Ein Zeitalter wird besichtigt. 1989 revisited
E-Book, Deutsch, 236 Seiten
ISBN: 978-3-8015-0632-2
Verlag: Neue Kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Editorial Das erste Heft der europäischen Revue Transit, der Zeitschrift des 1982 in Wien gegründeten Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), kam 1990, unmittelbar nach der Wende, heraus. Die vorliegende fünfzigste – und letzte – Ausgabe von Transit scheint abermals mit einem historischen Moment zusammenzufallen: Sind wir heute nicht, ebenso wenig vorhergesehen, Zeugen der Auflösung eben jener liberalen Weltordnung, die damals – vor nicht einmal drei Dekaden – geboren wurde? Transit 1 erschien unter dem Titel »Osteuropa – Übergänge zur Demokratie?«, wobei der Plural und das Fragezeichen signalisieren sollten, dass »man sich auf einen langen Weg begeben hat, für den es keine Garantien gegen Rückschläge, dramatische Krisen und Niederlagen gibt.«1 Mit dem in Nr. 1 gesetzten Ziel vor Augen, zu einem Medium europäischer Selbstverständigung zu werden, begleitete Transit in den Folgejahren die tiefgreifenden Transformationsprozesse, die bald ganz Europa erfassen sollten, mit kritischen Analysen aus östlicher wie westlicher Perspektive. Der Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft kam rasch in Gang, wenn auch hier und da mit Hindernissen – und mit der großen Ausnahme, die die Regel bestätigte: Jugoslawien – , und schien bald irreversibel. Die Zeit war von Optimismus erfüllt. Auch uns inspirierte damals der Geist von 1989 – allerdings unter der Prämisse kritischer Distanz, die sich schon an den Themenschwerpunkten der Hefte ablesen lässt,2 vor allem aber am Namen der Zeitschrift selbst: »›Transit‹ bezeichnet (…) einen prekären Zwischenzustand, einen vorübergehenden Aufenthaltsort. Angesichts der großen Probleme, die unsere Zeit vor sich herschiebt, bedarf es nicht der Zahlenmagie der Jahrtausendwende, um zu begreifen, dass wir auch im Westen in einer kritischen Übergangszeit leben.«3 Mochten andere das »Ende der Geschichte« feiern, in unseren Augen fing die Arbeit erst an. Eingedenk der Tatsache, dass Transit sowohl ein Kind als auch ein kritischer Beobachter dessen ist, was Timothy Garton Ash »Nachmauereuropa« nennt, haben wir diesmal Autorinnen und Autoren, die über die Jahre zur vorliegenden Zeitschrift beigetragen haben, eingeladen, auf diese Ära zurückzublicken: Was waren ihre Träume, Hoffnungen und Befürchtungen? Und: Was ist schief gelaufen? Ihre Antworten werden ergänzt durch Stimmen aus der jüngeren Generation. So wie viele damals ein Gefühl des Aufbruchs erfüllte, verspüren wir heute, dass etwas zu Ende geht; so, wie wir damals in Ostmitteleuropa eine Revolution für die Freiheit erlebten, und sei sie nur nachholend gewesen, sind wir heute mit einer Revolution gegen die westlichen Werte konfrontiert. Bei aller Freude über das Ende der Teilung Europas waren wir damals sicher, »dass die Europäer noch lange mit den Ungleichzeitigkeiten, den unterschiedlichen Erfahrungen, Sehweisen, Werten und Einstellungen zu leben haben werden, die die Teilung Europas hervorgebracht hat.«4 Man sollte meinen, dass fast 30 Jahre genug gewesen wären, diese Kluft zu überwinden. Das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Einerseits ist Europa dank der EU-Erweiterung ohne Zweifel zusammengewachsen, doch es scheint, der Integrationsprozess selbst hat Kräfte, neue und alte, freigesetzt, welche die längst für obsolet gehaltene Ost-West-Trennung wiederkehren lassen. Hinzu kommt der wachsende Graben zwischen Nord und Süd. Europa bietet heute ein zerrissenes Bild. Jacques Rupnik differenziert dieses Bild: »Die Rückkehr Mitteleuropas in illiberalem Gewand«, schreibt er, »hat die Vorstellung einer Spaltung Europas in Ost und West wiederbelebt und Zweifel an der Klugheit und Praktikabilität der EU-Osterweiterung geweckt. Dies verkennt allerdings die Lage und blockiert damit auch mögliche Antworten darauf. Gewiss gibt es spezifische Eigenarten des populistischen Backlashs in Ostmitteleuropa mit seinen besonderen politischen Kulturen und Hinterlassenschaften aus der Zeit vor 1989. Doch ist die heutige Krise des Liberalismus und die Entstehung einer Vielzahl populistischer Nationalismen ein transeuropäisches, ja transatlantisches Phänomen«. Könnte diese Entwicklung das »Vorzeichen einer tiefer liegenden, reaktionären neuen Gegenaufklärung sein«? Müssen wir uns mit Marci Shore heute wieder fragen: »Wie vermag etwas, das noch gestern unvorstellbar war, in kürzester Zeit zur Normalität zu werden?« Früh schon und gegen die allgemeine Euphorie über das endlich vereinigte Europa schrieb Tony Judt, bis zu seinem Tode 2010 ein treuer Beiträger dieser Zeitschrift: »In gewissem Sinne erleben wir (…) das Ende der europäischen Aufklärung. (…) Europa [tritt] in vieler Hinsicht in eine Epoche der Unruhe, eine Zeit großer Schwierigkeiten und Wirren ein. (…) Für den alten Kontinent ist das natürlich nichts Neues, aber für die meisten der derzeit Lebenden wird es überraschend kommen und eine unangenehme Erfahrung sein.«5 Es scheint, dass seine düstere Prognose sich heute bewahrheitet. Es mag indes verfrüht oder vermessen sein, für dieses Heft auf den Titel von Heinrich Manns Erinnerungen zurückzugreifen. Kann man denn schon von einem Zeitalter sprechen, auf das man zurückblicken könnte? Zumindest könnte man den letzten Satz seines Buches als Warnung für die heutige Zeit lesen: »(…) von bequemen Anfängen schritten wir zur katastrophalen Vollendung.«6 Die Versuchung ist immer groß, der eigenen Zeit die Fiktion eines Anfangs oder eines Endes zu unterlegen,7 was vielleicht für 1989 und für die Gegenwart in besonderem Maße gilt: Konnte man das »Ende der Geschichte« nicht lesen als säkularisierte Eschatologie – Ende der Tage und Anbruch einer neuen Welt? Und verheißt unsere Zeit nicht auch ein Ende der Geschichte – diesmal als Apokalypse? Wir wollen uns hier solcher Konstruktionen enthalten. So, wie am Anfang dieser Zeitschrift der Versuch stand, eine Landkarte möglicher Entwicklungspfade in die Zukunft zu skizzieren, möchten wir hier versuchen, sowohl eine Bestandsaufnahme des seit 1989 Erreichten (und Versäumten) vorzunehmen als auch Handlungsoptionen aufzuzeigen. Für die jedenfalls, die seit 1990 an der europäischen Revue Transit gearbeitet haben, geht eine Geschichte zu Ende. Dies ist ein guter Moment, uns mit dem vorliegenden fünfzigsten Heft von unserer Leserschaft zu verabschieden. Für das Institut für die Wissenschaften vom Menschen indes hat mit dem Rektorat der Sozialanthropologin Shalini Randeria, das sie 2015 angenommen hat, ein neues Kapitel begonnen. Während das IWM einige seiner alten Forschungsvorhaben und regionalen Projekte fortsetzt, wurden unter Randerias Ägide neue Schwerpunkte initiiert: So beschäftigen sich ihre eigenen Forschungen mit dem Thema Scales of Justice and Legal Pluralism; der Verfassungshistoriker Miloš Vec, seit 2016 Permanent Fellow am IWM, leitet den Schwerpunkt International Law and Multinormativity; 2017 kam der Bürgerrechtler und Politologe Ivan Vejvoda als Permanent Fellow ans IWM, um Forschungen über Europe’s Futures auf den Weg zu bringen. Zu den neuen Forschungsthemen zählen des Weiteren Justifications of Wealth und Democracy and Demography. Die Beiträge im vorliegenden Heft nähern sich dem Thema aus verschiedenen Perspektiven und auf verschiedene Weisen. Eine instruktive Einführung gibt Ivan Krastevs umfassende Zeitdiagnose. Die erste Hälfte des Heftes ist eher systematischen Versuchen gewidmet, die neue Wende, den »atemberaubenden Wechsel vom Licht zur Finsternis« (Garton Ash) zu verstehen; die zweite nähert sich dem Thema eher anhand spezifischer Beispiele. Angesichts der Vielfalt von Ansätzen wäre es müßig, sie alle auf eine Formel bringen zu wollen. Wir wollen hier nur zwei Fragen herausgreifen, die sich bei der Lektüre aufdrängen: Wie ist 1989 aus heutiger Sicht historisch zu verorten? Und wie ist die Verdrängung »klassischer« Politik durch Identitätspolitik zu verstehen? Ein Thema, das sich durch das Heft zieht, ist die Frage, wie 1989 und der mit diesem Jahr markierte Epochenwechsel historisch einzuordnen sind und welche Implikationen dies für das Verständnis unserer eigenen Zeit hat. Für Jacques Rupnik symbolisiert 1989 den erneuerten Anspruch Mitteleuropas »auf eine westliche Identität und die Konversion zum Liberalismus, das kulturelle in Kombination mit dem liberalen Narrativ, der ›Kundera-Moment‹ mit dem ›Havel-Moment‹.« Beide Narrative werden heute infrage gestellt. Timothy Garton Ash fragt: »Wenn die Nachmauerzeit von 1989 bis 2009 dauerte, in welcher Epoche befinden wir uns dann jetzt?« und kommt zu dem Schluss, dass wir dies »wohl erst in zehn oder vielleicht auch 30 Jahren sagen können«. Pavel Barsa schlägt eine Periodisierung der jüngeren Geschichte vor, in der 1989 keine neue Ära einleitet, sondern die Vollendung einer alten. Die historische Zäsur liege vielmehr »in den 1970er Jahren, dem Jahrzehnt der Entzauberung der sozialistischen Utopien (…). Ihr volles Potenzial entfalteten sie jedoch erst nach dem Fall des Kommunismus, als die amerikanisch-westliche Hegemonie verschiedene Elemente, die in den beiden Jahrzehnten zuvor aufgekommen waren, aufnahm, um sie zur herrschenden Ideologie zu vereinen. Demnach wäre das, was man in Mitteleuropa...