E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Edition Frauenfahrten
Reissner / Notz Oktober
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-85371-858-2
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aufzeichnungen aus Rußland und Afghanistan in den 1920er Jahren
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reihe: Edition Frauenfahrten
ISBN: 978-3-85371-858-2
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Larissa Reissner ist erst 22, als in Russland 1917 die Oktoberrevolution ausbricht. Geprägt von den sozialistischen Ansichten ihres Vaters, des Rechtsprofessors Michael Reissner, betätigte sie sich von Jugend an als Schriftstellerin, auch für revolutionäre Magazine, unter anderem unter der Ägide von Maxim Gorki. Nach der Revolution wird Reissner die erste weibliche Kommissarin der Roten Armee und kämpft gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem sowjetischen Flottenkommandeur Fjodor Raskolnikow, gegen die reaktionären Kräfte der "weißen" Armee. Sie schreibt auf, was sie an der Front erlebt, in einem reichen, lebendigen Stil, der aufgrund der lebensgefährlichen Ereignisse oft in ein und demselben Satz zwischen Ironie und Dramatik wankt, zwischen Hoffnung und Zynismus, zwischen militärischer Beschreibung und menschlichem Empfinden. Vor allem Letzteres zeichnet Reissners Texte aus: Ihr genauer Blick auf den Menschen im Krieg, in der Revolution und auf der Flucht zeigt Not und Unsicherheit, Rückzug und Desertion wie auch Heldenmut.
In ihren Reportagen aus Afghanistan und von den sowjetischen Fabriken Mitte der 1920er Jahre veranschaulicht sie die Stellung der Menschen im Zeitalter durchdringender Industrialisierung und lässt die Maschinen und Betriebe mit ihnen sprechen und streiten.
Die ausgewählten Erzählungen in diesem Buch zeigen das kurze und aufregende Leben Larissa Reissners im Schatten der Oktoberrevolution und ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Abschnitt "Die Front" berichtet sie aus und über den russischen Bürgerkrieg, von umkämpften Orten wie Kasan, Swijaschsk und Astrachan. Im zweiten Teil gibt sie Eindrücke von ihren Reisen nach Afghanistan wieder, wo ihr Ehemann von 1921 bis 1923 als Botschafter der Sowjetunion tätig war. Schließlich besucht sie die Stätten der jungen sowjetischen Industrie und beschreibt im Kapitel "Kohle, Eisen und lebendige Menschen" Bergbau und Metallgewinnung unter widrigen Bedingungen.
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Vorwort
„So eine wie Dich haben wir nie gehabt. So eine wie Dich möchten wir so gerne haben.“1 Das schrieb Kurt Tucholsky im letzten Absatz einer Rezension zu dem Band „Oktober“, der mit ausgewählten Schriften im Neuen Verlag in Berlin 1927 in der ersten Auflage erschienen war. Er hatte die viel zu jung verstorbene Journalistin bewundert und hoch geschätzt, seine Bewunderung galt vor allem der Gabe, die sie besaß, zugleich „das Nahe und das Ferne“ beschreiben zu können. Sie sei „eine Erfüllung gewesen und eine Sehnsucht“.2 Liest man die Texte in dem vorliegenden Band, der zu Recht im 100. Jahr der Russischen Revolution 2017 neu erscheint, muss man Tucholsky beipflichten und wird neugierig darauf, wer diese Larissa Reissner eigentlich war. Sie gehörte zu „der winzigen Zahl der Intellektuellen, die nicht nur entschieden zum kämpfenden Proletariat übertrat, sondern dies mit tiefem Bewusstsein der weltgeschichtlichen Bedeutung der Ereignisse, mit tiefem Glauben an den Sieg tat“, weil sie die Ereignisse „mit einem Aufjauchzen“ verfolgte, wie es der Journalist, Politiker und langjährige Wegbegleiter Karl Radek (1885–1939) in seiner Einleitung zur Erstausgabe 1927 schrieb. Todesmutig hatte sie während der Russischen Revolution mit der Waffe in der Hand gekämpft und die Schlachten beschrieben. Wie viele andere Frauen, die beim Umsturz vor 100 Jahren beteiligt waren, ist sie heute beinahe vergessen. Auch die Veranstaltungen und Veröffentlichungen anlässlich des 100. Jahrestages räumen den beteiligten Frauen kaum Platz ein.3 Dabei stellten Februar- wie Oktoberrevolution Höhepunkte im Kampf für die Frauenrechte dar. Ohne die Frauen, die meist unbekannt blieben, wäre die Revolution nicht erfolgreich gewesen. Wer war Larissa Reissner?
Larissa Reissner wurde am 1. Mai 1895 im russisch-polnischen Lublin geboren, das damals noch unter zaristischer Herrschaft stand. Bereits ihre aus dem bürgerlichen Milieu stammenden Eltern – der Vater kam aus dem Baltikum, die Mutter aus Polen – hatten sich den Lehren von Karl Marx und der Sozialdemokratie zugewandt. Larissas Lebensweg in den Jahren bis zur Februarrevolution 1917 hatte Ähnlichkeit mit dem anderer russischer linker Intellektueller.4 Die ersten Jahre ihres Lebens verbrachte sie in Sibirien, wohin die Familie zog, weil der Vater an der Universität in Tomsk eine Rechtsprofessur erhalten hatte. Dort setzte er sich für die Rechte der Studierenden ein. Nachdem er ein juristisches Gutachten zugunsten von angeklagten Revolutionären verfasst hatte, musste er wegen der drohenden Gefahr einer Verhaftung durch das zaristische System 1903 mit der Familie nach Berlin übersiedeln. Während der vier Jahre, die Larissa Reissner dort verlebte, ging sie im Stadtteil Zehlendorf mit Arbeiterkindern zur Schule und lernte – noch keine zehn Jahre alt – viele im Exil lebende russische Revolutionäre wie Wladimir Iljitsch Lenin (1870–1924) und führende Mitglieder der SPD wie August Bebel (1840–1913), Julie Bebel (1843–1910) und Karl Liebknecht (1871–1919) kennen. Sie gingen in ihrem Hause ein und aus, weil Larissas Vater zu dieser Zeit Mitglied der Bolschewiki geworden war. Damals wusste sie noch nicht, dass sie als Erwachsene auf die an ihren Vater gerichteten Briefe Lenins und ihre eigenen Erinnerungen an die kämpferischen deutschen SozialistInnen stolz sein würde.5 Nach der Februarrevolution kehrte sie 1907 nach Russland zurück, wo sie an einem Mädchengymnasium unterrichtet wurde. Das privilegierte, aktive intellektuelle Leben, das Larissa Reissner zunächst in St. Petersburg geführt hatte, wurde bald überschattet durch die zunehmende materielle Not, Verbitterung und Hoffnungslosigkeit der Eltern. Ihr Vater kämpfte jahrelang um seine politische Ehre, weil er von „liberalen“ Professoren geheimer Beziehungen zur Reaktion verdächtigt wurde. Resignierend zog er sich immer mehr vom wissenschaftlichen und politischen Leben zurück. Das belastete Larissa Reissner sehr, weil sie weder verstehen noch akzeptieren konnte, dass Michail Reissner seine Hoffnung auf eine bessere Welt, von der sie bereits als Kind angesteckt worden war, aufgeben wollte. Ihre Waffe war die Feder
Das Interesse am Kampf für eine bessere, sozialistische Gesellschaft verlor Larissa Reissner jedoch nicht. Sie bewegte sich in revolutionär-sozialistischen Kreisen, schrieb Artikel und literarische Essays.6 Sie studierte in Frankreich und Deutschland. Schreiben wurde ihre große Leidenschaft, die von Anfang an politisch geprägt war. Ihr erstes Drama Atlantida nahm der Verlag Schipownik 1913 an, ohne sie als Verfasserin zu kennen. Sie schildert darin das Schicksal eines Menschen, der durch seinen Tod die Gesellschaft vor dem Untergang retten will.7 Zu dieser Zeit stand Reissner unter dem Einfluss des Schriftstellers Leonid Andrejew (1871–1919), der ihr Unterricht in Literatur gab. Ihre „literarische Formensprache“ war durch die Dichter des „sogenannten Akmeistenkreises, einer dem Symbolismus und Futurismus ähnelnden literarischen Strömung im Rußland der Jahrhundertwende“ beeinflusst. Diesem Einfluss entzog sie sich jedoch nach Beginn des Ersten Weltkrieges 1914, weil die Dichter den beginnenden Völkermord als „Quelle des Heldentums“ verherrlichten.8 Larissa Reisser las Bücher von Hegel, Friedrich Engels und Karl Marx. Als Kriegsgegnerin gab sie 1915 das satirische Antikriegsmagazin Rudin heraus. Es gelang ihr, ihren Vater aus seiner Resignation zu wecken und für diese Aufgabe zu gewinnen. Beide versuchten nun, mit der spitzen Feder als Waffe gegen den Krieg zu arbeiten und den Verrat an den internationalistischen Gedanken der Vorkriegszeit anzuprangern. Die gesamte Familie hatte sich für die Gründung der Zeitschrift hoch verschuldet. So musste sie bereits ein Jahr später wieder eingestellt werden, bevor sie wahrscheinlich der Zensur zum Opfer gefallen wäre. Daraufhin wurde Larissa Reissner Mitarbeiterin der von Maxim Gorki (1868–1936) herausgegebenen Literaturzeitschrift Letopis. Es war die einzige noch legal erscheinende internationale Zeitschrift. In ihr erschien beispielsweise der Erstdruck eines Teils der Werke von Wladimir Majakowski (1893–1930) aus der Zeit des Ersten Weltkrieges. Auch an der sozialistischen Tageszeitung Nowaja Shisn, die ebenfalls von Maxim Gorki redigiert wurde und die sich vehement gegen eine Koalition mit der Bourgeoisie wandte, arbeitete Larissa Reissner mit. Die Zeitschrift wurde zu Gorkis Plattform, in der er gegen Lenins Prawda polemisierte und die Lynchjustiz und das „Gift der Macht“ brandmarkte. Durch entlarvende Pamphlete über Alexander Kerenski (1881–1970) und seine Provisorische Regierung9 nach dem Februar 1917 wurde Larissa Reissner schließlich weit über Journalistenkreise hinaus bekannt. Die Zeitschrift wurde 1918 verboten. Die Russischen Revolutionen von 1917 und die Schlachten von 1918
Im Februar 1917 brachte sich die Journalistin Larissa Reissner aktiv in die Revolution ein. Begeistert war sie von den revolutionären TextilarbeiterInnen der Februarrevolution. Der Name geht auf den damals in Russland geltenden Julianischen Kalender zurück, denn nach diesem begann die Revolution am 23. Februar. Nach gregorianischer Zeitrechnung war das der 8. März, der Internationale Frauentag, der in Russland und in vielen anderen Ländern der Welt seit 1911 begangen wird. In mehreren Textilfabriken traten vor allem Frauen in den Streik. Mit der Losung „Brot, Frieden und Freiheit“ wandten sie sich gegen den Krieg und gegen die wirtschaftliche Not im autoritären Zarenregime, das Frauen keine Rechte gewährte. Binnen weniger Tage hatten sich diese Streiks zu einem Massenstreik entwickelt – dem Beginn der russischen Februarrevolution. Drei Tage später war die absolutistische Zarenherrschaft in Russland gestürzt; der Zar hatte abgedankt. Die unbekannten Frauen und Männer, die an der Revolution beteiligt waren, sind von der Geschichtsschreibung weitgehend vergessen worden. Larissa Reissner begann sich besonders für die während der Revolution neu entstandenen Arbeiterklubs zu interessieren. Ohnehin unterstützte sie das Streben der Volksmassen nach Bildung, Kultur und künstlerischem Wirken. Damit setzte sie sich von der Mehrheit der russischen Intelligenz ab, die das Bestreben der Arbeiter und Soldaten eher hochmütig belächelte. Sie jedoch führte in ArbeiterInnenklubs literarische Veranstaltungen durch. In diesem Zusammenhang lernte sie ihren zukünftigen Mann Fjodor Raskolnikow (1892–1939) kennen, mit dem sie fünf Jahre lang verheiratet war. Er leitete im Juli 1917 den Matrosenaufstand von Kronstadt mit an. Der Traum von der Errichtung einer Republik auf der Basis der Sowjets
Larissa Reissner begrüßte das politische Programm, das Wladimir Lenin im April 1917, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus dem Exil in der Schweiz, öffentlich vorgestellt hatte. Wie auch sie kritisierte er die nach der Februarrevolution gebildete Provisorische Regierung wegen ihrer kapitalistischen Ausrichtung und forderte die Errichtung einer Republik auf Basis der Sowjets, eine Verstaatlichung des Bodens und der Produktionsmittel, sowie den bedingungslosen Friedensschluss mit Deutschland, den er später trotz heftiger Auseinandersetzungen mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk durchsetzen konnte. Die Regierung der Bolschewiki hatte den Vertrag angesichts der deutschen militärischen Drohung unter Protest unterzeichnet, weil sie fürchtete, ansonsten den Erfolg der...