E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Praxiswissen
E-Book, Deutsch, 160 Seiten
Reihe: Praxiswissen
ISBN: 978-3-96605-310-5
Verlag: Psychiatrie-Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autismus-Spektrum-Störungen wurden lange Zeit vor allem als eine Entwicklungsauffälligkeit bei Kindern wahrgenommen. Es liegt aber in ihrer Natur, dass sie in späteren Lebensphasen andauern.
Das vorliegende Buch bietet fundiertes Wissen zu Autismus im Erwachsenenalter und hilft psychiatrisch, psychotherapeutisch und psychosozial Tätigen, erwachsene Menschen aus dem Autismus-Spektrum diagnostisch richtig einzuschätzen und angemessen zu begleiten.
Die Autoren nehmen Ausprägungen, Diagnostik und Therapie in den Blick und legen dabei das Hauptaugenmerk auf hochfunktionalen Autismus. Sie geben einen fundierten Überblick über das Thema und stärken das gegenseitige Verstehen zwischen Menschen mit und ohne Autismus.
Zielgruppe
Fachkräfte der Psychiatrie, Psychotherapie, Sozialen Arbeit und Pädagogik sowie Menschen aus dem Autismus-Spektrum und ihre Angehörigen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Klinische und Innere Medizin Autismus und Asperger-Syndrom
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Medizinische Fachgebiete Psychiatrie, Sozialpsychiatrie, Suchttherapie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Sonderpädagogik, Heilpädagogik
- Medizin | Veterinärmedizin Medizin | Public Health | Pharmazie | Zahnmedizin Physiotherapie, Physikalische Therapie Ergotherapie, Kreativtherapie (z. B. Kunst, Musik, Theater)
Weitere Infos & Material
Intuition und Fachwissen sinnvoll verbinden – Einleitung– 7
Was ist Autismus?– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 12
Historische Entwicklung, Definition und Terminologie. 12
'Autistische Züge' – der Randbereich des autistischen Spektrums. 18
Ursachen und Häufigkeit. 20
Symptomatik. 23
Kognitionspsychologische und neurobiologische Erklärungsansätze. 26
Kompensationsleistungen. 29
Krankheit, Behinderung, Normvariante?. 33
Diagnosestellung und Komorbidität. 34
Hochfunktionaler Autismus und Sprache. 39
'Autistische' Ressourcen. 43
Helfender und therapeutischer Zugang– 45
Gestaltung der Kommunikationssituation. 45
Sich einlassen und Vertrauen bilden – Beziehungsaufbau. 51
Die Gegenübertragung: Was löst der Patient bei mir aus?. 53
Umgang mit den Varianten des autistischen Gedächtnisses. 59
Psychotherapeutische Konzepte. 63
Achtsamkeitsbasierte und andere therapeutische Verfahren. 64
Lebenswelten und Lebenslagen autistischer Menschen– – – – – – 68
Erfahrungen in der Arbeitswelt – berufliche Teilhabe. 68
Gestaltung des Wohnens – kommunale Teilhabe. 73
Freie Zeit, Urlaub, Sport, Kreativität – kulturelle Teilhabe. 77
Selbsthilfe, Selbstvertretung, Partizipation – gesellschaftliche Teilhabe. 81
Freundschaften – Partnerschaften – Beziehungen. 83
Rechtliche Aspekte und Unterstützungsmöglichkeiten– – – – – – 88
Krankheit und Behinderung – sozialrechtlich verstanden. 88
Die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention. 92
Rechtliche Unterstützungsmöglichkeiten. 96
Das Persönliche Budget. 99
Bedarfsermittlung, Hilfeplanung und persönliche Zukunftsplanung. 101
Berufliche Unterstützung. 104
Konkrete schwierige Situationen im Umgang mit Erwachsenen aus dem Autismusspektrum– – – – – – – – – – – 109
Umgang mit Schwierigkeiten in der Kommunikation. 109
Umgang mit Aggression und selbstverletzendem Verhalten. 113
Umgang mit Overloads. 116
Umgang mit Suizidalität. 119
Häufige Fehlerquellen im Umgang mit Erwachsenen aus dem Autismusspektrum – 122
Häufige Themen im therapeutischen Umgang – 127
Psychoedukation. 127
Hilfe bei Organisation und Strukturierung. 134
Alltagsthemen im helfenden Kontakt. 136
Offenlegung der Diagnose. 137
Klärung konkreter sozialer Situationen. 140
Vorwürfe und Schuldgefühle – Angehörigenarbeit. 143
Die rationale Arbeit am Wertesystem. 144
Zielfindung. 145
Vom Defiziterleben über die 'autistische Identität' zum menschlichen Pluralismus – Schlussbemerkungen– 148
Ausgewählte Literatur– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – 154
Helfender und therapeutischer Zugang
Gestaltung der Kommunikationssituation
Letztlich ergibt es sich aus den Symptomen der ASS von selbst, wie die Situation beschaffen sein sollte, in der ein sinnvoller Umgang mit den Betroffenen stattfinden kann. Wichtig ist eine sehr ruhige und eher reizarme Umgebung, zum Beispiel ohne häufig klingelndes Telefon oder hereinstürzende Menschen. Zu vermeiden sind unerwartete Berührungen, intensive Parfums oder Aftershaves, abrupte oder laute Geräusche oder etwa flackernde Lichtquellen.
Die Ritualisierung von Gesprächen mit einem immer gleichen zeitlichen Rahmen und definierten Abläufen von Begrüßung und Abschied und Ähnlichem ist sinnvoll. Für Gespräche sollte genügend Zeit und der Zeitrahmen für den Patienten transparent sein. Gespräche »zwischen Tür und Angel«, die mit manchen anderen Patienten einen situativ entspannenden Effekt haben können, werden von Menschen mit ASS eher als stressig empfunden, da sie die »Regeln und Skripte« eines solchen Gesprächs noch schlechter verstehen als diejenigen eines geordneten Pflege-, Psychotherapie- oder Arztgesprächs.
Wichtig ist es, dem Patienten ausführlich zu erklären, worum es in dem Gespräch gehen soll, oder dass er das Recht (und die Bürde) hat, die Inhalte des Gesprächs zu bestimmen. Von zentraler Bedeutung sind durchweg die Klarheit und Explizitheit der Aussagen des Helfers. Von der Kommunikation in Andeutungen, Bildern und (auch gut gemeinten) Späßen ist zuerst einmal abzusehen. Im weiteren Verlauf einer Behandlung können dann die Bedeutungen von Sprachbildern und Witzen interindividuell miteinander abgeglichen werden, sodass eine etwas »blumigere« Kommunikation möglich wird.
In der Anfangsphase einer Beziehung führt eine solche aber nur zu Missverständnissen und Verunsicherung. Manchmal ist es sogar sinnvoll, dem Patienten explizit zu sagen, ob man eine kurze oder lange Antwort auf eine Frage möchte. Undiplomatische Äußerungen, zu große Direktheit, als distanzlos empfundenes Verhalten, scheinbar fehlende Sensibilität oder fehlender Blickkontakt vonseiten des Patienten sollte vom Behandler natürlich nicht persönlich genommen werden. Weiterhin sollte dem Patienten sehr deutlich mitgeteilt werden, dass Nachfragen ausdrücklich erwünscht sind; wenn eine Frage oder Bemerkung des Behandlers bzw. des Patienten nicht verstanden wird, ist das Gegenüber aufgerufen, so lange nachzufragen, bis sich der Sachverhalt klärt.
MISSVERSTÄNDNISSE Missverständnisse sind in der Kommunikation zwischen autistischen und neurotypischen Gesprächspartnern sehr häufig. Die Patienten sind dies oft schon gewohnt und haben recht geschickte Strategien entwickelt, um über Missverständnisse unbemerkt hinwegzugehen, beispielsweise durch schweigendes freundliches Lächeln oder indifferente stereotype Aussagen wie »Ach, ja«. Hier gilt es, gemeinsam zu erlernen, wie man Missverständnisse klärt, und dafür auch immer wieder genug Zeit einzuräumen.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt – worauf Christine Preissmann (2013, 2016) in ihren Veröffentlichungen ausführlich eingeht – die Authentizität und Wohlgesinntheit des Helfers: Viele Menschen mit ASS haben ein fast untrügliches Gespür dafür, wenn der Therapeut versucht, jemand zu sein, der er nicht ist. Auf keinen Fall sollte man dem falschen Klischee des gefühls- und bindungslosen Autisten aufsitzen und daraus folgern, dass gegenseitige Wertschätzung in der Behandlung von Menschen mit ASS von untergeordneter Bedeutung wäre. Dem ist selbstredend nicht so – und es gilt am Anfang der Behandlung gut zu prüfen, ob die »Chemie« zwischen Behandler und Patient stimmt. Auch empfiehlt sich ein offener Umgang mit Fehlern und Wissenslücken. Nicht selten weiß der Patient mehr über Autismus als der Behandler, was nicht unbedingt bedeuten muss, dass die Therapie unproduktiv werden wird, und was offen angesprochen werden sollte.
KÖRPERKONTAKT Körperkontakt sollte zuerst einmal auf ein Minimum beschränkt werden, gut gemeintes In-den-Arm-Nehmen kann von Menschen mit ASS schnell als unangenehm oder grenzverletzend erlebt werden. Selbst der Händedruck zur Begrüßung bedeutet für manche Patientinnen und Patienten großen Stress, sodass darauf auf Wunsch – und wenn es für den Behandler akzeptabel ist – verzichtet werden kann. > Körperkontakt, Seiten 89, 116 f.
BEISPIEL
Die bereits erwähnte Psychologin Birgit Saalfrank erhielt im Alter von 39 Jahren die Diagnose eines Asperger-Syndroms. Sie beschrieb in einem Interview, welches Verhalten des Behandlers sie sich wünscht: »Es ist gut, langsam zu sprechen, nur das Wesentliche, kein Small Talk und nicht mehrere Fragen auf einmal. Pausen zulassen, damit Zeit zum Nachdenken ist. Im Grunde sollte das Gegenüber Ruhe ausstrahlen, das ist hilfreich. Ein nicht zu nahes Sitzen, vielleicht auch nicht direkt gegenüber, eher schräg. Ein Tisch kann so eine schützende Grenze sein. Der Psychotherapeut sollte sich nicht gekränkt fühlen, wenn kein Blickkontakt aufgebaut wird, und den Patienten nicht dazu auffordern, ihn anzuschauen. Die Terminfrequenz sollte individuell besprochen und möglichst klar festgelegt sein. Reizarmut ist wichtiger als bei anderen Patientengruppen. Die autistische Symptomatik sollte nicht psychodynamisch gedeutet werden, da man davon ausgeht, dass sie ererbt ist. Bei Reizüberflutung sollte es für den Patienten möglich sein, kurz rauszugehen oder sich eine Decke über den Kopf zu legen und ein paar Minuten Pause zu machen. Danach sollte dann nicht nachgefragt werden, was da passiert ist in der Zeit, sondern es sollte einfach die Regenerierung abgewartet werden. Rituale wie Abschiedsrituale sind sehr hilfreich« (Corman-Bergau & Saalfrank 2015; siehe auch Saalfrank 2019).
Noch wichtiger als in der Behandlung anderer Patientengruppen ist die Transparenz dessen, was die Therapie will und was sie macht. Dies sollte für das Gesamtkonzept der Therapie gelten. So sollten bei einem stationären Aufenthalt Ziele definiert werden, die vom Patienten geteilt und dann auch aktiv mitgetragen werden, und es sollte zumindest in groben Zügen abgesteckt werden, auf welchem Weg und mit welchen Mitteln die Ziele erreicht werden sollen. Da Zielfindungsprozesse bei Menschen mit ASS oft kompliziert und zeitaufwendig sind, kann auch zuerst einmal das Finden eines Zieles als Behandlungsziel definiert werden – aber auch dies sollte klar formuliert und von allen Beteiligten geteilt werden. Darüber hinaus sollte auch in einzelnen Gesprächen oder Sitzungen (etwa auch bei Musik- oder Ergotherapie) vonseiten des Behandlers die Bereitschaft bestehen, dem Patienten zu erklären, was in der jeweiligen Sitzung wann und warum passiert. Auch wenn das Ziel der jeweiligen Sitzung lediglich lautet, offen zu sein für das, was kommt, sollte dies transparent gemacht und ggf. erklärt werden. > Zielfindung, Seiten 147 ff.
Eine wichtige Rolle in der Behandlung von Erwachsenen mit ASS spielen Feedbacks, und zwar in beide Richtungen. Das hat den einfachen Grund, dass Menschen mit ASS – nicht in allen Bereichen, aber immer wieder auch an überraschenden Stellen – anders sind als ihre Gegenüber. Und da die meisten Menschen zu der primären – und unschuldigen – Vermutung neigen, dass alle Menschen gleich seien, gehen sie im Kontakt mit anderen natürlich auch davon aus, dass diese so denken, fühlen, wollen und »funktionieren« wie sie selbst. Diese intuitive Vermutung liegt auch sonst im mitmenschlichen Umgang häufig nicht ganz richtig; im Umgang mit Erwachsenen mit ASS ist sie oft schlichtweg falsch. Das gegenseitige Verstehen muss zwangsläufig den Umweg über den sprachlich expliziten Austausch inneren Erlebens und gegenseitiger Vermutungen nehmen.
FEEDBACKS Der Behandler sollte sein Gegenüber also immer wieder ermuntern, Feedbacks zu geben, und auch selbst nicht davor zurückschrecken. Dabei sollten Feedbacks häufiger in »Sie-« oder »Du-Form« gegeben werden als bei anderen Patientengruppen, bei denen oft die »Ich-Form« angebrachter ist. Das hat den Grund, dass Patienten mit ASS diese Form der Ich-Aussagen (»Ich fühle mich jetzt durch Sie angegriffen«) oft kontextuell nicht gut einordnen können, das heißt, es wird oft nicht verstanden, warum jemand das sagt. Formuliert man in Du/Sie-Form (»Sie unterbrechen mich heute ziemlich oft«), so ist der Fokus klarer, und der Patient läuft nicht Gefahr, die Aussage des Sprechers dahin gehend misszuverstehen, dass jemand jetzt über seine Gefühle sprechen möchte oder gar getröstet werden will.
Im weiteren Gespräch kann dann schon auch auf die realen oder potenziellen emotionalen Reaktionen des Gegenübers eingegangen werden (»Ich nehme an, dass viele Menschen sich angegriffen fühlen, wenn Sie sie so häufig unterbrechen wie heute mich«), aber eben mit dem für den Patienten klaren Fokus darauf, was sein Verhalten bei anderen Menschen auslösen kann.
Zu den Feedbacks sollte auch die Validierung von Eigenschaften, Fortschritten oder Handlungen gehören, die dem Behandler am Patienten gefallen (»Ihr klarer, unbestechlicher Sinn für Gerechtigkeit imponiert mir sehr« oder »Ich kenne kaum jemanden, der das Thema XY so gut verstanden und durchdrungen hat wie Sie«).
Toleranzgrenzen Ergänzend zu der...