E-Book, Deutsch, 684 Seiten
ISBN: 978-3-7481-2444-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Michael Reich, Germanist und Historiker, lebt und arbeitet in Essen. Der rote Faden seines Lebens ist das Medium Buch. Er ist gelernter Buchhändler, arbeitet als Autor, Literaturwissenschaftler. Sein Thriller Apokalyptiker, Auftakt zu einer Reihe mit dem Ermittler-Duo Elise Brandt/Avide St.Cyr hat bereits eine feste Fangemeinde. Im April folgt der Nachfolger Gemini. Der Autor verfasst mit gleicher Professionalität wie Leidenschaft Kinderbücher. Greenfriars Geheimnis ist der erste nun vorliegende Band.
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4 Es goss in Strömen, als Elise Brandt vor Winters‘ Anwesen parkte. Sie blieb noch eine Minute im Wagen sitzen, hing ihren Gedanken nach und starrte durch die beschlagenen Seitenfenster zur anderen Straßenseite hinüber. Der Regen trommelte auf das Autodach sein ganz eigenes melancholisches Lied. Das große Haus, das einsam inmitten eines parkähnlichen Areals lag, machte einen beinahe feindlichen Eindruck auf sie. Plötzlich nahm sie einen Schatten wahr. Sie wischte über die Scheibe, um besser sehen zu können, und erkannte undeutlich eine große, schlanke Gestalt, die das Anwesen durch das Eingangstor verließ. Schnell kurbelte sie die Scheibe herunter. Der Regen peitschte ihr ins Gesicht. Es war ein Mann, und er war bereits ein gutes Stück die Straße hinuntergegangen; sein schwarzer Mantel flatterte hinter ihm im Wind und wirkte wie das Flügelpaar eines Unheil verkündenden Raben. Elise erkannte ihn sofort, auch ohne seine Sonnenbrille, und stieg aus. In diesem Augenblick blieb er stehen und wandte sich um. Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke, dann setzte er schnellen Schrittes seinen Weg fort. Sie ging ihm bis zur nächsten Straßenecke hinterher, doch als sie um die Ecke bog, war er verschwunden. Bedrückt kehrte sie zum Haupttor zurück. Wie schon beim ersten Mal vor 2 Tagen, als sie vor der halb hohen, elektrisch gesicherten Ummauerung stand, die das Grundstück von der Straße trennte, überkam sie ein starkes Gefühl des Unbehagens. Sie betätigte den Klingelknopf rechts des Tores und wartete. Von Weitem leuchtete das schmutzige Weiß der Außenwände der Villa; hohe, alte Bäume, deren gerade frisch grünendes Blattwerk im Regen glänzte, flankierten den viereckigen Bau. Ihre Zweige tanzten im Wind und gaben dabei knarzende Geräusche von sich. Über Elises Kopf veränderte eine Videokamera mit leisem Surren ihre Position und richtete ihr Auge auf sie. Schutz oder Abwehr? Sie blickte nach oben und gerade in die Kamera. Hinter einer Vergitterung aus Messing verbarg sich die Sprechfunkanlage. Ein Knacken ertönte und eine elektronisch verzerrte Stimme sagte: »Bitte warten Sie einen Augenblick.« Die deutliche Ablehnung in der Stimme gab ihr die Gewissheit, dass sie sich nicht weiter zu legitimieren brauchte. Der Regen ließ etwas nach, doch der starke Nordwind trieb bereits neue Wolkenformationen vor sich her, noch dunkler, noch unheilverkündender als die vorherigen. Was geschah in dem Haus zwischen den Bäumen? Eine alte, einsame Frau, die sich darin verschanzte wie ein mittelalterlicher Lehnsherr in seiner Trutzburg, einzig umgeben von den stummen, kostbaren Zeugen der Sammelwut ihres Mannes, verharrte dort in der Erwartung des einzigen Gastes, der ihr noch willkommen war, dem Tod. Schließlich ertönte doch ein leises Summen und das Tor fuhr geräuschlos zur Seite. Elise legte die kurze Auffahrt zum Haus im Sprint zurück, um nicht noch nasser zu werden, gab sie doch schon jetzt ein klägliches Bild ab. Den Haupteingang des wuchtigen Gründerzeitbaus dominierte ein steinerner, auf nachgemachten ionischen Säulen ruhender Vorbau. Eine überdimensionale Lampe in Form einer Laterne hing an einer rostigen Eisenkette von der Decke herab und schaukelte sanft im Wind. Sie fror erbärmlich in ihrem zu dünnen, inzwischen völlig durchweichten Kammgarnjackett. Auch die Jeans fühlte sich an, als wäre sie zu heiß gewaschen worden und jetzt mindestens zwei Nummern zu klein. Aus ihren Haaren tropfte das Wasser in den Kragen der Bluse und rann ihr kalt den Rücken hinunter. Die linke Hälfte der hohen Tür mit den bronzenen, von Grünspan überzogenen Türklopfern in Form von Löwenköpfen öffnete sich, und eine kleine, hagere Gestalt erschien im Türrahmen. Der alte Mann mit den gebeugten Schultern wirkte auf Elise noch kleiner und verhutzelter als bei ihrem ersten Besuch. »Bitte entschuldigen Sie, dass es so lange gedauert hat«, sagte Franz Schmitt. »Soll ich Ihnen ein Handtuch bringen?«, fügte er hinzu mit einem Blick auf die kleine Wasserlache, die sich unter Elises Füßen bildete, kaum dass sie die Eingangshalle betreten hatte. Seine Stimme war leise, zurückhaltend, die Stimme eines Menschen, der sein Leben lang nichts anderes getan hat, als anderen zu dienen. »Wer war der Mann, der gerade eben das Haus verlassen hat?« »Frau Winters‘ Patensohn.« »Was wollte er?« »Das weiß ich nicht. Ich nehme an, ein Kondolenzbesuch.« Elise ließ den Blick durch das Rund der Eingangshalle schweifen, die die Höhe von zwei Stockwerken maß. Aus von indirektem Licht beleuchteten Nischen blickten ihr grazile Gestalten aus weißem Marmor entgegen; schlanke Frauen, gehüllt in wallende Gewänder, deren Leichtigkeit man, obwohl in Stein gemeißelt, zu spüren vermochte; athletische Jünglinge, die sich in Pose geworfen hatten, spontan in der Bewegung eingefangen. Ihre versteinerten Blicke ruhten skeptisch auf Elise, als hätten sie Sorge, sie könne den Frieden ihres Tempels stören. Nein, dieses Haus gehörte ganz und gar der Kunst, ein schützender Schrein für die ungebändigte Gier eines leidenschaftlichen Sammlers, und jeder, der es betrat, musste sich vorkommen wie ein Eindringling. Sofort nachdem bekannt wurde, dass Winters tot war, begannen hinter den Kulissen gnadenlose Spekulationen darüber, was mit den Kunstwerken werden würde. Druckgrafiken, Gemälde, Schnitzereien. Ein Erbe von nationaler Bedeutung und Experten und Kunstwissenschaftler sahen bereits den drohenden Schatten des Ausverkaufs dieser Sammlung am Horizont aufziehen. Werke von Dürer, Campin, van Eyck, van der Weyden, van der Goes, Bosch und Brueghel, verstreut in alle Winde, verschollen in den Tresoren asiatischer Großkonzerne. Nur eine Person war vielleicht in der Lage, schon jetzt Licht in das Dunkel zu bringen. Doch Luise Winters hüllte sich in Schweigen. Elise versuchte sich vorzustellen, was der Millionär empfunden haben mochte, wenn er durch die Räume und Hallen dieses Hauses geschritten war, vorbeiflanierend an Kunstwerken, von denen die meisten einen Wert besaßen, der jedes vorstellbare Maß überschritt. Wie ein Usurpator hatte er sich ein Königreich zusammengerafft, über das er ganz allein regierte. Seine Untertanen waren stumm, auf Leinwand und Papier gebannt, in Stein gemeißelt, in Holz geschnitzt, in Gold und Kupfer geprägt. Und es schien, als hätten sie ihm näher gestanden als jeder lebende Mensch auf dieser Welt. Nun war der König tot, die Sammlung verwaist. Franz Schmitt führte sie durch die große Halle zu einem Paar hoher, zweiflügeliger Türen. Dort, wo keine Teppiche lagen und sie über den teuren, auf Hochglanz polierten Marmor laufen mussten, hallten ihre Schritte im ganzen Haus wieder. Bevor der alte Diener öffnete, drehte er sich kurz zu Elise um, suchte ihren Blick. Für wenige Sekunden standen sie sich stumm gegenüber. Die blutleeren Lippen des alten Mannes öffneten sich langsam, hielten dann aber in der Bewegung inne und schlossen sich wieder, nein, pressten sich aufeinander wie zwei steinerne Platten, um auf immer das zu verschließen, was sich hinter der Öffnung verbarg. Die ihm im Leben zugedachte Rolle war stumm. Und das würde sie bleiben, bis zu seinem letzten Atemzug. Luise Winters saß in einem der zahlreichen kleinen Salons des Hauses. In einem mit Wappen verzierten Kamin brannte ein Feuer und verbreitete wohlige Wärme. Der Raum war wegen seiner Wandtäfelung aus vom Rauch gebeizten Holz sehr dunkel, und lediglich zwei Lampen im Art-Déko-Stil mit Schirmen aus opakem Glas erhellten die Dunkelheit, in die sich die einzige Person im Raum, so erschien es Elise, vor der eisigen Ablehnung des Hauses geflüchtet hatte. Auf einer Kommode im Hintergrund thronte, einem Schutzengel gleich, eine riesige Menora, der jüdische siebenarmige Leuchter. Sein dunkles Gold flackerte unruhig im Schein des Kaminfeuers. Aus einer Hightech-Musikanlage, der einzigen Reminiszenz an die Neuzeit in diesem Raum, ertönte schwere, aus den Tiefen der russischen Seele kommende Musik. Elise überlegte einen Moment. Rimski-Korsakov? Tschaikowski? Franz Schmitt zog leise die Türen hinter Elise zu. »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.« Luise Winters‘ dunkle Stimme zerschnitt die fast sakrale Stimmung. Sie saß mit dem Rücken zu Elise, kerzengerade, bewegungslos, wie zur Totenwache. Die mit kostbaren Ringen geschmückte rechte Hand ruhte auf einem schwarzen Ebenholzstock mit kunstvollem Silbergriff. »Und Sie tropfen meinen Teppich nass.« »Tut mir leid.« Obwohl nicht dazu aufgefordert, machte Elise wenige Schritte in den Salon hinein und umrundete den Sessel, in dem die Witwe saß. Luise Winters trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid, das der alten Frau etwas Nonnenhaftes gab. Das zu einem festen Knoten gebundene graubraune Haar verstärkte den Eindruck von gouvernantenhafter Strenge. »Noch einmal: Was wollen Sie?«, Ihre dunklen, sephardischen Augen blickten zu der jungen Frau auf und...