil ich sie auf den Notebooks finden konnte. Er lieh sich unter der Ladentheke in der Videothek sicher ganz anderes Zeug aus. Der letztendliche Übertragungsvorgang von Festplatte zu Festplatte brauchte nicht lange, und ich nahm mir vor, es zu verschieben, die einzelnen Sequenzen nach Themen zu sortieren. Gerade als ich endlich so weit war, mich der nächsten Mission des Vorgängerspiels vom fehlerhaften Command & Conquer: Alarmstufe Rot 2, Command & Conquer: Alarmstufe Rot 1, zu widmen, das ich ersatzweise noch einmal durchspielen wollte, klingelte das Telefon. Es war mein Chef. Er gab mir den Arbeitsplan der nächsten Woche durch. Morgen, Donnerstag und Freitag als Vertretung auf der Route durch Alt-Reinickendorf. Ich notierte mir die Tage mit Kuli auf dem Notizblock, der neben meinem Telefon lag, und setzte mich zurück in die Küche. Ich steckte mir noch eine Gummihimbeere in den Mund. Die Tüte hatte ich auf den Teller gekippt, von dem ich am Morgen Toast gegessen hatte. Mein Chef war kein hohes Tier bei der Deutschen Post. Ich schätzte, dass er genau wie ich mit einem Zustellerjob angefangen hatte, niemals aufgehört hatte und irgendwann befördert worden war. Wahrscheinlich würde ich genauso enden wie er. Ich startete meinen DELL Latitude und setzte noch einen Kaffee auf, während er bootete. In der ersten Mission hätte sich sowjetische Infanterie hinter Bäumen versteckt. Special Agent Tanya (leider gespielt von Lynne Litteer) würde sie früh genug entdecken und mit einem einzigen Schuss erledigen. Dann klingelte das Telefon schon wieder. Ich musste also noch mal aufstehen und brauchte einen Moment, bis ich wusste, wer sich am anderen Ende der Leitung mit Meyer meldete und seine Stimme vertraut absenkte, als sei mit seinem Namen schon alles gesagt. »Können wir uns treffen?«, fragte er. »Ich … habe eigentlich was zu tun«, sagte ich. »Na komm. Ich hab ’n Sechser. In fünf Minuten an der Pankebrücke.« Dann legte er auf. Ich starrte auf den Hörer in meiner Hand und schüttelte den Kopf. Die Anzahl der Sätze, die Meyer und ich in der Schule miteinander gewechselt hatten, war von den Sätzen jetzt gerade am Telefon wahrscheinlich schon übertroffen worden. Ich beobachtete, wie der Kaffee in der Maschine von oben auf den fertigen Kaffee in der Kanne tropfte. Soweit ich mich erinnerte, war er ein paar Monate mit Lena zusammen gewesen, in die ich, wie in die meisten anderen Mädchen auch, verliebt gewesen war. Mehr fiel mir nicht ein. Außer seinem Kleidungsstil. Alle anderen, mich eingeschlossen, hatten spätestens seit der Achten Oberhemden in der Schule getragen. Ich sah an mir herunter. Ich trug eine Jeans und ein Oberhemd, das ich nicht gebügelt hatte. Dann ging ich ins Bad und sah in den Spiegel. Selbst Kleidung, die mir passte, war mir immer ein bisschen zu weit. Am Morgen hatte ich geduscht und mich trotz meines geringen Bartwuchses rasiert. Meine Haare schnitt ich mit demselben Rasierapparat, den man mit einem anderen Aufsatz zur Langhaarrasur verwenden konnte. Auch das war noch nicht lange her. Ich sah weder besonders gepflegt noch besonders ungepflegt aus. Eigentlich strahlte ich gar nichts aus. Dass ich bei der Deutschen Post arbeitete, passte zu mir. Ich ging in die Küche, ließ den DELL wieder herunterfahren und kippte den Kaffee in die Spüle. Dann verließ ich die Wohnung. Auf der anderen Seite der Prinzenallee führte die Soldiner Straße über die Panke. Ich ging spazieren und schlug nur zufällig die Richtung ein. Meyer lehnte am Brückengeländer. Er sah genauso aus wie in der Schule. Blondierte, halblange Haare, dazu trug er ein Unterhemd und eine abgeschnittene labbrige Stoffhose; zu seinen Füßen stand wirklich ein Sechserpack. Vor ihm parkte ein Wagen am Straßenrand, die Beifahrertür stand offen und es lief laute Musik. Ein paar Passanten schüttelten den Kopf. Ich wollte gerade wieder gehen, als er mich sah. Er grüßte mich mit einem Finger an der Stirn und kam ums Auto herum. »Wir fahren ein Stück«, rief er und setzte sich hinters Steuer. In dem Moment realisierte ich, dass er es gewesen war, der gestern Abend im Soldiner Eck an der Theke geschlafen hatte. Ich stand unschlüssig auf dem Gehweg. Ich dachte an C&C: Alarmstufe Rot 1, aber dass ich es ja eigentlich schon mehrmals gespielt hatte. Währenddessen atmete ich mir in die Hand und überprüfte, ob ich Mundgeruch hatte. Dann nahm ich den Sechserpack, der noch da stand, wo Meyer am Geländer gelehnt hatte, und setzte mich auf den Beifahrersitz. Unwillkürlich hielt ich mir mit den...


Rieks, Josefine
Josefine Rieks wurde 1988 in Höxter geboren, studierte Philosophie und lebt in Berlin. Sie schrieb das Drehbuch zum No-Budget-Film U3000 – Tod einer Indieband. 2017 erhielt sie das Alfred-Döblin-Stipendium. Bei Hanser erschien 2018 ihr erster Roman: Serverland.


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