Rhein | Literatur im Museum und literarische Musealität | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, Band 53, 564 Seiten

Reihe: edition lendemains

Rhein Literatur im Museum und literarische Musealität

Theorien und Anwendungsbeispiele (Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq)

E-Book, Deutsch, Band 53, 564 Seiten

Reihe: edition lendemains

ISBN: 978-3-381-12793-1
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Unter Rückgriff auf Ansätze der Museologie und der kulturwissenschaftlich erweiterten Literaturwissenschaft entwickelt die Studie Analysemodelle, um literarische Praktiken im Museum und museale Aspekte in der Literatur zusammenzudenken. Dies eröffnet neue Zugänge zu Autorinnen und Autoren, die in beiden Feldern aktiv sind, und ungewöhnliche Perspektiven auf deren Gesamtwerk. Erprobt werden diese Ansätze anhand zweier Autoren, die hier erstmals ausführlich unter dem Aspekt der Musealität untersucht werden: Jean-Philippe Toussaint und Michel Houellebecq. Toussaints Ausstellung Livre/Louvre und Houellebecqs Ausstellung Rester Vivant werden jeweils im Kontext des literarischen Gesamtwerks beider Autoren betrachtet.

Jan Rhein ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für französische Literatur- und Kulturwissenschaft am Institut für Romanistik der Europa-Universität Flensburg.
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II Literatur und Museum: Theorie und Ästhetik
1 Zugänge und theoretische Grundierungen
Die folgenden Überlegungen sollen als ‚Hinführung‘ das Feld abstecken, in dem sich literar-museale Komplexe situieren: Angestrebt wird die Kontextualisierung des Phänomens der Autorenausstellung im literarischen und musealen Feld (Kap. II.1.1.), sowie vor diesem Hintergrund die Etablierung grundlegender theoretischer Ansätze (Kap. II.1.2., II.1.3., II.1.4.). 1.1 ‚Ausgeweitete Kampfzonen‘ zwischen new museology und littérature hors du livre
Als Jeff Koons 2008 eingeladen war, im Château de Versailles auszustellen, und an diesem Ort der „hauts faits de la gloire nationale“ unter anderem mehrere Staubsaugermodelle in einer Vitrine präsentierte, mag dies fast so surreal gewirkt haben wie die berühmte Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch. Die Ausstellung des modernen Massenprodukts an einem alten, einmaligen Ort illustriert in seiner Widersprüchlichkeit einen nicht abgeschlossenen (Selbst-)Deutungsprozess des Museums, das im 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart Objekt von Debatten und „Kulturkämpfen“ zwischen Kulturschaffenden, Museologen, Repräsentierenden und Repräsentierten war und ist. Angesichts von „postromantischer Kritik“, „postkolonialem Protest“ und „postmoderner Desillusionierung“ stellen sich Fragen der Repräsentation und Repräsentanz, die viele Museen selbst längst aufgegriffen haben: Die kritischen Perspektiven der new museology ab den 1980er Jahren und speziell in Frankreich schon etwas früher einer muséologie nouvelle, die iconic, spacial, material, performative und postcultural turns der Kulturwissenschaften – all dies hat zu einem reflexive turn der großen Museen hin zu postmodernen Reflexionsorten und ‚Meta-Museen‘ beigetragen; eine Entwicklung, die bis heute im Gange ist – und eigentlich erst richtig an Fahrt aufnimmt. In diesem Sinne ließe sich vielleicht auch die Staubsauger-Vitrine als metareflexiver Kommentar zu den Bemühungen einer – ‚verstaubten‘? – Institution verstehen, sich zur Gegenwart zu öffnen. Im Zuge ihrer (Selbst-)Hinterfragung öffnen sich die Museen, etwa durch Dezentralisierung, spektakuläre Architektur (vgl. Kap. II.2.1.) oder die Einladung externer ‚Gaststars‘ als Ausstellungsmacher. Neben prominenten Modeschöpfern (Christian Lacroix im Musée Réattu, Arles, 2008), Filmregisseuren (Wim Wenders im Grand Palais, Paris, 2019) oder Fußballspielern (Lilian Thuram im Musée du quai Branly, Paris, 2011) wurden in den vergangenen Jahren gelegentlich auch Autoren als Gastkuratoren eingeladen. Karl Ove Knausgård, 2017 für eine Ausstellung des Osloer Munch-Museums engagiert, thematisiert in einem in der Folge entstandenen Buch, dass für die Einladung nicht seine kunsthistorische Kompetenz ausschlaggebend gewesen sein dürfte: Although I have never done anything similar, not even anything remotely like it, and although I didn’t know exactly what it would entail, I said yes without a second thought. It was a clear case of hubris, for my only qualification was that I liked looking at paintings and often browsed through art books. Auch hier erscheint als Grund für das Engagement eine angestrebte Neuausrichtung des Museums, beglaubigt durch den Schriftsteller: In a few years the whole museum was to move to a brandnew, modern building, and that was why I had been invited to curate, […] they wanted to take the opportunity to upend everything by inviting people from the outside […]. In ähnlicher Weise lässt auch der Louvre seine strategische Neuausrichtung von zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern begleiten. Indirekt und implizit durch große Einzelausstellungen von Toni Morrison (2006), Umberto Eco (2009), Jean-Marie Gustave Le Clézio (2011) und eben Toussaint (2012), oder explizit als ‚Begleitprogramm‘ seiner Neuausrichtung: So wurde etwa die Eröffnung des neuen „Département des Arts de l’Islam“ im Herbst 2012 von einer Filmreihe des iranischen Regisseurs Abbas Kiarostami, einem Gespräch mit Amin Maalouf, einem Vortrag und einer szenischen Lesung Orhan Pamuks, sowie schließlich einer Ausstellung des Künstlers Walid Raad begleitet, wobei in Hinblick auf literar-museale Beziehungen besonders die beiden Letztgenannten hervorzuheben sind, die in ihrem Werk die Grenzen der Literatur hin zum Museum (Pamuk) und der bildenden Kunst hin zur Literatur (Raad) überschreiten. Sie alle beglaubigen die Ambition einer Schwerpunktverlagerung des Louvre im Kontext (schon lange) geänderter Weltordnungen und damit (sich langsam) ändernder Sammlungs- und Ausstellungsstrategien. Folgt man Fauvel, so sind etwa die Texte Toussaints und die Neuausrichtung eines Museums wie dem Louvre, aber auch die ‚Eventliteratur‘ Houellebecqs und die Einladung Koons’ nach Versailles, durchaus im Zusammenhang zu sehen. In ihrem Band Scènes d’intérieur liest sie die von ihr behandelten Autorinnen und Autoren – darunter Toussaint – im Kontext der erstarkten französischen Kulturpolitik der 1980er Jahre: die Erhöhung des Kulturbudgets durch Jack Lang, die städtebaulichen Großprojekte François Mitterands wie die Transformation des Louvre oder Daniel Burens Les Deux Plateaux (1985) im Hof des Palais Royal. Sie impliziert, dass Literatur in Teilen ihre jeweilige Gegenwart reflektiert, und darum von kulturpolitisch gesteuerten Tendenzen mitgeprägt ist. Auch stehen Museum und Literatur jeweils in einem Feld der Medienkonkurrenz. In einer Phase, die wahlweise als ère du vide, als société de consommation und du spectacle beschrieben wird, geraten sie in einen Aufmerksamkeitswettbewerb und unter Legitimationsdruck, was auch eine Reihe von Untergangsdiagnosen zum Ende der Literatur und des ‚müden‘ Museums nährt. Beide Instanzen reagieren auf diese Legitimationsprobleme mit einer vielkritisierten ‚Eventisierung‘, aber auch mit Neujustierungen ihrer Ausstellungspolitik bzw. mit literarischen Formen, für die „le livre n’est plus ni un but ni un prérequis“. So beobachten Rosenthal u. Ruffel für die Literatur, dass l’hégémonie du narratif s’accompagne, dans les marges, d’un dévéloppement sans précédent du performatif et de l’exposition de la littérature, la performance et l’exposition constituant des réponses possibles à l’organisation du champ éditorial, une manière de le contester, de le combattre, de faire entendre et voir autrement ce qui appartient à la littérature […]. Mit der „ganze[n] Weite eines Ausgeliefertseins an den Markt“, etwa der zunehmenden Ausdifferenzierung des Buchmarkts, werden neue Vermarktungsmodelle benötigt – und verbreiten sich neue Formen der Literatur und „Paraliteratur“. Nicht nur kann Literatur unabhängig von Verlagen und fixen Veröffentlichungsdaten existieren, sondern auch ohne materiellen Träger – gemeinhin für die Literatur als konstitutiv angenommenen Kategorien verschwimmen. Lesungen, Fernsehauftritte oder Twitter-Konten erhöhen die Sichtbarkeit eines Autors, bieten teils zusätzliche Einnahmequellen und ermöglichen künstlerische Ausdrucksformen außerhalb der Buchdeckel. Sie sind „condition sociale“ des Schriftstellerdaseins, können aber auch „principe esthétique“ sein. Die daran beteiligten Autoren sind nicht nur Erfüllungsgehilfen, sondern auch Profiteure einer Eventisierung, nicht nur ‚ausgestellte Künstler‘, sondern auch „Ausstellungskünstler“. In diesem Kontext ist auch die Mitwirkung von Künstlern an Museumsprojekten zu verstehen, und in den damit verbundenen Werken greifen ästhetisch-literarische und institutionell-kulturpolitische Faktoren auf teils komplexe Weise ineinander. Drei Beispiele: Die Autorin Catherine Cusset, mit einem Aufsatz zur David Hockney-Ausstellung im Centre Pompidou (21.5.-23.10.2017) beauftragt, entwickelte diesen Text zu einem Roman weiter; die Kuratorin Nathalie Léger reflektiert in ihren Romanen Vies silencieuses de Beckett und L’Exposition ihre Ausstellungstätigkeit; der Band Œuvres (2002) des Fotografen und Autors Édouard Levé besteht aus einer Aufzählung von Ideen zu bisher nicht realisierten Kunstwerken. Er macht das Buch zum Ort der Kunst – und situiert es wiederum im Feld der Kunst, denn er erklärt sein Werk selbst zu einem jener angeblich unrealisierten Projekte: „1. Un livre décrit des œuvres dont l’auteur a eu l’idée, mais qu’il n’a pas réalisées.“ Auf einer selbstreferenziellen Ebene betont Levé demnach den Status des Buchs als eigenständiges œuvre und denkt zugleich einen (hier nur...


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