Roman
E-Book, Deutsch, 260 Seiten
ISBN: 978-3-8412-1454-6
Verlag: Aufbau Verlage GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg. Nach langer Krankheit starb sie 1973 in Berlin.Veröffentlichungen: Ankunft im Alltag (1961), Die Geschwister (1963), Das grüne Licht der Steppen. Tagebuch einer Sibirienreise (1965), Franziska Linkerhand (1974). Außerdem die Briefwechsel mit Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973 (1993), mit Hermann Henselmann, Mit Respekt und Vergnügen (1994), Aber wir schaffen es, verlaß Dich drauf. Briefe an eine Freundin im Westen (1995) und mit Irmgard Weinhofen, Grüß Amsterdam. Briefwechsel 1956-1973 (2003), sowie die Tagebücher Ich bedaure nichts (1997) und Alles schmeckt nach Abschied (1998). Aus dem Nachlaß: Das Mädchen auf der Lotosblume. Zwei unvollendete Romane (2003). Zuletzt erschienen Jede Sorte von Glück. Briefe an die Eltern (2008) und Post vom schwarzen Schaf. Geschwisterbriefe (2018).
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Erstes Kapitel
1
Die drei waren am Abend mit demselben Zug gekommen, aber sie kannten sich noch nicht, und nachdem sie auf der kleinen Station ausgestiegen waren, stand jeder für sich allein und mit einem niederdrückenden Gefühl von Fremdheit auf dem Bahnsteig. Recha blickte sich um: Der Bahnhof war grau und schäbig und spärlich erleuchtet, dünner Regen stäubte und verwischte die Umrisse der Gebäude. Sie war enttäuscht; sie hatte sich den Eingang zu dieser jungen Stadt anders vorgestellt, großartiger, glänzender. Sie nahm ihren Koffer auf und ging, vorbei an dem Schild mit den blockigen Buchstaben, über den regennassen Bahnsteig und zur Sperre. Die wenigen Reisenden hatten sich schon verlaufen, und die Vorhalle, mit ihren nüchtern getünchten Wänden und den schmutzigen Fliesen, lag verödet. Hinter der Tür zum Lokal grölte eine betrunkene Stimme. Recha zog fröstelnd die Schultern hoch. Was für ein Empfang in der neuen Heimat, dachte sie und hatte schon jetzt, fünf Minuten in der fremden Stadt, ziehendes Heimweh nach der freundlichen Sicherheit ihrer Schule und der Burg mit den lärmerfüllten Korridoren, nach der blonden Betsy und dem dicken, jungen, korrekten Kramer, der heute morgen am Gittertor gestanden und ihr nachgewinkt hatte. Er hat mich gewarnt, dachte Recha, er hat gewußt, daß ich bei der ersten Schwierigkeit kopfscheu werde. Gleichzeitig fiel ihr aber auch ein, was sie ihm geantwortet und wie sie sich vor ihm aufgespielt hatte, und sie war beschämt, als stünde sie in diesem Moment wieder vor seinem Schreibtisch, unter Kramers spöttischem Brillenblick. Recha stellte den Mantelkragen hoch und trat auf die Straße; sie vergaß ihre Enttäuschung vor dem weiten, von weißen und bunten Lichtern heiter überstrahlten Platz und vor den gestaffelten Reihen neuer Häuser mit Terrassen und zierlich verschränkten Balkongittern und mit vergnügten Neonbildern auf den Fassaden. Dies glich dem Bild, das ihre bewegliche Phantasie gemalt hatte und dessen Farben auch der unaufhörlich strichelnde Regen nicht verwischen konnte. Dann sah sie die beiden Jungen am Fuß der Treppe stehen. Wenigstens der eine von ihnen, ein Riese in derbem Kordanzug, Zimmermann vielleicht oder Maurer, schien hierherzugehören, und Recha ging auf ihn zu und fragte nach dem Weg zur H.-Straße. Der Junge wandte ihr den Kopf zu, einen kleinen, schmalen Kopf mit kurzgeschorenem Haar, und sagte, unwirsch oder verlegen: »Keine Ahnung. Bin selbst fremd hier.« »Zur H.-Straße?« fragte der andere, näher tretend. »Ich hab’ denselben Weg. Wenn ich Sie begleiten darf?« Er war kleiner und schlanker als der Junge im Kordanzug, er war auch sorgfältiger gekleidet und gab sich gewandt und selbstsicher, sein Gesicht trug einen schwer bestimmbaren Ausdruck von Schläue oder rechnerischem Geist. »Ich kenn’ mich aus«, sagte er, »ich hab’ meine Bude schon vor ’n paar Wochen besichtigt.« Er betrachtete abschätzend das dünne schwarzhaarige Mädchen, ihren Koffer, ihren weinroten Sommermantel (für den Recha mehr als einen Monat in der Konservenfabrik Beeren und Kirschen ausgelesen hatte), und er sagte: »Praktisches Jahr, stimmt’s?« »Ja, stimmt«, sagte Recha. »Dann sind wir ja Kollegen.« Er reichte ihr die Hand, mit angedeuteter Verbeugung. »Curt Schelle, Curt mit C«, fügte er hinzu; er pflegte immer auf dieses C hinzuweisen, das seinem schlichten Namen ein wenig Glanz verlieh. »Ich heiße Recha Heine«, sagte das Mädchen. »Recha …«, wiederholte Curt. »Lessing. ›Nathan der Weise‹.« Er grinste schmerzlich. »Der Nathan war mein Thema beim Mündlichen. ›Erläutern Sie die Ringparabel‹ oder so. Hattest du auch so ’nen idiotischen Deutschpauker?« Jetzt endlich tat der dritte den Mund auf, der die ganze Zeit nachdenklich und mit abwesendem Gesicht danebengestanden hatte, und sagte erstaunt: »Aber ich muß ja auch in die H.-Straße.« Er bemerkte, überempfindlich für die Reaktionen anderer, Curts plötzlich in Abwehr erstarrte Miene, und er beeilte sich zu erklären, daß er ebenfalls in diesem Jahr sein Abitur gemacht habe und nun im Kombinat arbeiten wolle, und wenn sie erlauben, würde er sich ihnen anschließen. »Also schön, der dritte Mann«, sagte Curt, der sich nicht einmal die Mühe nahm zu verbergen, daß die Gegenwart dieses Dritten ihn störte. »Hoffentlich gehst du nicht so langsam, wie du denkst, sonst sind wir erst morgen früh da.« Recha lachte, und Curt, ermutigt durch ihr Lachen, stichelte weiter gegen den unbeholfenen Jungen, der sich vorzustellen vergessen hatte: »Dein Name, Großer, ist doch wohl keine Verschlußsache, wie?« »Nein«, sagte der gehorsam. »Nikolaus Sparschuh.« Er beobachtete die beiden mißtrauisch; er schien darauf zu warten, daß sie sich über seinen altmodischen Namen laut amüsierten. »Nikolaus ohne c«, setzte er dann hinzu. »Haha«, sagte Curt. »Ein Bursche von unendlichem Humor.« »Shakespeare. ›Hamlet‹«, sagte Nikolaus gelassen, und Curt, der jetzt das Gefühl hatte, er werde hier unziemlich parodiert, warf seinen Campingbeutel über die Schulter, kommandierte: »Los, haun wir ab!« und ging. Nikolaus nahm wortlos Rechas Koffer und folgte Curt in kleinem Abstand. Recha deutete auf die schwarze Mappe, die Nikolaus an seinen Koffer gebunden hatte. »Zeichnest du?« »’n bißchen«, sagte er, »mehr so zum Spaß.« Er verschwieg, daß er seit langem davon träumte, man werde ihn später zum Studium an einer Kunsthochschule zulassen. »Und was zeichnest du am liebsten?« fragte Recha, um überhaupt etwas zu sagen. »Ach, eigentlich alles«, murmelte Nikolaus, und damit war das Thema erschöpft, und sie gingen schweigend nebeneinanderher, unbehaglich unter dem zähen Regen. Bei der nächsten Lampe war Curt stehengeblieben und wartete auf sie; er hatte seine unbekümmerte Laune längst wiedergefunden. Im bläulichen Licht sah Recha sein Gesicht, braungebrannt, hübsch, ein bißchen zu hübsch und zu glatt, fand sie, aber es gefiel ihr, dieser ganze bewegliche, dreiste, gut angezogene Junge gefiel ihr. Um den Hals trug er, nach der Manier gewisser Halbstarker, ein silbernes Kettchen, und Recha überlegte, ob eine Schaumünze an dieser Kette hinge oder etwa ein Medaillon mit dem Bild irgendeines Mädchens. Der Weg bis zur Unterkunftsleitung war nicht allzu weit, und Curt nutzte die knappe Zeit, um die beiden auszuforschen, woher sie kämen; er selbst, berichtete er, sei aus D., sein Vater Werkleiter in einer volkseigenen Textilfabrik. »Mein alter Herr hätte mich ja mit dem Wagen herbringen können«, sagte er. »Er fährt ’n Wartburg, und der Wartburg ist immer noch die sauberste Kiste, die wir bei uns laufen haben. Im Juni hab’ ich die Fahrerlaubnis gemacht, aber denkt ihr, er gibt mir den Wagen? Ehe ich ihm mal ’n paar Liter Benzin aus den Rippen geleiert hab’ –« »Ich habe keine Eltern«, sagte Recha, ruhig und wie beiläufig. Curt, ernüchtert, merkte endlich, daß diese für einfältige Gemüter berechnete Angeberei hier nicht verfing. Er lachte und sagte mit einem liebenswerten Ausdruck von Aufrichtigkeit: »Du hast recht; ich will bloß Eindruck schinden bei dir.« Er konnte von entwaffnendem Charme sein, wenn er wollte (und meistens wollte er), und er richtete jetzt seine dreisten grünen Augen auf Recha und sagte: »Aber ich bin schon verdammt froh, daß ich den Zug genommen hab’. Ich wär’ sonst um eine reizende Bekanntschaft ärmer …« Lieber Himmel, der macht’s aber billig, dachte Nikolaus, und er wünschte, das Mädchen würde diesen Burschen und sein Gewäsch so leicht nehmen, wie er es verdiente. Er wagte einen schüchternen Versuch, Recha von dem anderen abzulenken, und fragte, auf welche Schule sie gegangen sei. »Ich war im Oberschul-Internat in H.«, sagte Recha. »Vor ein paar Jahren noch nannten die Leute unsere Schule die ›rote Burg‹. Das sollte ein Schimpfwort sein, und zuerst ärgerten wir uns darüber, dann gewöhnten wir uns daran, und schließlich redeten wir selbst nur noch von der ›Burg‹. In Wirklichkeit ist es bloß ein komisches kleines Schloß – aber wir fanden es schön, wir waren richtig zu Hause dort, weißt du –« Sie hatte auf einmal Lust, gerade diesem schweigsamen, schwerfälligen Nikolaus von Kramer zu erzählen und von Betsy, von ihrem Treibhaus und dem Park und der immer halbdunklen Bibliothek mit ihrem unverwechselbaren Geruch von Staub und Leder und der Druckerschwärze neuer Bücher und Zeitungen. Er sieht aus, dachte sie, als könnte er gut zuhören. Curt jedoch, der es nicht ertragen konnte, nicht Mittelpunkt zu sein, zerriß mit einem Witz das schwache Fädchen Einverständnis zwischen Nikolaus und dem Mädchen, er drängte sich näher an Recha, erzählte, gestikulierte, machte sich über seine Lehrer lustig; er hatte eine scharfe Zunge und liebte es, die Schwächen anderer Leute boshaft und treffend zu karikieren. Sogar Nikolaus lachte; irgend etwas an diesem Curt mit C gefiel oder imponierte ihm. Selbst unbeholfen bis zur Grobheit, bewunderte er Jungen in seinem Alter, die mit heiterer Selbstverständlichkeit Mädchen unterhalten und für sich einnehmen konnten. Er hätte gern diese großäugige, dunkelhaarige Recha für sich eingenommen; ihr Gesicht, mit der schmalen, vorspringenden Nase, erinnerte ihn an das Bild einer Frau, auf deren Namen er sich jetzt nicht besinnen konnte. Freilich wußte er recht gut, daß er gegen den geschmeidigen Curt nicht aufkommen würde, er trottete...