E-Book, Deutsch, 174 Seiten
ISBN: 978-3-7518-0061-7
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Nachbarn sind zwar hilfsbereit, haben aber ihre eigenen Vorstellungen vom Leben auf dem Land. Dass Ramona, die übergewichtige Mutter von Denny, der wohl schon lange vor ihnen auf das Haus scharf war, Jakob so den Kopf verdreht, ist doch nicht normal.
Zum Glück gibt es noch die Wälder und die Natur. Nachdem Jakob eines Nachts von einem Tier angefallen und gebissen wird, tritt jedoch immer häufiger seine eigene Natur zutage. Die Arbeit an seinem Buch verwirft er, sie harmoniert ohnehin nicht mit seinen einnehmenden Tagträumen und harschen Eskapaden. Viel interessanter scheinen ihm jetzt die Sagen aus der Umgebung. Was hat es etwa mit der Geschichte von den behaarten Dorfbewohnern und dem sprechenden Pferdekopf auf sich? Waren hier vielleicht schon immer alle verrückt?!
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II
Als sich die Gletscher einhunderttausend Jahre später zurückzogen, hinterließen sie riesige Hohlräume, gefüllt mit Steinen und Eis. Tief in der Erde konnten die Eislöcher noch viele Generationen überleben, aber als es dann immer wärmer und wärmer wurde, musste auch das eingegrabene Eis schmelzen. Als das Wasser abfloss, blieb nur noch ein Loch voller großer Steine, das irgendwann in sich zusammenfiel und an der Oberfläche als Mulde zu erkennen war. Wie es unter diesen Mulden aussah, noch Hunderte von Metern in die tiefe kalte Erde hinein, wusste niemand so genau. Wenn es regnete, sammelte sich Wasser in den Mulden, und wenn es lange nicht regnete, trockneten sie aus. Die Menschen nannten die Mulden Himmelsteiche, weil sie sich nur mit dem Wasser des Himmels füllten, und maßen ihnen sonst weiter keine Bedeutung bei. Die lange Straße durch den Kiefernwald machte ihnen keine Angst mehr. Sie stellten am Anfang der geraden Strecke den Tageskilometerzähler auf null, und nach 14 Kilometern öffnete sich die wunderschöne Endmoränenlandschaft und dann war es gar nicht mehr weit bis in ihr Dorf. An diesem Nachmittag, Ende August, als sie zum ersten Mal das alte Drahtzauntor aufstießen und auf ihr Grundstück fuhren, fühlte es sich noch ein bisschen unverschämt an, aber es war jetzt ihr Haus. Das Auto hatten sie randvoll bepackt mit allem, was man in der ersten Zeit brauchen würde, den Rest in einer Ecke in ihrer Stadtwohnung deponiert, die sie an ein finnisches Pärchen untervermietet hatten. Sie hatten sich geschworen, auf jeden Fall erstmal vier Wochen am Stück hier zu sein, ohne an die Stadt überhaupt zu denken oder gar noch was zu holen. Jakob öffnete die Fahrertür und legte sich gleich neben dem Auto ins Gras. Es war schon recht hoch gewachsen, seit sich niemand mehr darum kümmerte. Wie schnell die Natur sich doch alles zurückholt, sobald keiner mehr da ist, der dagegen ankämpft, dachte Jakob. Unzählige Insekten füllten die Luft und eine dicke Hummel hangelte sich an einem Stengel entlang. Die tief stehende Sonne blendete ihn und er blinzelte in Friedels Richtung, die ihn mit einem langen Grashalm an der Nase kitzelte. Er konnte ihre Umrisse nur erahnen, genau wie ihr Lächeln. Jakob schnellte hoch, nahm Friedel auf die Arme und schleppte sie zum Haus. Dummerweise musste er sie nochmal absetzen, den Schlüssel aus der Hosentasche fummeln und rausfinden, wie das Schloss aufging, aber sie spielte mit und wartete geduldig. Er hätte es nicht für möglich gehalten, aber es erfüllte ihn mit Stolz, die Frau, die er liebte, über die Schwelle in ihr neues Heim zu tragen. Sie küssten sich und schauten sich tief in die Augen, aber dann hielten sie es keine Sekunde länger aus und mussten dringend alles inspizieren. Im Flur führte rechts eine einfache Holztreppe steil nach oben. Links und an der Stirnseite ging jeweils eine Tür ab. »Oh, guck mal, der Spiegel.« Friedel stellte sich davor und tat so, als ob sie ihr Aussehen prüfte. Jakob zupfte mit spitzen Fingern einen Kamm, der mit Haaren und Schuppen verklebt war, aus einer Zigarrenkiste. »Und damit hat sie sich immer gekämmt.« »Dann machen wir das auch so«, bestimmte Friedel. Sie nahm den Kamm und deutete an, wie sie sich damit kämmen würde, natürlich ohne ihre Haare wirklich zu berühren. Die Frau hatte ihre persönlichen Sachen und nur ein paar Möbel mitgenommen. Der Rest, und das war das Allermeiste, war stehengeblieben. Im kleinen Zimmer links lag noch ein alter Teppich, der aber ganz gut passte, man musste ihn nur mal richtig reinigen. Geradeaus war die Küche, in der es noch Einbaumöbel aus DDR-Zeiten gab, und dahinter lag eine Abstellkammer mit allerhand Krempel drin. Sie sprangen herum, zeigten sich Sachen und hatten gleich ganz viele Ideen, was man daraus machen könnte. Oben war ein Teil Dachboden und der andere Teil das Schlafzimmer, das bis auf den leeren Kleiderschrank so aussah, als ob die Vorbesitzerin noch hier wohnen würde. Das Bett war frisch gemacht und es lag eine gehäkelte Tagesdecke auf dem blass gestreiften Bezug. Sie ließen sich hineinfallen und waren voller Glück. Es war ganz still, nur draußen kreischte ein Eichelhäher. Die Aussicht von hier oben war noch viel besser, als sie es sich vorgestellt hatten. Wie gut, dass kein anderes Haus mehr daneben lag und man den freien Blick in die Natur hatte, ohne menschliche Interventionen. Na gut, das Feld und auch der Wald dahinter waren natürlich von Menschen gemacht und bewirtschaftet, aber es war ja trotzdem Natur. Die Schwäne, die sie bei ihrem ersten Besuch in dem nahen Tümpel entdeckt hatten, waren in der jetzt zugewachsenen Mulde nicht mehr auszumachen. Aber hinten im Garten bewegte sich etwas. Als Jakob genauer hinsah, erkannte er die Nachbarin mit dem Damenbart, die im Gras hockte und pinkelte. Sie wippte etwas in der Hocke, um die letzten Tropfen abzuschütteln, wischte sich mit einem Papiertaschentuch ab, das sie daraufhin ins Gras warf, und zerrte ihre Leggings hoch. Dann hob sie einen Arm voll Gartengeräte aus dem Gras auf, nahm in die freie Hand einen Eimer mit Äpfeln und machte sich auf den Weg. Friedel reagierte als Erste, schnippte den Marienkäfer, den sie gerade hatte befreien wollen, weg und rannte nach unten. Jakob kam dazu, als die Nachbarin gerade hinter dem Schuppen auftauchte. Es war nicht ganz klar, ob sie überhaupt schon bemerkt hatte, dass sie da waren, jedenfalls ließ sie sich kein bisschen aus der Ruhe bringen. Im Vorbeigehen blinzelte sie Jakob verschwörerisch zu, so als ob er mit ihr im Bunde wäre oder sonst irgendwie Bescheid wüsste. »Wo wollen Sie denn hin mit den Sachen?«, hielt Friedel sie auf. »Das geht dich einen Scheißdreck an. Und damit du Bescheid weißt, ich hatt’ der Alten den Krempel geliehen.« Friedel zeigte auf den Eimer und fragte, ob die Äpfel wohl auch geliehen wären. Die Nachbarin schmiss die Geräte auf den Boden, kippte den Eimer über ihrem Kopf aus, und die kleinen hellgelben Äpfel kullerten über die Einfahrt und unter das Auto. »Fresst doch alles rein«, sagte sie, raffte die Geräte wieder zusammen und setzte ihren Weg fort. Etwas fassungslos schauten sie ihr nach. Gleich hinter ihrem Gartentor drehte sie sich noch einmal um, streckte ihnen die Zunge raus und schüttelte dabei den Kopf hin und her. Friedel zuckte nur mit den Achseln und begann demonstrativ gelassen, die Äpfel aufzusammeln. Jakob fand den Auftritt schon recht bizarr und wusste nicht, wie er damit umzugehen hatte. Die Äpfel schmeckten süß und mehlig und waren tatsächlich schon reif, obwohl erst August war. Jetzt entdeckte Jakob auch Denny, der neben dem Nachbarshaus an seinem Auto herumschraubte und das ganze Spektakel offensichtlich mitangesehen hatte. Er hatte sich schon öfter ausgemalt, wie es wohl wäre, Denny zu treffen; wie es sein würde, vor ihm zu stehen, wenn einmal klar war, dass sie es waren, die seine Zukunftspläne vereitelt hatten. Seinen blauen Overall hatte er mit zusammengebundenen Ärmeln an der Taille befestigt und darüber trug er ein bedrucktes Shirt, dessen Aussage sich auf den ersten Blick nicht erschloss. Sein Flattop war frisch geschnitten und seine Hände und Arme ölverschmiert, und jetzt war er auf dem Weg zu ihnen. Durch das offene Tor kam er in ihren Garten. Friedel stellte den Eimer mit den Äpfeln auf die Treppe und ging kampfeslustig auf ihn zu. »Das ist unser Grundstück«, sagte sie sehr bestimmt. »Tach erstmal.« Denny zog sich einen OP-Handschuh von der rechten Hand und streckte sie Friedel hin. »Denny. Von hier drüben.« Friedel stutzte. »Friedel«, sagte sie etwas zögerlich und dann noch »Jakob und Friedel« und schüttelte seine Hand. Jakob gefiel es ein bisschen, wie dieses Landei seine Friedel so einfach entwaffnet hatte. Dann schüttelte Denny auch ihm die Hand und entschuldigte sich für »die alte Schachtel«, wie er seine Mutter nannte, und versprach, dass er »zeitnah mal mit ihr zusammenrücken« würde. »Ist ja nicht so schlimm«, sagte Friedel, und dass sie ohnehin Verfechterin der Idee des Commoning sei und das Teilen von Produktionsmitteln ihrer Ansicht nach immer wichtiger werden würde. Dann sagte keiner mehr was, was ein bisschen komisch war und Friedels letzte Worte irgendwie so ultimativ machte. Jakob hätte schon gerne gewusst, wie Denny sich fühlt, jetzt wo sie das Haus hatten und nicht er, aber das konnte er natürlich nicht fragen. »Is hier ’n Hund durch?«, setzte Denny unvermittelt wieder an. »Müsst aufpassen, hat die Tollwut.« Friedel und Jakob schüttelten etwas ungläubig den Kopf. Komisch, wie die Leute hier redeten, dachte Jakob. Entweder war es einfach nur Faulheit oder die Sprache war ihnen nicht ganz geheuer, eine Verdrossenheit über die Unzulänglichkeit des Sagbaren. Auf jeden Fall klang jeder Satz wie ein Schlusssatz und es war schwer, ein...