Reimann | Das Mädchen auf der Lotosblume | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

Reimann Das Mädchen auf der Lotosblume

Zwei unvollendete Romane

E-Book, Deutsch, 237 Seiten

ISBN: 978-3-8412-1455-3
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Rebellin mit Leib und Seele.' Der Spiegel Brigitte Reimann war erst Anfang Zwanzig, als sie eine Schülergeschichte und einen Roman aus dem Künstlermilieu zu schreiben begann, deren Brisanz erstaunlich ist für die frühe DDR-Literatur. Beide wurden damals von den Verlagen nicht gedruckt - aus politischen Gründen oder weil sie zu unkonventionell erzählt waren - und von der Autorin vergessen. Durch einen glücklichen Zufall sind die Manuskripte aufgetaucht, die Brigitte Reimanns früh ausgeprägtes sinnliches Erzähltalent belegen und geradezu als literarische Sensation gelten können. 'Brigitte Reimann bricht so radikal mit Tabus wie danach nie wieder.' taz

Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).
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Autoren/Hrsg.


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[I. Teil:] Drei Tage im November
Für Joe Ein Morgen und ein Tag
Joe liegt neben mir, gleichmäßig hebt und senkt sich seine Brust, die grün-weiß gestreifte Jacke seines Pyjamas steht am Hals offen, ich sehe einen Schimmer seiner weißen Haut und die kleine schattige Vertiefung unter seiner Kehle. Joe schläft. Wie kann er schlafen, wenn ich wache? Wenn Hendrik wacht? Seit zwei Stunden höre ich Hendriks Pantherschritt im Zimmer nebenan. Er hat das Zimmer Nr. 12, ich habe Nr. 13. Die 12 wäre mir lieber gewesen, ich bilde mir ein, die Zwölf ist meine Glückszahl, ich weiß nicht warum; ich bin ein bißchen abergläubisch, klammere mich an Zahlen-Orakel und zupfe Blütenblätter: er liebt mich, er liebt mich nicht … Wenn ich stolpere – ich bin so ungeschickt, immer hab ich blaue Flecke an Knien und Ellenbogen – wenn ich stolpere, gehe ich drei Schritte zurück, damit mir nichts Böses widerfährt. So albern bin ich manchmal … Als ich damals, im September, ins Heim gekommen bin, war die Zwölf schon belegt – von dem Maler, der sich jeden Abend besoffen hat, ganz allein für sich, ganz still, ohne Krakeel, und der dann so bitterlich geweint hat, wie der Heilige Georg hier war und ihn behext hat mit seinen schwarzen Augen und mit seiner Kunst. Da hab ich halt die Dreizehn nehmen müssen, wenn es mir auch gar nicht recht war, und ich hab dreimal gegen den Türpfosten geklopft, ehe ich die Schwelle überschritten hab, aber genützt hat’s nichts, und jetzt kommt das Unglück, das all die Wochen sich in den Winkeln verkrochen hatte. Ich spür es und Hendrik spürt es, darum läuft er nun schon seit zwei Stunden in seinem Zimmer auf und ab und stiehlt mir den Schlaf und wird am Ende auch Joe noch aufwecken. Wenn Joe nachts zu mir kommt, muß er an Hendriks Tür vorüber, das sind nur drei oder vier Meter, und der rote Läufer im Korridor dämpft die Schritte, aber mir ist es jede Nacht wie ein Wunder, daß Joe diese drei oder vier Meter schafft und an meine Tür klopft und dabei weiß: Hendrik liegt wach, und er hat ein Gehör wie ein Luchs und hört das Klopfen und hört, wie ich den Schlüssel herumdrehe … Es ist noch nicht sechs Uhr, glaube ich. Ein Morgen im November steigt spät herauf, und die Sonne kriecht träge über den Wald – wie eine alte Frau, die nicht aus dem Bett finden kann und sich so gern noch einmal für ein Stündchen umdrehen und ein Auge voll Schlaf nehmen möchte. Mein Zimmer schwimmt in grauer Dämmerung, das hellere Fenster-Viereck in der Wand schlitzt ein kümmerlicher Lichtstreif, wo die Vorhänge nicht ganz übereinander gezogen sind. Das Fenster ist wie eine Kino-Leinwand, der Vorhang ist noch geschlossen, aber die Leinwand ist schon [ein] bißchen erleuchtet, und gleich wird der Gong ertönen und der Film beginnen. Die Filmkulissen kenne ich: die Parkbäume und im Osten ein winziges Silberzipfelchen des Sees und darüber ein Stück Himmel, [ein] paar Handbreit Himmel. Trotzdem bin ich jeden Morgen wieder gespannt auf die Kulisse, die jeden Morgen sich verändert hat: manchmal ist der Himmelsstreifen grau und regenschwer, manchmal ist er verschleiert von weißem Morgennebel, manchmal leuchtet er in dünnem Blau, violett und purpurn gesäumt; der karmesinrote Sonnenball rollt gemächlich herauf, er hat sich noch nicht erhitzt und blendet nicht, man kann ihn ohne Blinzeln betrachten. Und erst die Bäume! Damals im September – Herrgott, das ist nun fast drei Monate schon her! – waren sie noch dunkelgrün und satt und voller Saft, als hätten sie das ewige Leben – und dann ist ihnen doch der Atem ausgegangen, ganz sacht zuerst, und sie sind [ein] bißchen müde geworden und haben’s noch immer nicht glauben wollen, sie haben sich gesträubt wie manche Frauen sich gegen das Altwerden sträuben: sie legen Puder und Rouge auf und färben sich die Haare und ziehen sich bunte Fähnchen an und laufen dem Leben hinterher. Manchmal liebe ich den Herbst, seine Verschwendung, sein großzügiges Ausschütten starker Farben, seine krasse Lebensgier … Im Oktober brannten die Buchen wie Fackeln neben den ruhigeren gelben Lichtern der Eichen, [ein] paar Tannen warteten zwischen ihnen, gelassen und selbstsicher in ihrem soliden Kleid. Sie stehen da wie Forstbeamte, nüchtern und zuverlässig in grünen Lodenjoppen, wenn der Novemberwind den anderen längst die letzten bunten Fetzen heruntergerissen hat. Joe seufzt und streckt sich, aber er schläft weiter. Eigentlich sollte ich ihn wecken, er muß doch in sein Zimmer zurückgehen, bald wird das ganze Haus erwachen, und ich hab immer noch wie in der ersten Nacht Angst, irgendjemand könne frühmorgens durch den Korridor schleichen und Joe erwischen, wenn er eben mein Zimmer verläßt. Und wennschon! In Haus wissen es eh’ schon alle, daß Joe und ich etwas miteinander haben, und keiner nimmt Anstoß daran – außer der Kritikerin natürlich. Neulich kamen wir kurz vor Mitternacht in den Klubraum, da stimmten die anderen einen wüsten Rundgesang an, ich hab bloß die ersten zwei Zeilen behalten: ›Es ist nicht unbedingt vonnöten, daß einer singt und andre beten …‹ Sie waren betrunken, und beim zweiten Abgesang haben sie statt ›singt‹ ein andres Wort gebraucht, ein häßliches, ordinäres Wort – aber was hätten wir tun sollen? Gegen ein Fuder Mist kann man allein nicht anstinken, und Joe hätte nicht ein Dutzend Männer der Reihe nach ohrfeigen können. Sie waren ja betrunken, und wir haben uns ein Lachen um den Mund geklebt, obwohl uns, weiß Gott! nicht zum Lachen zumut war; wir müssen noch froh sein, daß keiner hingeht und uns dem Heimleiter verpfeift: dann fliegen wir mit Schimpf und Schande aus dem Haus. Da schluckt man schon lieber ein gemeines Wort und lacht und trinkt mit den anderen: Prost, Freunde! Es lebe die Liebe, der Wein und der Suff – Prost, Joe! Zieh kein Gesicht, die sind doch bloß neidisch, übersieh ihre gieprigen Augen, Joe, trink! Uns kann ein schmutziges Wort nicht beschmutzen – Im Nebenzimmer federt Hendriks Schritt. Denkt er an sein Buch? Denkt er an mich? Fünf Schritte sind es vom Fenster bis zur Tür. Fünf Schritte: hin – zurück, hin – zurück. Uhrenpendel im Gleichmaß der Unstete. Tickende Uhren im Zimmer machen mich krank. Sie zerhacken die Zeit, jedes Zeitstückchen fällt einzeln in den Raum: ein weißes, ein schwarzes – eine gute, eine schlimme Minute … Das Fenster-Viereck ist jetzt schon morgenbleich, langsam schälen sich die Umrisse der Möbel aus dem schwimmenden Grau. Wenn man all die Zeitstückchen sammeln könnte und wieder aufreihen und alles von vorn beginnen – Ich hab schreckliche Angst vor dem Altwerden. Alt zu sein und denken zu müssen: Soviel hast du versäumt … Für wen bewahren wir uns? Nein, ich werde Joe noch nicht wecken. Ich werde aufstehen und mich anziehen. Soll Joe schlafen, soll er das alles vergessen: Hendrik und den grauen Mann, der heute nacht über seine Schulter sah, und dieses ganze Irrenhaus und das Unglück, das kommen wird, heute oder morgen, ich weiß nicht, aber es wird kommen, ich spür’s. Joe sagt, ich sei ein Spökenkieker. Heut nacht erst sagte er, ich sei ein Spökenkieker, und er lachte dabei, obwohl er ein bißchen daran glaubt, daß manche Menschen das zweite Gesicht haben. Sein Onkel hatte auch das zweite Gesicht, der war Nachtwächter in einem Dorf im Erzgebirge, und die Leute dachten, er habe einen Sparren, weil er oft verworrenes Zeug redete: Er traf jede Nacht an der Friedhofsmauer eine Selbstmörderin, eine junge Frau, die aus Liebeskummer sich im Dorfteich ertränkt hatte, und er unterhielt sich mit ihr wie mit einer Lebenden. Jedenfalls behauptete er das, und wahr ist, daß er eine Feuersbrunst vorausgesagt hat und später die ganz große Feuersbrunst, die dann halb Deutschland gefressen hat. Solche Gruselgeschichten hat mir Joe heut nacht erzählt, und ich hab mich sehr gefürchtet. Wie ich dann die Nachttisch-Lampe anknipste, sah ich Joes verschmitztes Lächeln, die vergnügten Lachfältchen um seine Augen, und ich merkte, daß er mich wieder einmal in seiner sanften Art verspottete, weil ich den ganzen Abend über so unruhig gewesen war und ihm mit meinen bösen Prophezeiungen in den Ohren gelegen hatte. Trotzdem hab ich es mir nicht ausreden lassen: zuhaus ist etwas geschehn, irgendjemandem, den ich gern mag, ist etwas zugestoßen … Nein, das lasse ich mir nicht ausreden – wenn ich nur wüßte, was geschehn ist, wem etwas zugestoßen ist … Eigentlich hab ich doch gar keinen Menschen, der mir nahesteht, keine Eltern, keine Geschwister; eigentlich hab ich nur den Heiligen Georg, aber der ist mir so lieb wie Eltern und Geschwister und vielleicht noch lieber, weil er zugleich Bruder und Freund ist. Er hat mir solange nicht mehr geschrieben, Tag für Tag hab ich auf einen Brief von ihm gewartet. Nein, ich hab in den letzten Wochen nicht mehr gewartet, in den letzten Wochen hat es nur noch Joe gegeben, bei Tag und bei Nacht nur Joe, und ich hab den Heiligen Georg fast vergessen. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn der Heilige Georg mir geschrieben, wenn er mich noch einmal besucht hätte … Nein, nichts wäre anders gekommen. Das hab ich damals schon gewußt, als der Heilige Georg auf einen Tag zu Besuch hier war und versäumt hat, mich zurückzuholen nach Haus – aber er war ja wie blind und taub, nichts spürte er von dem, was zu der Zeit schon zwischen Joe und mir spann. Der Heilige...


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