Reiners | Die ökonomische Vernunft der Solidarität | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reiners Die ökonomische Vernunft der Solidarität

Perspektiven einer demokratischen Sozialpolitik

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-85371-909-1
Verlag: Promedia
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Viele Ökonomen sehen im Sozialstaat nur einen Kostenfaktor. Sie befassen sich kaum mit Sozialpolitik, obwohl das diesbezügliche Budget in Deutschland fast ein Drittel des BIP umfasst. Die ökonomischen Eigenarten des Sozialstaats passen nicht in die Welt des Neoliberalismus, der alle sozialen und ökonomischen Beziehungen in seine Kosten-Nutzen-Relationen presst.
Dieser Ignoranz stehen Klagen über eine Ökonomisierung des Sozialen gegenüber, die übersehen, dass die Sozialpolitik sich nicht mehr auf Umverteilung beschränkt, sondern auch eine wachsende Branche von gesundheitlichen und sozialen Diensten steuert. Hartmut Reiners zeigt, dass das Sozialversicherungssystem trotz aller Reformbedürftigkeit in seinen Grundzügen eine hohe volkswirtschaftliche Vernunft aufweist. Die Privatisierung der von ihm abgesicherten sozialen Risiken ist nicht nur aus sozialer, sondern auch aus ökonomischer Perspektive gesellschaftlich schädlich.
So kann etwa die Arbeitslosigkeit von der Versicherungswirtschaft wegen ihrer unkalkulierbaren Parameter gar nicht abgesichert werden. Die Umstellung der Rentenversicherung von einer solidarischen Umlagefinanzierung auf ein privates, kapitalgedecktes System macht die Alterssicherung von den Launen des Finanzmarktes abhängig und ist mit hohen Ausgaben verbunden, die nicht den Versicherten zugutekommen, sondern den Versicherungen und Kapitalfonds. Die gesetzliche Krankenversicherung bietet die gleichen Leistungen zu deutlich niedrigeren Kosten als die private Krankenversicherung, wie ein Vergleich der Ausgaben zeigt.
Der Autor fordert daher ein Ende der Privatisierung in der Sozialpolitik und eine Demokratisierung des Sozialstaats.
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Einleitung
Francis Fukuyama traf 1989 mit seinem Essay »Das Ende der Geschichte?« den publizistischen Zeitgeist. Die liberale Zivilgesellschaft und die Marktwirtschaft hätten sich endgültig als politische und ökonomische Modelle etabliert, der Sozialismus sei daher tot und begraben. Diese Erzählung bezog sich auf die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstandene Systemkonkurrenz zwischen der kapitalistischen Marktwirtschaft des Westens und der zentralen Planwirtschaft des RGW-Systems in Mittel- und Osteuropa, das Ende der 1980er Jahre implodierte. In den folgenden Jahren wurde dieser Systemkonflikt in der politischen Arena auf den Wohlfahrtsstaat projiziert, der sich in den westlichen Industrieländen in unterschiedlichen Ausprägungen etabliert hatte. Marktliberale Ökonomen und Publizisten sehen in ihm eine »Teufelsmühle« (Hank 2010), die mit ihren expansiven Mechanismen das erfolgreiche Modell der sozialen Marktwirtschaft zerstöre und die globale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft beeinträchtige. Dieser Behauptung steht die Tatsache gegenüber, dass in den »reichen Demokratien« (Wilensky 2006) die seit 60 Jahren kontinuierlich wachsenden Sozialbudgets mit einem soliden Wirtschaftswachstum einhergegangen sind. In der alten Bundesrepublik Deutschland lag die Sozialleistungsquote des Bruttoinlandsprodukts (BIP) 1960 bei 18,3 Prozent. Sie stieg bis 1990 auf 24,1 Prozent und liegt heute (2021) im vereinten Deutschland bei 32,5 bzw. 30,3 Prozent, wenn man die pandemiebedingten Effekte herausnimmt. Diese Entwicklung muss den »neuen Staatsfeinden« (Roß 1998) eigentlich ein Rätsel sein. Wie kann es sein, dass der Sozialstaat mit wachsendem Wohlstand expandiert, wo der ihm doch eigentlich nach ihrer Auffassung die Existenzgrundlage entziehen sollte? Wie kann diese Entwicklung mit Wirtschaftswachstum und steigender Produktivität einhergehen, wo steigende Sozialausgaben ihren Modellen zufolge zu wirtschaftlicher Stagnation, wenn nicht Rezession führen? Politische Ökonomie des Sozialstaats
Die Herausgeber einer Denkschrift zu 60 Jahren Sozialgerichtsbarkeit stellen in ihrer Einleitung fest, dass die Ökonomen in der Forschung und Lehre zu Fragen der Sozialstaatlichkeit in den letzten Dekaden massiv an Gewicht verloren haben (Masuch et al. 2015: VIII). Lehrstühle für Sozialpolitik, die früher zur Standardausstattung von Ökonomie-Fakultäten gehörten, gibt es kaum noch. Die in der akademischen Lehre dominierende neoklassische Ökonomik kann mit der Sozialpolitik wenig anfangen. Sie wird auf Sozialabgaben als betriebswirtschaftlicher Kostenfaktor reduziert (Schmähl 2015: 31f.). Die wenigen von der Lehrbuchökonomie präsentierten Abhandlungen zur Sozialpolitik basieren großenteils auf der in den 1950er Jahren in den USA entwickelten Public-Choice-Theorie, die in Deutschland in den 1980er Jahren auch als Neue Politische Ökonomie bekannt wurde. Sie repräsentiert einen »ökonomischen Imperialismus« (Kenneth Boulding), der die auf die Marktwirtschaft gemünzte Denkfigur des Homo oeconomicus auf die sozialen Sicherungssysteme überträgt. Deren Besonderheiten werden als fatale Abweichungen von marktwirtschaftlichen Regeln interpretiert, ohne zu fragen, ob diese im Sozialstaat überhaupt eine Relevanz haben. Die seit über 20 Jahren in den Sozialstaat implantierten marktanalogen Mechanismen haben zu schweren Verwerfungen geführt. Dieser Sachverhalt wird im sozialpolitischen Diskurs aber nicht als ökonomisches Problem diskutiert, sondern als Frage der sozialen Gerechtigkeit. Diese »Subjektivierung der Sozialpolitik« (Stefan Lessenich) blendet die ökonomischen Parameter sozialer und gesundheitlicher Dienste aus, die sich zu einer großen Sozialökonomie entwickelt haben. Zwischen der Ökonomisierung und der Kommerzialisierung der Absicherung sozialer Risiken wird kaum unterschieden. Es mangelt an einer ökonomischen Fundierung der Sozialpolitik als der Steuerung eines Wirtschaftszweiges mit mehr als acht Millionen Beschäftigten, der sich grundlegend von anderen Branchen unterscheidet. Strukturwandel des Sozialstaates
Das Wachstum des Sozialbudgets hängt nicht zuletzt mit den seit den 1960er Jahren steigenden Ausgaben für gesundheitliche und soziale Dienste zusammen. Heute besteht das Sozialbudget zu fast 40 Prozent aus Sachleistungen. Die in der Literatur vorherrschende Charakterisierung des Sozialstaats als reine Transfermaschine stimmt nicht mehr. Während Lohnersatzleistungen wie Renten und Arbeitslosengeld sich in den vom Lohnniveau vorgegebenen Grenzen entwickeln, steigen die Ausgaben für gesundheitliche und soziale Dienste überproportional zum BIP und den Löhnen. Dieser Strukturwandel wird von der Definition der Sozialpolitik als »Politik der Einkommensverteilung« (Elisabeth Liefmann-Keil) ausgeblendet, die nach wie vor den sozialpolitischen Diskurs bestimmt. Auch der politökonomisch hochgebildete Soziologe Heiner Ganßmann sah im Sozialstaat »nichts anderes als auf politischem Wege geltend gemachte Verteilungsansprüche« (2009: 54). Diese Eigenschaft hat er nach wie vor, insbesondere in der Renten- und Arbeitslosenversicherung. Aber es ist eine verkürzte Sicht, den Sozialstaat auf ein System von Transferleistungen zu reduzieren. Der steigende Anteil der gesundheitlichen und sozialen Dienste am Sozialbudget hat seine Wurzeln in deren gegenüber der Industrieproduktion geringerer Rationalisierbarkeit. Konsumgüter haben heute einen deutlich geringeren Anteil an den Lebenshaltungskosten als früher, dafür geben wir mehr Geld für Dienstleistungen wie die in der gesundheitlichen und pflegerischen Versorgung aus. Das ist keine Kostenexplosion, als die diese Entwicklung oft dramatisiert wird, sondern die Folge des Strukturwandels moderner Volkswirtschaften von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. Die Gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherungen sind die Basis einer Dienstleistungswirtschaft, in der sechs Millionen Beschäftigte zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erwirtschaften. Auch die anderen Sozialversicherungen bieten Dienstleistungen in der Gesundheitsförderung, medizinischen Rehabilitation und beruflichen Fortbildung an. Der moderne Sozialstaat schafft Jobs, mit denen die durch die Rationalisierung und Digitalisierung in der Industrie einhergehenden Arbeitsplatzverluste kompensiert werden können. Er hat sich mit seinen Diensten genauso wie das Bildungswesen und die Verkehrsinfrastruktur zu einem unverzichtbaren Teil der gesamtwirtschaftlichen Reproduktion entwickelt, dessen Budget man nicht willkürlich mit einer »Sozialbremse« (Peter Altmeier) begrenzen kann, ohne die gesundheitliche und soziale Versorgung der Bürgerinnen und Bürger zu gefährden. Deren Kosten verschwinden nicht mit ihrer Privatisierung, vielmehr wachsen sie, weil sie der Kosten- und Qualitätskontrolle des Sozialversicherungssystems entzogen und privaten ökonomischen Interessen untergeordnet werden. Das erhöht die Lebenshaltungskosten und damit indirekt auch die Lohnkosten. Die Vorstellung, mit der Verlagerung der Sozialabgaben in die privaten Haushalte würden sich die Kosten des Faktors Arbeit verringern, ähnelt dem Glauben von Kleinkindern, man würde sie nicht mehr sehen, wenn sie sich die Hände vors Gesicht halten. Die ökonomische Vernunft des Sozialstaats
Marktliberale Ökonomen bestreiten nicht, dass eine allgemeine Absicherung sozialer Risiken wie Arbeitslosigkeit, Alterung und Krankheit erforderlich ist. Sie sehen darin aber keine genuin staatliche Aufgabe. Man müsse sie vielmehr privaten Versicherungsunternehmen übertragen, weil diese die allgemeine Risikoabsicherung wirtschaftlicher durchführen könnten als die von Natur aus träge und ineffiziente Sozialbürokratie. F. A. Hayek fasste diese Überzeugung in der für ihn rhetorischen Frage zusammen: »Kann ernstlich geleugnet werden, daß die meisten Menschen besser gestellt wären, wenn ihnen das Geld ausgehändigt werden würde und es ihnen frei stünde, ihre Versicherung von privaten Unternehmungen zu kaufen?« (Hayek 2005: 399). Seit Jahren wird das wachsende Gesundheits- und Sozialwesen von mächtigen Unternehmen als ein sicheres und renditeträchtiges Anlageobjekt entdeckt. Diese Bestrebungen lassen sich kaum mit moralischer Empörung über eine unsoziale Ökonomisierung und die Profitgier von immer mehr Krankenhäuser und Arztpraxen finanzierenden Hedgefonds wirksam bekämpfen. Der Sozialstaat hat zwar mit dem Ziel, allen Bürgerinnen und Bürgern ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, einen sozialethischen Grundzug. Aber er hat auch gewichtige wirtschaftliche Argumente auf seiner Seite. Er kann allgemeine Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Alterung und Krankheit effektiver absichern als privatwirtschaftliche Alternativen. Eine auskömmliche Rente, eine umfassende gesundheitliche Versorgung, die Sicherheit am Arbeitsplatz und die Existenzsicherung bei Arbeitslosigkeit gehören zum Standard moderner Gesellschaften, der auch in der Sozialcharta der EU kodifiziert ist. Private Absicherungen dieser Risiken können sich nur dann legitimieren, wenn sie diese Aufgabe effektiver und wirtschaftlicher wahrnehmen als öffentliche Institutionen. Das ist aber nachweislich nicht der Fall, wie in den Kapiteln 4 bis 7 dieses Buches gezeigt wird:1 Eine...


Hartmut Reiners, geboren 1945 in Bad Rothenfelde (Niedersachsen), ist Volkswirt und Gesundheitsökonom. Er war viele Jahre in den Gesundheitsministerien von Nordrhein-Westfalen und Brandenburg tätig und an Reformen der Krankenversicherung zwischen 1988 und 2009 beteiligt.


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