E-Book, Deutsch, 320 Seiten
Reina Lichter auf dem Meer
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-85179-416-8
Verlag: Thiele & Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 320 Seiten
ISBN: 978-3-85179-416-8
Verlag: Thiele & Brandstätter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Es war ein leuchtender Blitz, der all das auslöste … Harold und Mary Rose Grapes sind ein älteres Ehepaar, das nach dem tragischen Tod seines Sohnes seine Jugendträume aufgegeben und sich mit dem eintönigen Leben auf einer abgelegenen Insel begnügt hat. Doch dann schlägt das Schicksal in ihren letzten Lebensjahren auf ziemlich kuriose Weise noch einmal zu. Ausgerechnet in der letzten Nacht in ihrem kleinen, auf einem Tuffsteinfelsen über dem Meer gelegenen Haus, vor dem befürchteten Umzug ins Altersheim, sorgt ein heftiges Unwetter dafür, dass das Holzhaus mit dem fest schlafenden Ehepaar vom Felsen gerissen wird und ins Meer stürzt. So werden die Grapes auf äußerst unerwartete Art zu Schiffbrüchigen, deren schwimmendes Haus immer weiter auf den Ozean hinaustreibt. Und das ist der Anfang einer außergewöhnlichen Reise, die Harold und Mary Rose gemeinsam bestehen und auf der die Gespenster der Vergangenheit bald keinen Platz mehr haben. Einer Reise, die sie bis zu den Inuit führt, wo die Toten sich in Polarlichter verwandeln und ein Zuhause nicht aus vier Wänden besteht, sondern aus geliebten Menschen. Einer Reise, von der die Grapes plötzlich gar nicht mehr wollen, dass sie endet …
Weitere Infos & Material
EINE UNGEWISSE ZUKUNFT Mary Rose Grape hatte den größten Teil jenes Sonntagmorgens damit verbracht, persönliche Erinnerungsstücke in unpersönliche Umzugskisten zu verpacken, wobei sie sich ständig zu der Entscheidung zwingen musste, auf welche Dinge sie in ihrem zukünftigen Heim würden verzichten können. Als sie die letzten Decken ganz hinten aus dem Schrank hervorholte, fiel ein altes Foto vor ihr auf den Boden. Behutsam hob sie es auf, und während sie es umdrehte, spürte sie ein Kribbeln im ganzen Körper, das sich schließlich auf ihre Hände konzentrierte und sich anfühlte, als hielte sie ein Stück Eis darin. Sie musste sich auf den Rand des Bettes setzen und tief durchatmen, bevor sie den Blick erneut auf das Foto richtete. Es war ein Bild, das sie vor Jahren dort versteckt hatte, um einen allzu tiefen Schmerz zu vergessen. Das Foto war inzwischen ziemlich verblasst, doch die drei Personen, die darauf zu sehen waren, waren noch genau zu erkennen. Ein Mann, eine Frau und ein Kind, alle drei lächelnd und sich im Arm haltend. Und hinter ihnen, von der nachmittäglichen Sonne beleuchtet, ein noch im Bau befindliches Boot. Die Farben auf dem Bild waren völlig verblichen und hatten über die Jahre ihren Glanz verloren, doch das störte Mary Rose nicht. Sie wusste ganz genau, dass das Haar des Mannes kohlrabenschwarz war und dass sich hinter der Brille seine Augen versteckten, die von einem derart tiefen Blau waren, wie sie es sonst noch niemals gesehen hatte – außer bei dem kleinen Jungen auf dem Foto vielleicht, der die gleiche Augenfarbe hatte. In diesem Moment spürte Mary Rose einen Stich ganz tief in ihrem Herzen und wie das Gift des alten Grolls ihr erneut die Kehle zuschnürte. Noch einmal atmete sie tief durch und wandte den Blick wieder dem Lächeln des Jungen zu, seinem feuchten, glänzenden Haar, das den gleichen kastanienbraunen Farbton hatte wie das lange Haar der Frau mit den grünen Augen, die ihn umarmte. Eine Träne fiel auf das ovale Glas von Mary Roses Brille, als sie sich an die vielen Nachmittage erinnerte, die sie in der alten Schiffswerft von San Remo verbracht hatten. Damals war es ihr großer Traum gewesen, die Welt jenseits der Insel zu entdecken, ohne Angst vor dem Unbekannten, ohne irgendwelche Dinge, die sie hielten, ohne Schuldzuweisungen. Sie seufzte. In diesem Moment, fünfunddreißig Jahre später, erkannte Mary Rose sich kaum wieder. Wann hatte sie aufgehört, sie selbst zu sein? Und wann hatte sie ihre Träume begraben? Es schmerzte, sich diese Fragen zu stellen und sich einzugestehen, dass ihr nur noch die Angst vor einer Zukunft, die nicht mehr in ihrem Haus stattfinden würde, geblieben war. Das Foto erinnerte sie daran, dass ihr Leben so völlig anders verlaufen war als vorgesehen. Mary Rose betrachtete es ein letztes Mal, dann legte sie es in den Umzugskarton und ging in die Küche hinunter. Unten, in der übervollen kleinen Werkstatt im Keller, arbeitete Harold Grape an einem seiner Flaschenschiffe, als handelte es sich um einen ganz normalen Tag. Durch die runden Fenster rundherum drang gerade das Licht der Sonne herein, als würde es immer so bleiben. Alles befand sich an seinem Platz. Die Umzugskartons lehnten noch zusammengefaltet an der Waschmaschinen-Trockner-Kombination, auf der ein Stapel Bücher lag. Neben der Entsalzungsanlage und dem riesigen Wasserspeicher türmten sich Dutzende alter Elektrogeräte, und hinter einem verblichenen karierten Vorhang direkt hinter Harolds Werktisch befand sich die Vorratskammer, die nun beinahe leer war. Auch wenn Harold sich ständig über den wenigen Platz beklagt hatte, der ihm hier unten zur Verfügung stand, hatte er in diesem vollgestopften Raum doch den größten Teil seiner freien Zeit verbracht und war seinen Hobbys nachgegangen. Hier reparierte er dies und das und verrichtete irgendwelche Handwerksarbeiten, die dazu beitrugen, den guten Zustand, in dem sich das alte Haus befand, zu erhalten. Oder er widmete sich seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Einzigen, was ihn an den Tagen, an denen er besonders niedergeschlagen war, aufheitern konnte: Er baute Flaschenschiffe. Im ganzen Haus waren seine kleinen Kunstwerke zu bewundern, die er mit viel Geschick und Geduld angefertigt hatte. Im Flur, im Wohnzimmer, im Esszimmer und sogar im Badezimmer waren die maßstabsgetreuen Nachbildungen von historischen Schiffen in alten Flaschen, die das Meer an den Strand gespült hatte, ausgestellt gewesen. Doch nun war im Haus kein einziges Flaschenschiff mehr zu sehen. Alle waren ordnungsgemäß verpackt und mit Luftpolsterfolie umwickelt. Alle außer einem. Im Unterschied zu den anderen Schiffsnachbildungen steckte die, die Harold jetzt in den Händen hielt, nicht in einer schützenden Flasche, sondern in einem alten Marmeladenglas. Darin schwamm in einem Meer aus Kunstharz herausfordernd sein wertvollstes Schiff; das älteste von allen, das erste, das er gebaut hatte. Dabei handelte es sich nicht mal um ein Schiff mit kunstvollen Verzierungen oder mit authentischen Wappen auf den Segeln. Es war ein einfaches, bescheidenes Segelschiff in Erwartung großer Abenteuer. Ein Schiff, das keinen Namen trug und das Harold lange vor der winzigen Kopie, von der er nun vorsichtig den Staub wegpustete, zu bauen begonnen hatte. Manchmal meinte Harold sogar noch den Geruch nach Holz, Teer und Meer wahrzunehmen, der die Luft in der Werft erfüllt hatte, wo er als junger Mann gearbeitet hatte. Genauso wie er die Geräusche des Kalfathammers und des Eisens zu hören glaubte, wenn er das Werg zwischen den Planken einschlug, während er die Sonne auf seinem nackten Rücken spürte. Harold erinnerte sich voller Sehnsucht noch an jedes einzelne Schiff, das er in jenen Tagen gebaut hatte, echte Schiffe: Fischerboote, Trawler, Passagierschiffe … Er erinnerte sich an die harte Arbeit und die Schwierigkeiten, aber vor allem an die Freude, die Boote am Ende auslaufen zu sehen. Mit allen Schiffen, an deren Fertigstellung er beteiligt gewesen war, verband er die Erinnerung an schöne Momente, doch nichts war mit der Hingabe und Freude vergleichbar, mit der er das Segelschiff konstruiert hatte, dessen Nachbildung er nun betrachtete. Ein Schiff, das der Gegenstand all seiner Träume gewesen war und das er mit viel Liebe und Ausdauer in seiner freien Zeit zu bauen begonnen hatte. Harold stellte das Marmeladenglas auf den Werktisch, ohne es loszulassen, und seufzte bei dem Gedanken daran, dass keiner dieser Träume jemals jene Werft verlassen hatte; sie waren zerplatzt, bevor das Holz des Schiffes zum ersten Mal das Wasser berührt hatte. Eines Schiffes, das niemals seiner Bestimmung zugeführt worden war, sondern als Abbild eines verlorenen Traums in einem Marmeladenglas endete. Bei diesem Gedanken durchfuhr ihn ein heftiges Zittern von Kopf bis Fuß und brachte ihn in den schummrigen Keller mit seinem abgestandenen Geruch zurück. Das Glas begann in seiner Hand zu vibrieren, und Harold musste es gut festhalten, damit es nicht auf den Boden fiel. Doch es waren nicht nur er und das Schiff, die zitterten; der ganze Keller erbebte, sodass die Glühbirne, die kraftlos an einem der Deckenbalken hing, hin und her schwankte. Ein paar Sekunden später hörte das Zittern genauso abrupt auf, wie es gekommen war, und alles war wie vorher. Harold schnaubte verärgert, als er sah, dass das Hauptsegel des Schiffes sich gelöst hatte und auf das winzige Deck gefallen war. Ohne dem kleinen Erdbeben, das sich offenbar gerade ereignet hatte, auch nur die geringste Beachtung zu schenken, setzte er seine Lupenbrille auf und griff nach der langen Pinzette, um den Schaden zu richten. In diesem Moment hörte er von der Kellertreppe her die Stimme seiner Frau. »Harold, hast du es gemerkt? Diesmal war es aber ziemlich heftig!« »Nicht heftiger als sonst!«, rief er laut zurück, damit seine Stimme oben am Kellerabgang zu hören war. »Von wegen! Ein Glück, dass das meiste schon in den Kisten verpackt ist, sonst wäre sicher einiges kaputtgegangen!« Mary Rose machte eine Pause und fuhr dann fort: »Ich fände es besser, wenn du kurz rausgehen und die Stahltrossen überprüfen könntest!« »Wenn ich hier fertig bin, werfe ich einen Blick drauf, einverstanden?« »Prima!« Und bevor Mary Rose ging, fügte sie noch hinzu: »In zehn Minuten ist das Essen fertig!« Für die Grapes war es nichts Neues, dass ihr Haus ab und zu bebte, doch auch nach der langen Zeit hatte sich Mary Rose noch nicht daran gewöhnt. Als sie in die Küche trat, blieb ihr fast das Herz stehen. Der Blumentopf, der auf dem Esstisch gestanden hatte, war heruntergefallen, und die violetten und pinkfarbenen Hortensien lagen entwurzelt zwischen den verteilten glasierten Tonscherben auf dem Boden. In diesem Moment hatte Mary Rose das Gefühl, mit dem zertrümmerten Topf in die Vergangenheit zu reisen; denn es hatte eine Zeit gegeben, in der dieses Haus nicht einmal in ihren fernsten Gedanken existiert hatte. Plötzlich war sie nicht mehr in der Küche ihres Hauses, sondern in der kleinen Wohnung unten im Ort, in der sie vor vielen Jahren gelebt hatten. Mit einem Mal hatte sie wieder das Geräusch des Regens im Ohr, der gegen das Esszimmerfenster prasselte, und das Zucken der Blitze über dem Meer. So intensiv war die Erinnerung an jene lang zurückliegende Gewitternacht, als ein Topf mit Hortensien wie dieser ihr aus den Händen gefallen und auf den Küchenfliesen zersprungen war, dass sie meinte, alles noch einmal zu erleben. Und wie damals ging ihr der gleiche Gedanke durch den Kopf: Es wird etwas Schlimmes geschehen. Mary Rose wusste seit damals, dass der kaputte Topf und die Hortensien auf dem Boden mehr als nur ein schlechtes Vorzeichen gewesen waren. Doch auf das, was ihr ein paar Stunden später widerfahren sollte, hätte nichts und...