Rathgeb | Karl oder Der letzte Kommunist | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

Rathgeb Karl oder Der letzte Kommunist

Roman

E-Book, Deutsch, 272 Seiten

ISBN: 978-3-446-26135-8
Verlag: Carl Hanser
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Karl und Emilie sind Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit, hineingeboren in das Schweigen einer Familie in der Provinz. Die Schwester kapselt sich bald immer mehr ab, Karl wird zum führenden Agitator der 68er. Einige Jahrzehnte später ist der Kommunismus nur noch eine Alterserscheinung. Und während die meisten sich absetzen in die moderne Zeit, hält Karl an den alten Idealen fest: 2010 stirbt er als letzter Kommunist.
Eberhard Rathgeb erzählt von zwei eigensinnigen Geschwistern, die einander immer weniger verstehen, von einem Mann, der die Welt verändern will und sich doch immer stärker von ihr entfernt. Rathgeb nimmt seine Figuren ernst, selbst da, wo die Weltgeschichte sie längst vergisst.
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Ich erkläre es euch jetzt noch einmal, sagte Karl
Das Land, in dem er aufwuchs, bot viele Möglichkeiten, sich zu entwickeln und einen Beruf zu finden, der einem zusagte. Die Abteilung, deren Chef sich der Kritik der Französischen Revolution widmete so wie ein Archäologe seltenen Funden aus uralter Vergangenheit, die ihn gemahnten, dass auch seine Zeit einmal im Sand vergraben sein würde, war ja gerade deswegen da, damit das Land so blieb, wie es war. Es lag an Karl, etwas aus sich zu machen. Aber kann ein Held aus einer Tragödie aussteigen wie aus einem Zug, der in die falsche Richtung fährt? Der Zug rattert dahin, und wie einfach wäre es für einen jungen begabten Mann, hier oder dort auszusteigen. Er sitzt mit anderen im Abteil, und wie naheliegend wäre es für ihn, sich mit ihnen zu unterhalten und herauszufinden, was einer in dieser Welt werden kann. Dann fährt der Zug immer schneller, er hält an keinem Bahnhof mehr. Das Abteil hat sich geleert, alle sind irgendwo ausgestiegen, weil es dies oder jenes zu tun gibt, sie wollen sich niederlassen, ein sicheres und gutes Leben führen. Karl war allein. Und es kam ihm so vor, als könnte er jetzt machen, was er wollte. Er wechselte auf den gegenüberliegenden Platz und schaute aus dem Fenster. Er fuhr nicht mehr in Fahrtrichtung, und er konnte den Dingen, die an ihm vorbeirauschten, länger nachsehen und über alles nachdenken. Er hatte am Küchentisch gesessen, mit seinen Hausaufgaben beschäftigt, und seine Mutter trocknete das Geschirr ab, als die Freundin seiner Mutter zu zittern begann und vom Stuhl fiel. Sie lag starr auf dem Boden und rollte mit den Augen. Schaum trat ihr aus dem Mund, sie stöhnte und lallte. Er dachte, sie würde Spaß machen. Was macht sie da? Was ist mit ihr?, fragte er seine Mutter, in einer Mischung aus Neugier und Angst. Er war aufgesprungen und zurückgewichen, als die Frau sich auf den Boden geworfen hatte. Jetzt machte er einen Schritt auf sie zu, beugte sich nach vorne. So etwas hatte er noch nicht erlebt. Seine Mutter hatte der Frau ein Tuch zwischen die Zähne geschoben. Damit sie sich nicht wehtut, sagte sie. Und dann kniete sie neben ihrer Freundin auf dem Boden und wartete, bis wieder alles ruhig war, die Nerven sich entspannt hatten. Ein epileptischer Anfall gehörte zu den Ereignissen, die er sich nicht erklären konnte, die ihm unheimlich waren. Er rubrizierte ihn unter die Kategorie der Albträume, mit denen er sich nachts manchmal herumschlug und in denen sich Fetzen von Erzählungen, die er irgendwo aufgeschnappt hatte, zu Ungeheuern auswuchsen, die ganz real wurden, als er Bilder von Häftlingen aus den ehemaligen deutschen Konzentrationslagern sah oder von Soldaten im Krieg. Die Angst rückte an, wenn er nicht aufpasste. Er musste sich konzentrieren, dann konnte ihm nichts passieren. Dass er sich nicht die ganze Zeit daran hielt, lag in der Natur eines Kindes, das sich beim Spielen vergaß und in Dämmerzustände wegsacken konnte, wo die Gestalten der Einbildung sich selbständig machten. Wenn er sich dabei erwischte, dass er kurz davor war, ins Träumen mit offenen Augen zu geraten, verdoppelte er seine Konzentrationsanstrengungen. Das ist der große Nachteil des Nachdenkens, dass es nicht auf Augenhöhe mit dem Geschehen ist, es kommt für Bruchteile von Sekunden zu spät und versucht diesen Mangel dann dadurch auszugleichen, dass es sich mit den Dingen intensiver beschäftigt, als könne es sie auf diese Weise einholen. Karl sah das Problem nicht, er war in die Betrachtung der Welt und in seine Gedanken versunken. Die Wörter waren Netze, in denen sich die Ereignisse verfangen sollten. Als Karl an einem sonnigen Vormittag wissensdurstig und aufgeregt das monumentale Universitätsgebäude zum ersten Mal betrat, eine Tasche mit Papier und Stiften in der Hand, nahm niemand von ihm Notiz. Er war ein junger Student unter vielen anderen jungen Leuten, die unabhängig davon, ob sie schüchtern oder draufgängerisch waren, in der überwiegenden Mehrzahl ein Familienlos teilten, Söhne und Töchter von Vätern und Müttern zu sein, die in irgendeiner Weise vom Krieg durcheinandergeschüttelt worden waren, Täter und Zuschauer, die ihren Teil abbekommen hatten, körperliche und seelische Verletzungen aller Art. Jeder dieser jungen Leute hier war mit sich beschäftigt, mit den Folgen eines schwer zu fassenden historischen Erbes, das die Eltern ihnen durch Schläge, Befehle, Schreierei, Wut, Trauer und Depression weitergereicht hatten. Weder hinter den Bäumen vor der Universität, die grüne Blätter trugen, noch hinter den marmornen Säulen drinnen in den Hallen und Gängen, wo es kühl war und die Schritte und Stimmen einen Klang seltsamer Weltenferne annahmen, hatten sich Männer versteckt, deren Aufgabe darin bestand, ihn zu beobachten. Der Sommer war sehr heiß, und die Vorstellung, dass nicht weit von hier ein hellgrüner Fluss durch einen weitläufigen Park perlte, prüfte die Standfestigkeit des Geistes. Karl lief mit einem kurzärmeligen Hemd herum und mit Sandalen an den Füßen. Die Hose schlackerte um seine Beine. Ihm war nicht anzusehen, welchen Beruf er ergreifen würde. Er hätte Maschinenbau, Physik, Jura oder Betriebswirtschaft studieren können statt Philosophie. Nichts stand einer Karriere im Wege, keine Schüchternheit, kein schwerer Verstand, keine Vergnügungssucht. Karl hätte seinen Weg gemacht, dachte die Mutter später. Aber er hatte seinen eigenen Kopf, hatte ihn schon immer gehabt. Er wusste, was er wollte. Manchmal war er schwer mit Worten zu erreichen. Wenn er sich etwas vorgenommen hatte, dann konnte keiner ihn davon abhalten, auf sein Ziel loszugehen, und er hat diese Konsequenz und Unerbittlichkeit nie bereut. Das war schon so, als er klein war und in die Schule kam. Niemand kannte ihn anders. Keine Fachdisziplin an der Universität schaffte es, ihm die intellektuelle Unruhe und den geistigen Übermut auszutreiben, ihn an sich zu binden und aus ihm einen verlässlichen und einsichtigen Vertreter eines Forschungszweiges zu machen. Das gelang auch nicht der Angst vor dem Leben, die er nicht kannte und die andere bedrückt, nicht der Unsicherheit, die andere lähmt und in die Enge treibt, und nicht dem Bedürfnis nach Glück und Sicherheit, das anderen den Weg vorzeichnet. Sein lebenslanges Aufbegehren gegen jede Form von Zwang und Unterwerfung war ein Reflex der Eruptionen vergangener Jahrhunderte, aus denen politische und soziale Revolutionen erwachsen waren, Ereignisse, zu denen es nicht noch einmal kommen würde, ihre Zeit, so schien es, war um, sie waren ausgestorben wie Tiere aus der Vorzeit. Karl saß am Schreibtisch und lernte, ein junger Mann, der seine ersten sexuellen Erfahrungen gemacht und sich vorgenommen hatte, keine Gelegenheit, mit Frauen ins Bett zu gehen, ungenützt verstreichen zu lassen, aber der ganzen Sache nicht mehr Bedeutung aufzubürden, als sich mit seinen Interessen und seinen Freunden vertrug. Er nahm, wie er dort saß, ein Reiter fest im Sattel, jedes Wort, das vor ihm auftauchte und geprüft wurde, ernst, als hätte er es mit komplizierten Gedichten zu tun, wo jede Silbe auf die Waagschale zu legen war, und nicht mit Sätzen, die einfach ihren Teil dazu beitragen wollten, dass ein Sinn im Ganzen entstand, gleichsam als Reaktion gemeinsamer Bemühungen um Verständnis. Karl hat nicht mit den Wörtern gespielt und sie nicht benutzt, um Wirkungen zu erzielen, sie waren für ihn kein ungedeckter Wechsel auf die Zukunft und keine Decke, in die sich einer hüllen und mit der er sich vor besseren Einsichten, die schwerer, nur mit mehr Kopfzerbrechen zu haben waren, schützen konnte. Er machte aus ihnen keine attraktiven Geschichten, an die sich glauben ließ und die etwas versprachen, das die zerfaserte, rüde Wirklichkeit nicht hielt, mitmenschliche Wärme und Geborgenheit. Aber Romane wird er in frühen Jahren gelesen haben, die klassischen Erzählungen aus der Zeit der Villen und Ahnengalerien, der unglücklichen Ehebrüche und scheiternden Einzelgänger. Er beherrschte mehrere Sprachen, Englisch, Französisch und Italienisch und eine osteuropäische Sprache, Serbokroatisch oder Slowenisch, als wäre jemand aus seiner Familie, und mag es die Großmutter gewesen sein, von dort gekommen und habe sie ihm als Kind beigebracht. Er wird die Romane im Original gelesen haben, um sich in den Sprachen zu üben. Und bei all den fremden Vokabularien und Grammatiken, die er im Kopf hatte, wird er genau darauf aufgepasst haben, was ein Wort bedeutet und wie es verwendet wird. Da bleibt es nicht aus, dass die Wörter etwas Besonderes werden, wie beim Geld, wenn nur von einer Währung in die andere getauscht wird, der Wert des Geldes eine andere Rolle spielt, als wenn damit eingekauft wird. Das eine Mal ist der Wert noch da, das...


Rathgeb, Eberhard
Eberhard Rathgeb, 1959 in Buenos Aires geboren, lebt in Norddeutschland auf dem Land. Für seinen ersten Roman Kein Paar wie wir (Hanser, 2013) wurde er mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen die Romane Das Paradiesghetto (2014), Cooper (2016) und Karl oder Der letzte Kommunist (2018).


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