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E-Book

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

Reichart Taschenliebe

Ein literarisches Lesebuch

E-Book, Deutsch, 224 Seiten

ISBN: 978-3-641-19652-3
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



„Wer jemals eine verlorene Handtasche fand und den Mut aufgebracht hat, sie tatsächlich zu öffnen, stößt auf eine verborgene Wirklichkeit, in der die Requisiten zu sprechen beginnen. Handtaschen sind Momentaufnahmen und ganze Lebensgeschichten zugleich: Zeig mir die Tasche, und ich sage dir, wer du bist.“ So beschreibt Felicitas Hoppe, was sich in den Falten und Fallen des tückischen Innenfutters einer Handtasche abspielt, hinter den Knöpfen und Reißverschlüssen, in den Seiten- und Nebentaschen.Warum Handtaschen eine ganze Welt enthalten, wie wir uns gefährlich in ihnen verlieren und wie sie uns verraten können, erzählen Nora Bossong, Ulrike Draesner, Franziska Gerstenberg, Judith Hermann, Felicitas Hoppe, Judith Kuckart und viele andere renommierte Autorinnen in diesem literarischen Handtaschenbuch, das in jede Birkin Bag, jede Schultertasche und jede Clutch gehört.
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LUCY FRICKE
Eine Tasche fährt nach Düsseldorf Es war ein ungewohnt sorgloser Sommer, ein Sonntagmorgen wie ein Bossa-Nova-Song, könnte ich sagen, geborgen in der Welt, dieses irritierende Gefühl, mir könnte nichts passieren, von jetzt an würde alles nur besser werden. Das war ein seltener, famoser Zustand, doch leider meist kurz vor der Verblödung. An einem solchen Tag sollte man nicht nach Düsseldorf müssen. Der Termin stand seit Monaten fest. Eine Lesung im Hofgarten am Nachmittag, ein bisschen Kultur zum Aperitif in der Sonne, nur eine Stunde lang auf einer kleinen Bühne sitzen, es gab wahrlich schlimmere Arten, sein Geld zu verdienen, und das musste ich schließlich, da konnte noch so viel Sommer sein. Die Übernachtung im Hotelzimmer hatte ich abgelehnt, wie auch die Einladung zu einem Abendessen mit den Veranstaltern, in der letzten Zeit war ich so viel unterwegs gewesen, dass ich zu einem häuslichen Wesen verkommen war. Ich verbrachte am Tag lieber neun Stunden in einem Zug als die Nacht in einem fremden Einzelbett. Je häufiger ich unterwegs war, desto dringender wollte ich nach Hause. Das wusste ich jetzt. Auch das immer wiederkehrende Einpacken und Auspacken ermüdete mich, überhaupt: Gepäck. Mit Gepäck will kein Mensch unterwegs sein, es sei denn, man hat jemanden, der es trägt. Aber dafür war ich nicht mehr schön genug und noch nicht alt genug. Ich war in dem Jahrzehnte andauernden Zwischenreich, in dem man die Dinge im Griff zu haben hatte, in dem man selbstständig und unabhängig war, in dem sich alles allein schaffen ließ. Ich war in den besten Jahren, und die Handtasche dazu war nagelneu. In ihr gab es Platz für alles, was ich brauchte. Das Portemonnaie mit Geld, Ausweis, Kreditkarte, Fahrschein, das iPhone, der eigene Roman, aus dem ich am Nachmittag lesen sollte, das Notizbuch, in das ich fortwährend schrieb, eine Sonntagszeitung, eine Schachtel Zigaretten. So stieg ich am Berliner Hauptbahnhof in den ICE, der um 14:15 Uhr in Düsseldorf ankommen sollte. Die Lesung begann um 15:00 Uhr, ich würde am Bahnhof abgeholt werden, es war ein perfekter Plan. Wie übrigens alle meine Pläne. Es gab Freunde, die nannten meinen Perfektionismus zwanghaft. Ich war immer auf die Minute pünktlich, mir kam nie etwas dazwischen, bis zu diesem Sonntag, da kam mir Hamm/Westfalen dazwischen. Für die meisten Reisenden war Hamm/Westfalen keine Stadt, sondern nur der Ort der Zugteilung. Hier wurde der Zug geflügelt, der vordere Teil fuhr weiter nach Köln, der hintere Teil in Richtung Wuppertal. Für mich bedeutete Hamm/Westfalen immer nur eines: Zeit, um eine zu rauchen. Nach einiger Erfahrung konnte ich sagen: Den Zug in Hamm zu teilen dauerte eine entspannte Zigarette. Ich rauchte so viel, dass ich die Zeit in Zigarettenlängen bemaß. Ein Ei beispielsweise war einen Fingerbreit vorm Filter perfekt. Ich wusste immer sehr genau, wann und wo es sich lohnte, eine anzubrennen. Hamm lohnte sich immer. Ich verließ den Wagen nur mit meiner Packung Zigaretten und einem Feuerzeug, meine Handtasche ließ ich am Platz und bat meine Sitznachbarin, darauf aufzupassen. So stand ich am Gleis, vor der geöffneten Tür des ICE und rauchte, ganz und gar glücklich. Als ich bei der Hälfte angekommen war, schlossen sich lautlos die automatischen Türen. Es gab keinen einzigen Piep, keine Ansage, nur dieses zurückhaltende Surren. Ich stand da und verstand nicht, starrte auf die sich schließenden Türen, schon jetzt war der Spalt zu klein, um noch durchzuschlüpfen, schließlich hämmerte ich hilflos gegen die Tür, rannte zu einem Typen mit DB-Logo auf dem Rücken, der am anderen Gleisende stand, doch der zuckte bloß mit den Schultern, während der ICE sich in Bewegung setzte. Ich blinzelte ins Nachmittagslicht und sah ihn in der Ferne langsam verschwinden, mit ihm meine Tasche und alles, was ich hatte, alles, was ich brauchte. Der Zug schien in der Sonne höhnisch zu glitzern. Manche Wirklichkeit ist ein mieser Scherz. Ich lachte nicht eine Sekunde und der Kerl neben mir auch nicht, stattdessen sagte er: »Tja.« »Tja« war eine relativ dünne Mitleidsbekundung, fand ich, wenn einem das Leben in einem Hochgeschwindigkeitszug Richtung Düsseldorf abhandenkommt. »Da müssen Sie sich unten an den Service Point wenden«, war alles, was ihm dazu einfiel. Reflexartig griff ich nach meinem Telefon, doch ich trug mein schönstes Kleid, und die schönsten Kleider haben keine Taschen. Ich konnte nicht einmal anrufen, um Bescheid zu geben, dass ich später kommen würde, viel später, vielleicht gar nicht. Weil ich jetzt hier festsaß in Hamm/Westfalen, ohne Geld, ohne Papiere, wenigstens Zigaretten hatte ich genug. Ich stöckelte vom Gleis hinunter zum Service Point. Jaja, dachte ich, an einem Service Point ist dir im Leben noch nicht geholfen worden. An einem Service Point sagen sie dir, dass man sich online beschweren kann, dass man schriftlich eine Anfrage stellen kann, am Service Point bekommt man eine E-Mail-Adresse und manchmal sogar ein Formular. Schon seit Jahren strafte ich diese Schalter mit gelangweilter Verachtung. Wie ich jetzt feststellte, hieß der Service Point mittlerweile auch gar nicht mehr so, sondern DB Information, weil es Service dort nicht gab. Das war ein wichtiger Schritt in Richtung Ehrlichkeit, der Kunde wollte nicht schon beim Namen belogen werden. Ich versuchte meine Einstellung zu ändern, ich brauchte Hilfe und wer Hilfe brauchte, musste Freundlichkeit ausstrahlen, keine Verachtung. Ich lächelte, und der Mann am Schalter lächelte zurück. »Wie kann ich Ihnen helfen?« »Meine Handtasche«, sagte ich, »befindet sich ohne mich in dem Zug nach Düsseldorf, wo ich zudem in spätestens achtzig Minuten auf einer Bühne sitzen muss.« »Ach, sind Sie ausgestiegen und haben am Gleis eine geraucht, was?« Die Art, wie er das sagte, war freundlich, ich würde fast sagen: voller Verständnis. Ich redete irgendetwas von einem Riesenschlamassel, meine Stimme überschlug sich wohl, denn er meinte: »Ganz ruhig. Eines nach dem anderen. Jetzt stellen wir erst mal Ihre Tasche sicher.« Er fragte mich nach der Wagennummer und natürlich wusste ich die, ich wusste sogar meinen Platz, ich hatte reserviert, ich war schließlich ein Kontrollfreak. »Wir kümmern uns jetzt um die Tasche, und Sie rauchen noch mal eine. Dann sehen wir weiter.« Mit diesen Worten griff er zum Telefon, und als ich mir draußen vor dem Bahnhof die nächste Zigarette anzündete, merkte ich, wie meine Hände zitterten. Dieser Mann versuchte tatsächlich mir zu helfen. Ein Mitarbeiter der Deutschen Bahn versuchte, mir zu helfen. Das konnte nicht sein, das war noch niemals vorgekommen. Das musste ein Traum sein. Mein gesamtes Weltbild wankte. Verwirrt ging ich zurück in die Halle. »So«, sagte er, »Ihre Tasche haben wir schon mal. Die können Sie in Bochum an der DB Information abholen, dort wird sie hinterlegt.« »Aber ich muss doch nach Düsseldorf!« Ich wusste nicht, ob ich schrie oder kurz vorm Weinen war. »Erst mal die Tasche«, wiederholte er. »Sie nehmen in fünfzehn Minuten den nächsten Regional Express nach Bochum und von dort dann weiter nach Düsseldorf.« »Aber ich habe doch gar kein Ticket, nicht mal Geld. Das ist alles in der Tasche.« »Ach ja«, sagte er, griff wieder zum Telefon und forderte einen Sicherheitsmann an. Der auch keine Minute später neben mir stand, zu zweit. Sicherheitsmänner gibt es nicht allein. Zur Sicherheit braucht es immer mindestens zwei. »Ihr bringt die junge Dame jetzt zum Gleis 7, dort übergebt ihr sie dem Schaffner von dem RE nach Bochum und sagt ihm, dass sie ohne Ticket reist. Ihr Ticket fährt nämlich gerade mit dem ICE nach Düsseldorf.« Die beiden nickten, als sei das ihr täglicher Job: Verzweifelte Frauen bei Schaffnern abgeben. Am Gleis 7 stand der Zug schon bereit, an der Tür ein Mann, der lächelte und sagte: »Vielleicht sollten Sie besser mit dem Rauchen aufhören.« Er platzierte mich in der 1. Klasse, bot mir einen Kaffee an, und ich verstand nichts mehr. Das war nicht die Deutsche Bahn, die ich kannte. Ich war mir langsam sicher, durch ein Paralleluniversum zu reisen. Als er hörte, dass nur meine Handtasche in Bochum sei, ich aber eigentlich nach Düsseldorf müsse, vielmehr jetzt schon dort ankommen sollte, sagte er, das sei auch seine Richtung und griff zum Telefon. Ich hörte ihn davon reden, dass man doch mal eine Ausnahme machen könne, dass es doch möglich sein müsse, dass ein Angestellter mit der Tasche am Gleis in Bochum auf uns warte, dann hörte ich lange nichts mehr, nur ein Ja hin und wieder, schließlich ein Danke. »Hätten wir das auch«, sagte er zu mir. Ein Mann, der ein Problem nach dem anderen löste. »Ihnen wird bei unserem Halt in Bochum die Tasche übergeben, Sie müssen nur eine Quittung unterschreiben.« Und so passierte es. Ein Gefühl, als bekäme ich mein entlaufenes Kind zurück. Obwohl ich gar kein Kind habe. Das ist vielleicht auch besser so, ich bin eine, der beim Rauchen die Handtasche wegfährt. Bis Düsseldorf saßen wir zusammen in der 1. Klasse, mit Kaffee und Gebäck, erzählten uns die Geschichten unseres Lebens, und ich kicherte unentwegt vor Erleichterung. Als wir um 14:50 Uhr den Bahnhof erreichten, gaben wir uns die Hände, wünschten einander Glück, wie Reisende es tun, die sich tagelang gemeinsam durch irgendeine heruntergekommene Nation geschlagen hatten. Ich nahm ein Taxi und saß um Punkt 15 Uhr im Hofgarten auf der Bühne, mit der einen Hand die Tasche fest umklammernd, mit der anderen das Buch öffnend, in dem ich eine Nummer...


Reichart, Manuela
Manuela Reichart lebt als Autorin, Herausgeberin und Radiomoderatorin in Berlin, zuletzt erschienen die Prosabände „Schon wieder Verspätung!“ und „Beziehungsweise – Liebesvariationen“. Monogame Taschenträgerin.


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