Riedel | Menschsein im Sterben | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

Riedel Menschsein im Sterben

Menschenbild, Würde und Logotherapie in der Palliative Care

E-Book, Deutsch, 176 Seiten

ISBN: 978-3-456-76326-2
Verlag: Hogrefe AG
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Sterben gehört zum Leben. Würdevolle Lebensführung braucht Entscheidungen.


Den Mittelpunkt der Hospizarbeit und der Palliative Care bildet das sorgende Dasein um den sterbenden Menschen und seine Angehörigen. Wichtiger als einzelne Care-Strategien erscheint das anthropologische Verstehen der Lebensthemen sterbender Menschen: Wer ist der sterbende Mensch? Wie führt er sein Leben? Welchen Sinn kann er für sein Leben finden? Wie drückt er seine persönliche Würde auch in Krisensituationen aus? Menschsein im Sterben zu verstehen, fördert die angemessene Sorge um die Lebensführung Sterbender. Die Klärung anthropologischer Grundbegriffe wie Würde, Souveränität, Selbstbestimmtheit und Autonomie erleichtern mitfühlende Unterstützung bei Entscheidungsprozessen Sterbender.

Der Autor, Philosoph mit Qualifikationen in Psychotherapie und Palliative Care, reflektiert das Menschsein im Sterben auf den Grundlagen der Logotherapie nach Frankl und der Würdezentrierten Therapie nach Chochinov. So entsteht ein strukturiertes Konzept für die palliative und hospizliche Praxis in der Perspektive einer angewandten Anthropologie, wie sie die Logotherapie ermöglicht. Das erleichtert Fachexpert*innen der Gesundheitsberufe wie auch ehrenamtlich Begleitenden die kommunikative Begegnung mit Sterbenden und die mitfühlende Sicht auf deren existenzielle Themen.

In anschaulichen, kommentierten Fallvignetten, in Merksätzen und Praxistipps erschließen sich in diesem Fachbuch die Grundlagen würdevollen Verhaltens, wertschätzender Kommunikation und mitfühlender Begegnung von Sterbenden und Sorgenden, u.a. im Kontext von Sinnkrisen, Schuldgefühlen und Trauer.
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Zielgruppe


Fachkräfte in der Hospice Care und Palliative Care.


Autoren/Hrsg.


Weitere Infos & Material


|25|3  Wer ist der Mensch?
In der Sterbebegleitung begegnen wir häufig Menschen, die ihr Leiden im „Klagedreiklang“ (Riedel, 2017b, S. 54) ausdrücken: Warum gerade ich? Warum gerade jetzt? Warum gerade so? Das Fragewort Warum verweist darauf, dass wir Menschen wissen wollen, wo das Leid herkommt. Wir wünschen uns, durch Erklärung das Leid zu verstehen. Wir handeln nach der Vorstellung: Wenn ich mir mein Leid erklären kann, dann halte ich es leichter aus. Letztlich führt das dazu, dass wir uns in unserem Leiden intensiv beobachten. Wir kreisen um unser Leiden. Der psychologische Begriff für diesen Zustand heißt „Lageorientierung“ (Kuhl, 2010, S. 239?f.). Kennzeichnend für die Lageorientierung ist das Problem, unangenehme Gefühle, die von Belastung oder Bedrohung ausgelöst werden oder damit verbunden sind, schwierige Absichten und Verhaltensweisen durch Beobachtung der Gefühlsreaktionen zu regulieren. Sterbende geraten leicht und wiederholt in den Zustand der Lageorientierung. Sie scheinen dann kaum für Ablenkung und Trost zugänglich. 3.1  Lageorientierung im Leid
Das Problem der Lageorientierung, wie es sich in der Warum-Klage ausdrückt, hängt mit einem fragwürdigen Lebensverständnis zusammen. Die logotherapeutische Anthropologie (Frankl, 2005) formuliert dies in drei Hypothesen: Leiden ist Leben. Das erfahrene Leid führt zum Leiden, zu einer Lebensweise, die vorwiegend auf das erlebte Leid reagiert. Der Blick ruht auf der Symptom|26|last des Leidens und den damit verbundenen Befürchtungen, dass die Möglichkeiten zur Abhilfe begrenzt sind. Leben heißt Anspruch auf Glück und Erfolg. Die Erfahrung von Leid unterbricht die Anspruchshaltung, dass der Einzelne ein Recht auf gutes Leben habe. Dies führt zu Enttäuschungen (Frustration) über das Leben. Frustration erweitert das Leiden an der Symptomlast zum „Schmerz am Leben“ (Riedel, 2017a, S. 11?f.). Die Abhilfe von Leid führt zu einem glücklichen Leben. Glückliches Leben kann wiederhergestellt werden, indem Leid beseitigt wird. Das Versagen dieser sog. „Reparaturannahme“ (Marquard, 2007, S. 135, Abschn. 230; Maio, 2017, S. 333) konfrontiert mit der persönlichen Sterblichkeit. Die Wahrnehmung der persönlichen Sterblichkeit ist oft mit Beschämungsgefühlen verbunden. Ein Leben, das nicht wieder herstellbar ist, scheint wenig wert und sinnlos geworden. Das Lebensverständnis in der Lageorientierung geht davon aus, dass Leid das Glück des Lebens unterbricht. Die Reparaturannahme verspricht: Wenn das Leid beseitigt werden kann, stellt sich Lebensglück wieder ein. Die Unterbrechung ist behoben. Es geht jetzt darum, die richtigen Reparaturmaßnahmen und den geeigneten Betrieb für die Durchführung zu finden. Damit endet die Verantwortung des Einzelnen; denn alles, was mit der Reparatur zu tun hat, ist Aufgabe von Fachleuten und Experten. Diese Sichtweise wirkt sehr technologisch geprägt. Zudem wird die Wiederherstellung ungestörten Lebens als Dienstleistung der Medizin, der Pflege und als Angebot des Sozialstaates erwartet. „Ob krank oder gesund, wir gehen immer auf den Krücken der Dienstleistungsgesellschaft. Für alles greifen wir auf Service, auf Geräte, auf Gekauftes zurück. Von der Wiege bis zur Bahre.“, fassen A. Heller und R. Gronemeyer (2021, S. 111) diese Sichtweise zusammen. Wird diese dienstleistungsbezogene, technologische Sichtweise dem Menschen gerecht? 3.2  Lebensgestaltung und Selbstgestaltung
Frankl geht in der Logotherapie von einer anderen Perspektive auf den Menschen aus: „Er ist auch Gestalter seiner selbst; denn er Mensch ist nun einmal das Wesen, das immer zu entscheiden hat, was es ist.“ (Frankl, 1994b, S. 54, Anm. 2) „Er ist Gestalter – und nötigenfalls Umgestalter – der Wirklichkeit.“ (Frankl, 1994b, S. 54) |27|Die Logotherapie setzt an die Stelle der Reparaturannahme die Fähigkeit zur „Selbstgestaltung“ (Frankl, 2005, S. 203) und verbindet damit die Fähigkeit zur Lebensgestaltung. „Wir sprechen vom menschlichen Sein als einem Verantwortlichsein, und zwar auf dem Grund eben der wesenhaften Freiheit des Menschen. Wobei das Verhältnis zwischen Freiheit und Verantwortlichkeit sich darin kundgibt, daß die Freiheit nicht nur Freiheit-von ist, sondern zugleich Freiheit-zu, und die Übernahme von Verantwortung eben das ausmacht, der Mensch frei ist.“ (Frankl, 1991, S. 101). Analysieren wir die Argumentation in dieser Aussage in drei Schritten: Sie enthält einen Grundsatz: Zum Menschsein gehören Freiheit und Verantwortung. Sie stehen in einem Verhältnis zueinander. Freiheit ist nicht ohne Verantwortlichkeit denkbar und lebbar, Verantwortlichkeit nicht ohne Freiheit. Der Grundsatz wird konkretisiert: Freiheit kann Freiheit-von sein, frei von Schmerz, von Symptomen, von Leid, von Stress, von Sorgen, von Not. Die Vorstellung der Freiheit-von ist gerade im durch schwere Krankheit belasteten und im letzten Leben wünschenswert. Freiheit ist gleichzeitig die Freiheit-zu. Dies wird angesichts der Wahrnehmung der Sterblichkeit bewusst, wenn die Freiheit-von an eine unüberwindliche Grenze stößt, den Tod. Vom Tod ist niemand frei und auch nicht befreibar. Die Reparaturannahme versagt. Spätestens an dieser Stelle kommt die Frage nach der Verantwortlichkeit ins Spiel. Indem die Freiheit-von an die Grenze des Todes stößt, stellt sie jeden Menschen vor die Entscheidung, das Leben einfach laufen zu lassen oder es in die Hand zu nehmen. Je nachdem, wie sich der Einzelne in solchen Grenzsituationen entscheidet, übernimmt er Führung in seinem Leben, überlässt sich bewusst der Führung anderer oder lässt sich einfach treiben. Dazu ist er frei. Niemand schreibt ihm vor, wie er sich zu entscheiden hat. Er hat grundsätzlich die Freiheit dazu, sein Leben in Verantwortung zu führen – oder sich der Verantwortung zu entziehen, womit er auch viel Freiheit verliert. Oder er entscheidet sich für eine an seine persönliche Lage angepasste Mischung, sich und sein Leben selbst zu führen und sich dort, wo er an die Grenze seiner Fähigkeiten stößt, der Führung durch andere zu überlassen. Sie übernehmen dann vom Sterbenden beauftragt, was er selbst nicht mehr leben kann. Im praktischen Leben heißt das: Der Mensch ist ein entscheidendes Wesen. Er bringt Freiheit und Verantwortlichkeit in das der Lebenslage angemessene Verhältnis. Ob ich noch eine weitere Portion Essen zu mir nehme oder darauf verzichte, ist eine Frage meiner Entscheidung. Selbst wenn mir der Nachschlag ungefragt serviert wird, bleibe ich frei, zu essen oder ihn stehen zu lassen. Das |28|Maß der Freiheit bildet dabei die Verantwortlichkeit. Lasse ich den Nachschlag stehen, weil ich darin mein gesundes Wohlbefinden verantworte, verärgere ich möglicherweise die Gastgeber oder Angehörige, die mich als Sterbenden versorgen. Hat die ungestörte Beziehung zu den Gastgebern oder meinen sorgenden Angehörigen Verantwortungspriorität, werde ich zumindest einige Bissen zu mir nehmen. Geht es um einen von mir unabhängigen Wert, etwa bei einem Geschäftsessen im Rahmen von Vertragsverhandlungen, dann räume ich dem Verhandlungserfolg Priorität ein und stelle die Verantwortung für meine Gesundheit für dieses Mal zurück. In jedem Fall bin ich es, der das konkrete Verhältnis von Freiheit ...


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