Rhinow | Freiheit in der Demokratie | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: KONTEXT

Rhinow Freiheit in der Demokratie

Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-03919-980-8
Verlag: Hier und Jetzt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Plädoyer für einen menschenwürdigen Liberalismus

E-Book, Deutsch, 208 Seiten

Reihe: KONTEXT

ISBN: 978-3-03919-980-8
Verlag: Hier und Jetzt
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Alt-Ständerat René Rhinow setzte sich in seiner beruflichen und politischen Karriere immer wieder intensiv mit Fragen zu Demokratie, Verfassungsstaat und freiheitlichen Werten auseinander. Im ersten Teil des neuen Kontext-Bandes mit dem Titel «Freiheit gehört auch den Anderen» erörtert der Autor Aspekte eines Liberalismus, der die Lebens- und Entfaltungschancen aller Menschen ernst nimmt. Was bedeutet Freiheit? Was ist sozialer, was ist nachhaltiger Liberalismus? Und was hat er zu aktuellen Herausforderungen und Themen wie Identitätspolitik, Cancel Culture und politische Korrektheit beizutragen? Bleibt die Freiheit angesichts globaler Verflechtungen und autoritärer Tendenzen auf der Strecke? Teil zwei und drei des Bandes bilden die Beiträge «Von den Säulen der Demokratie» bzw. «Vom Nationalstaat zum integrativen Verfassungsstaat». Sie vertiefen die Thematik, dass die Freiheit im Zentrum des demokratischen Staates steht. Zusammen lesen sich die drei Teile als differenziertes, eindringliches Plädoyer fu¨r einen menschenwu¨rdigen, zeitgemässen Liberalismus.

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Liberalismus heute
Weltweit wird heute unter Liberalismus unterschiedliches, ja auch Gegensätzliches verstanden.3 Bald gelten Liberale als konservativ, bald als links, bald als Anhängerinnen und Anhänger eines rücksichtslosen Casinokapitalismus, bald als volksfremde Eliten – ein vor allem in populistischen Kreisen erhobener Vorwurf –, bald als hoffnungslos weltfremde Träumerinnen und Träumer. Ich kann und will diesen verschiedenen Deutungen nicht nachgehen. Den wahren Liberalismus gibt es nicht.4 Der europäische Liberalismus stellt sich in einer historischen Perspektive nicht als einheitliches Phänomen dar; die Vielzahl von Liberalismen lassen sich kaum auf einen Nenner bringen, der über das Anliegen der individuellen Selbstbestimmung hinausgeht. Das Verständnis des «Liberalen» stand stets in Abhängigkeit von besonderen historischen Erfahrungen und Erwartungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften. In den USA gilt liberal als links; in Frankreich wird der Begriff von Linken wie Konservativen als Schimpfwort verwendet und mit dem Wirtschaftsliberalismus des 19. Jahrhunderts assoziiert.5 In der Schweiz deckt der Liberalismus ein Spektrum unterschiedlicher Deutungen ab, die sich von denen in Frankreich, England oder Deutschland unterscheiden.6 Als prägend erwies sich ein politisches Denken, das dem Republikanismus verpflichtet war und nie zu einer absoluten Trennung von Staat und Gesellschaft führte.7 Pate stand Rousseau mit seiner Vaterlandsliebe und mit einer Staatsbürgerschaft, die Freiheit, Gesetz und Tugend eng miteinander verband.8 Der gemeinsame Nenner aller Verständnisse des Liberalismus dürfte darin liegen, dass es diesem darum geht, Wege zu suchen, wie unterschiedliche Menschen in Freiheit gut zusammenleben und ihre Freiheit grösstmöglich verwirklichen können. Edmund Fawcett basiert seine Ideengeschichte des Liberalismus9 auf vier Säulen, auf denen dieser beruht: die Anerkennung der Konflikthaftigkeit der Gesellschaft, das Misstrauen gegenüber jeglicher Macht, der Glaube an den menschlichen Fortschritt und der Respekt gegenüber anderen Menschen, was auch immer sie denken und wer auch immer sie sein mögen. Mit diesen Wegmarken grenzt er den Liberalismus vom Konservatismus und vom Sozialismus sowie vom Autoritarismus, vom nationalen Populismus und von der islamistischen Theokratie ab. Restriktive und positive Auffassungen
Ausgangspunkt des Diskurses über den Liberalismus bildet idealtypisch ein – wie ich es nenne – restriktives Verständnis, das sich auf «Klassiker» des Liberalismus wie Adam Smith, John Locke, Ludwig von Mises und Milton Friedman stützt. Voran steht eine negativ verstandene Freiheit, die gegenüber dem Staat abzuschirmen ist. Freiheit heisst in dieser Sicht vor allem Selbstbestimmung gegen Übergriffe der «Obrigkeit». Der Staat wird als Minimalstaat akzeptiert, der die Sicherheit zu garantieren hat – mit Polizei, Armee und Justiz, allenfalls ergänzt durch die Gewährleistung der Existenzgarantie. Spiegelbildlich schützen die in der Verfassung verankerten Freiheitsrechte das Individuum vor staatlichen Eingriffen im Sinn reiner Abwehrrechte. Im Vordergrund stehen oft die wirtschaftliche Freiheit mit Eigentumsgarantie und Marktwirtschaft sowie die pauschale Ablehnung von Regulierungen und Abgaben. Andere Liberale anerkennen auch «positive» Zugänge zum Liberalismus; sie lehnen sich eher an John Stuart Mill oder Ralf Dahrendorf an und befürworten eine begrenzte aktive Rolle des Verfassungsstaats zum Schutz von Freiheitsoptionen. Viele Anhängerinnen und Anhänger eines restriktiven Freiheitsverständnisses pflegen ihre Haltung als die «einzig wahre» zu halten; entsprechend bereitet es ihnen Mühe, andere, positive Zugänge zum Liberalismus als liberal zu akzeptieren. In einer Extremposition befinden sich Anarcholiberale, die jegliche staatliche Regulierung unbesehen als Übergriffe auf bürgerliche Freiheiten taxieren und «Exponenten des real gelebten Liberalismus», die auch staatliche Verantwortungen anerkennen, als «loyale Hofnarren etatistischer Totalität» bezeichnen.10 Dass Liberale oft nicht dasselbe unter Liberalismus verstehen,11 ist insofern nicht weiter verwunderlich, als der Liberalismus keine Ideologie, kein gefestigtes Lehrgebäude und keine Anleitung für die Lösung aller Probleme darstellt, sondern eine politische Philosophie, eine offene Denkrichtung, für mich vergleichbar mit einem Kompass, der das Ziel bestimmt, aber unterschiedliche Wege offenlässt. Ja, man kann sich fragen, ob der Begriff des Liberalismus nicht einen Widerspruch in sich selbst bildet, denn die liberale Ideenwelt lässt sich nicht in eine gefestigte Ideologie einbinden. Die Frage stellt sich erst recht, wenn «der» Liberalismus Ideologien wie dem Sozialismus gegenübergestellt und nach eindeutigen Abgrenzungsmerkmalen gesucht wird. Liberal oder radikal
Seit der Französischen und der Amerikanischen Revolution lassen sich zudem zwei Hauptströmungen des Liberalismus unterscheiden, welche das Verhältnis zur Demokratie betreffen.12 Der bewahrende Liberalismus trug elitäre Züge; er war bestrebt, die errungenen, dem Adel und der Kirche abgetrotzten Freiheiten zu stabilisieren, Wirtschaft und Technik zu entwickeln sowie Bildung zu fördern. Er wies ein gespaltenes Verhältnis zur Demokratie auf, denn er erblickte in den Rechten des Volkes eine Gefahr für die errungenen Freiheiten. Alexis de Tocqueville beispielsweise warnte vor den Unwägbarkeiten aufgepeitschter Stimmungen im Volk und vor einer Tyrannei der Mehrheit. Der kämpferische Liberalismus hingegen wollte die Revolution weiterführen und Freiheit mit Gleichheit verbinden. Er stand einer direkten Demokratie positiv gegenüber. In der Schweiz entsprach der frühe politische Liberalismus einem pragmatischen Konzept, geprägt von Theoretikern wie Ignaz Paul Vital Troxler, Benjamin Constant und Ludwig Snell, in der Praxis verbunden mit einem progressiven und integrationsfördernden Nation Building, das namentlich im Schulwesen, im Eisenbahnbau, in der Armee und der Post seinen Ausdruck fand.13 Auf der politischen Bühne standen Alfred Escher und Emil Welti eher für den elitären, Jakob Stämpfli14 und Daniel-Henri Druey für den kämpferischen Liberalismus. Diese unterschiedlichen Strömungen schufen die Voraussetzungen für die später von Isaiah Berlin eingeführte Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit. Sie spiegelten sich wider in den beiden liberalen Parteien des jungen Bundesstaats, den Liberaldemokraten und den Radikaldemokraten; sie bilden sich auch heute noch in veränderten Ausgestaltungen in der politischen Landschaft ab. Liberalismus in der Krise?
Steckt der Liberalismus in der Krise? Über den Stand und die Zukunft des Liberalismus wird gegenwärtig weltweit gestritten.15 Je nach Standort der oder des Beobachtenden kann man diese Frage wohl bejahen oder verneinen. Wenn die Entwicklung liberaler Demokratien seit dem Zweiten Weltkrieg im Blickfeld steht, so fällt es schwer – trotz Rückschlägen in den letzten zehn Jahren – von einer Krise zu sprechen.16 Doch der Begriff des Liberalismus besitzt nicht mehr die Integrationskraft, die ihm zuweilen politisch zugeschrieben wird – eine Erkenntnis, die auch für die Schweiz ihre Geltung beanspruchen dürfte. Schon früh haben prominente liberale Denker wie John Dewey oder John Stuart Mill moniert, dass Liberale in Gefahr stehen, einmal erkämpfte und erreichte Positionen nicht mehr daraufhin zu untersuchen, ob sich die Bedingungen der Freiheitsausübung gewandelt haben. Sie stünden in Gefahr, zu Apologeten des Status quo zu werden.17 Die liberale Demokratie sieht sich heute angesichts nationalistischer, fremdenfeindlicher und identitärer Strömungen, gespaltener Gesellschaften, bröckelnden Vertrauens in politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Eliten sowie religiösen Fanatismus schwerwiegenden Herausforderungen gegenüber, die aber das Fundament des Liberalismus nicht infrage stellen. Allerdings wird das Erstarken des Populismus und des Nationalismus der Desintegration des liberal-demokratischen Grundkonsenses zugeschrieben.18 Wenn man hingegen von einem restriktiven Verständnis der Freiheit ausgeht, so kann man in der beträchtlichen Zunahme von Staatsverantwortlichkeiten, die auch schon als Semisozialismus abqualifiziert worden ist, eine Krise erblicken.19 Ist der Zeitgeist der beginnenden 2020er-Jahre im Namen von Schutz und Sicherheit freiheitsfeindlich? Einiges spricht dafür, dass die vorherrschende Stimmung der Offenheit, dem Wettbewerb und dem Risiko misstraut und dass vor allem Schutz und Sicherheit angestrebt werden. Sicherheit ist aber heute angesichts des Klimawandels, der Mobilität und der Migration generell infrage gestellt und nicht durch einen Rückgriff auf bisherige Zustände zu gewinnen. Oder sind wir freiheitsverwöhnt und haben vergessen, als wie leidvoll sich...


Rhinow, René
René Rhinow ist emeritierter Professor fu¨r Staats- und Verwaltungsrecht der Universität Basel. Von 1987 bis 1999 gehörte er dem Ständerat (FDP) fu¨r den Kanton Basel-Landschaft an. Von 2001 bis 2011 war er Präsident des Schweizerischen Roten Kreuzes. Er lebt in Liestal.



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