Der Missbrauch in der katholischen Kirche und das System Ratzinger
E-Book, Deutsch, 352 Seiten
ISBN: 978-3-492-99895-6
Verlag: Piper Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Doris Reisinger (geb. Wagner) war acht Jahre lang Mitglied einer fundamentalistischen katholischen Gruppe, mit der Ratzinger eng vertraut war. Heute ist die Philosophin und Theologin Bestsellerautorin und hat unter anderem zu sexuellem und spirituellem Missbrauch in der katholischen Kirche geforscht und geschrieben.
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2 Der Beginn der Missbrauchskrise
oder: Wider die Mär vom frühzeitigen Einsatz Solange man glaubt, die Missbrauchskrise habe erst in den 2000er-Jahren so richtig begonnen und Kindesmissbrauch durch Kleriker wäre zuvor kaum ein Thema gewesen, weder in Rom noch sonst wo, schon gar nicht im Jahr 1988, so lange erscheint Ratzingers Brief von 1988 als ein außergewöhnlich frühzeitiger Schritt im Kampf gegen klerikale Missbrauchstäter. Davon kann freilich keine Rede sein. Die Missbrauchskrise begann wesentlich früher, deutlich vor 1988. Ratzinger wusste nicht nur darum, sondern er kümmerte sich nachweislich jahrelang nicht ernsthaft darum, auch dann nicht, wenn Fälle direkt auf seinem Schreibtisch landeten. Der Fall Gauthe
Kindesmissbrauch gibt es in der Kirche schon seit Jahrhunderten.[31] Allerdings verursachte er lange keine institutionelle Krise. Dazu kam es erst, als Opfer Täter und deren Hintermänner bei der weltlichen Gerichtsbarkeit anzeigten. Wenn man einen präzisen Beginn der Krise nennen möchte, könnte man sagen, sie begann im Sommer 1984 in den USA, genauer, in Louisiana. In diesem Jahr wurde dort ein Priester der Diözese Lafayette, ein Pfarrer um die vierzig namens Gilbert Gauthe, wegen sexueller Übergriffe gegen Minderjährige vor Gericht gebracht. Als 1985 das Urteil verkündet wurde, horchte das ganze Land auf: Gauthe hatte unter Eid gestanden und war schließlich für schuldig befunden worden, zwischen 1972 und 1983 insgesamt 37 Kinder in Hunderten Fällen sexuell missbraucht zu haben. Einen solchen Schuldspruch hatte es in den USA noch nie gegeben. Der Reporter Jason Berry recherchierte die Hintergründe des Falls. Seine seitenlangen Berichte erschienen in der Times of Acadiana[32] und wurden ab Mitte 1985 von der nationalen Presse aufgegriffen, unter anderem vom National Catholic Reporter und der New York Times[33]; HBO verarbeitete das Ganze zu einem Film mit dem Titel Judgment, der im Oktober 1990 ausgestrahlt wurde.[34] Von Anfang an machten diese Berichte nicht nur deutlich, wie verheerend die Taten waren, sondern vor allem, wie lange Gauthes Vorgesetzte davon wussten und wie ungerührt sie ihn und andere priesterliche Sexualstraftäter trotz allem weiterhin im pastoralen Dienst einsetzten. Der junge Pfarrer war bei den Kindern beliebt. Gil, wie er von ihnen genannt wurde, organisierte Campingausflüge und war oft von einer Schar von Kindern und Jugendlichen umgeben. Dass er Kinder sexuell missbrauchte, kam erst ans Licht, als einige von ihnen, mühsam nach Worten suchend, die Aufmerksamkeit ihrer Eltern fanden. Das war nicht leicht. Den Kindern fiel es schwer, das zu benennen, was ihnen angetan worden war. Ein Neunjähriger sagte seiner Mutter: »Gott liebt mich nicht mehr.« Erst als Eltern nach solchen beunruhigenden Aussagen nachhakten, begannen sie zu verstehen, was geschehen war. Ein anderer Junge erzählte, dass Gauthe ihm gedroht hatte, wenn er spräche, würde er »seinen Vater töten und als Priester dafür sorgen, dass er in die Hölle kommt«.[35] Als die Eltern nach Details fragten, was denn genau passiert sei, bekamen sie zur Antwort: »Alles.«[36] Schon 1972 wurde Gauthe das erste Mal von einer Gruppe von Eltern konfrontiert. Er selbst erinnerte sich später in einer Aussage so: »Sie fragten mich einfach, ob ich mit einem der Kinder etwas gehabt hätte, und ich sagte: ›Ja.‹ Und ich fragte sie, ob sie mir helfen würden, einen guten Psychiater zu finden.« Eine der anwesenden Frauen organisierte einen Termin für ihn, die Eltern zahlten Sitzungen für mehrere Monate, Gauthe ging hin und erzählte seinen kirchlichen Vorgesetzten nichts davon.[37] Nachdem sich Gerüchte verbreiteten und immer mehr Personen vor Ort Verdacht schöpften, unter anderem Ordensfrauen, die an der örtlichen Schule unterrichteten und mitbekamen, dass Gauthe Kinder bei sich übernachten ließ, wurde Gauthe 1973 das erste Mal versetzt. Die Personen, die ihn gemeldet hatten, machten es sich nicht leicht. Eine der Ordensfrauen sagte rückblickend: »Wenn die meisten Menschen wie ich waren, hatten sie Angst, jemanden zu Unrecht zu beschuldigen.«[38] Ein Jahr später, 1974, wurde Gauthe das erste Mal von seinem Bischof, Gerard Louis Frey, direkt mit einem konkreten Vorwurf konfrontiert. Der Bischof erinnerte sich später: »Ich habe mit Gauthe gesprochen, und er hat zugegeben, dass er einen Fehler gemacht hat, dass (…) es ein Einzelfall, ein Zwischenfall war, dass es nie wieder vorkommen würde.«[39] Ein Jahr später ernannte Bischof Frey Gauthe zum Kaplan der diözesanen Pfadfindergruppe. Gauthe missbrauchte nach eigenen Aussagen Kinder auch in seinem Schlafzimmer, in einem Haus, in dem er gemeinsam mit anderen Priestern wohnte. Doch über Jahre hinweg konfrontierte keiner der Priester in seinem Umfeld ihn jemals damit. Erst 1976 sorgte der verantwortliche Pfarrer in der Pfarrei, in der Gauthe mittlerweile tätig war, dafür, dass Gauthe in psychiatrische Behandlung kam, diesmal auf Kosten der Diözese. (Der Pfarrer hatte zuvor mit den Eltern eines Opfers gesprochen.) Während der Behandlung ging Gauthe ungestört weiter seinen priesterlichen Aufgaben nach. Die einzigen Auflagen, die er vom Pfarrer bekam, bestanden in einem Verbot, Kinder bei sich übernachten zu lassen, und darin, dass sein Schlafzimmer in die obere Etage verlegt wurde. Trotzdem konnte er weiter Ausflüge mit Kindern machen und mit dem Jungen-Basketballteam eine Reise nach Puerto Rico unternehmen. Noch im selben Jahr fragte der Bischof beim zuständigen Pfarrer nach, ob es bei Gauthe neue »Vorfälle« gegeben hätte. Der Pfarrer verneinte. Ein Jahr später, 1977, bekam Gauthe seine erste eigene Pfarrei, St. John’s in Henry, wo er die nächsten fünf Jahre allein im Pfarrhaus wohnte, umgeben von kleinen Jungen, die er häufig zu sich einlud. Die Katastrophe war vorprogrammiert. 1980 erhielt der Bischof einen Brief, unterschrieben von »Concerned Parishioners of St. John’s Parish«. Der Bischof gab den Brief weiter an seine Mitarbeiter, die zu dem Schluss kamen, die Vorwürfe gegen Gauthe wären oberflächlich. Nichts weiter wurde unternommen. Weder der Bischof noch der Generalvikar, Henri Larroque, nahmen Kontakt zu Gauthe auf. Erst als im Juni 1983 schließlich ein Vater aus Gauthes Pfarrei Kontakt zu einem Anwalt herstellte, nahm die Sache Fahrt auf. Dieser Vater hatte erfahren, dass drei seiner Söhne über Jahre hinweg von Gauthe missbraucht worden waren. Der Anwalt, an den er sich wendete, hieß Paul Hebert, selbst ein überzeugter Katholik. Der erinnerte sich: »Mein erster Gedanke war nicht Schadenersatz, sondern nur: Wir müssen diesen Priester loswerden. Es war eine Horrorgeschichte. Ich rief die Diözese in Lafayette an und wollte Bischof Frey sprechen. Monsignore Larroque sagte mir, der Bischof sei in seinem Ferienhaus in Bay St. Louis. Meine Antwort war, dass er sofort zurückkommen sollte. Dann gingen wir zu Larroque.« Der Generalvikar traf sich mit Hebert, dem Vater und zwei der Jungen, drückte sein Mitgefühl aus und versprach, dass er handeln würde. Aber Hebert war das zu zögerlich. »Ich erinnere mich, dass ich Larroque in den nächsten drei Tagen jeden Abend anrief. Ich war besorgt, dass einige Eltern Gauthe etwas antun würden.« Innerhalb weniger Tage waren es vier Familien, die Hebert in diesem Fall rechtlich vertrat. Drei Tage nach dem Treffen mit Hebert brachte Larroque Gauthe einige Dokumente zum Unterzeichnen mit: Er war suspendiert und musste die Pfarrei binnen 24 Stunden verlassen. Das war Anfang Juli 1983. Hebert nahm Kontakt mit anderen Anwälten und mit Psychiatern auf. Die Kinder wurden befragt. Nach und nach kamen weitere Opfer zum Vorschein. Die Diözese holte ihre Anwälte und Versicherungsfachleute zusammen, und man begann außergerichtliche Vergleiche auszuhandeln. Bis Frühling 1984 war kein einziges Wort an die Presse durchgedrungen. Im Juni endeten die Verhandlungen mit einem Vergleich in Höhe von über 4 Millionen Dollar. Dann geschah etwas noch nie Dagewesenes: Ein Elternpaar, Glenn und Faye Gastal, gaben sich nicht mit einer außergerichtlichen Einigung zufrieden. Sie wollten ein Gerichtsverfahren gegen Gauthe und reichten Klage ein. Dieser Sommer 1984 ist der präzise Moment, in dem die institutionelle Krise begann, denn ab diesem Moment gelang es dem führenden katholischen Klerus nicht mehr, seinen unverantwortlichen Umgang mit klerikalen Sexualstraftätern flächendeckend zu vertuschen, Betroffene zu besänftigen oder einzuschüchtern. Ab diesem Moment wurde ihr Versagen öffentlich angeklagt, aufgedeckt und diskutiert, und zwar über Jahrzehnte hinweg, zunächst in den USA und der englischsprachigen Welt, dann weltweit. Die irische Sozialwissenschaftlerin Marie Keenan stellt rückblickend fest, dass sich durch diese Klage im Fall Gauthe »in der englischsprachigen katholischen Welt die Schleusen öffneten, und in der Lawine, die auf die Berichterstattung in den Vereinigten Staaten folgte, kam der sexuelle Missbrauch von Kindern durch Geistliche auf die öffentliche Tagesordnung«.[40] Die Lawine, die sich nun löste, nahm schnell Fahrt auf. Schon im nächsten Jahr war nicht mehr nur Gauthe Thema. 1985 war in der New York Times zu lesen, dass sich ein anderer Priester in Louisiana, der ein Heim für Jungen leitete, einer Anklage wegen Missbrauchs an einem zehnjährigen Jungen stellen musste. Und selbst Gauthes Anwalt, Ray Mouton, fand nicht nur Beweise dafür, dass die zuständigen Bischöfe schon lange wussten, dass sein Mandant ein Kinderschänder war, sondern er stieß bald auf Belege dafür, dass es einen weiteren Priester in der Diözese gab, der straflos Kinder missbraucht hatte. Dann fand er noch einen und dann einen...